Image
PRO ASYL-Unterstützer Daniel Hempel berichtet über seinen Einsatz mit »Sea-Eye«. Foto: PRO ASYL

»Sea-Eye« ist derzeit als einzige NGO mit einem Rettungsschiff im Mittelmeer unterwegs. Im Dezember 2018 retteten sie 17 Menschen in Seenot das Leben. Daniel Hempel war bei diesem Einsatz dabei.

Am 29. Dezem­ber 2018 ret­te­te die Orga­ni­sa­ti­on »Sea-Eye« 17 Men­schen im Mit­tel­meer und wei­ger­te sich, sie der liby­schen Küs­ten­wa­che zu über­ge­ben. In Mal­ta wur­de ihrem Schiff die Ein­fahrt ver­wei­gert, trotz auf­zie­hen­den Sturms. 18 Besat­zungs­mit­glie­der und 17 Geret­te­te harr­ten zwölf Tage vor der mal­te­si­schen Küs­te aus, bevor die Geflüch­te­ten am 9. Janu­ar 2019 an Land gehen durften.

Dani­el Hem­pel (29) aus Det­mold, jah­re­lang Mit­glied bei PRO ASYL, war bei die­sem Ein­satz Crew-Mit­glied. Im Inter­view schil­dert er sei­ne Erlebnisse.

Dani­el, Du unter­stützt PRO ASYL seit lan­gem, hast uns auf der Kon­zert-Tour der Toten Hosen beglei­tet. Woher kommt Dein Enga­ge­ment für Geflüchtete? 

Das The­ma Flucht und Asyl beschäf­tigt mich schon lan­ge. 2011 betreu­te ich eine Roma-Fami­lie und lern­te so das ande­re Deutsch­land ken­nen. Dann las ich »Bil­al«, ein Buch des Jour­na­lis­ten Fabri­zio Gat­ti, der gemein­sam mit Geflüch­te­ten von Eri­trea in einem Boot über das Mit­tel­meer nach Lam­pe­du­sa unter­wegs war. Das hau­te mich um. Ich dach­te, »wir wis­sen doch alle davon, wir müs­sen was tun«.

Wie kamst Du dazu, Dich einer See­not­ret­tungs-Crew anzuschließen? 

Als Erzie­her im Kin­der­gar­ten und neben­bei als Fuß­ball­trai­ner bekam ich immer mehr das Gefühl, mich vor den Kin­dern schul­dig zu machen, wenn ich ange­sichts der Lage im Mit­tel­meer nichts unter­neh­me. Von NGOs im Mit­tel­meer hat­te ich aber nie etwas gehört. Dann sah ich den Grün­der von »Sea-Watch«, wie er sich bei STERN TV im Fern­se­hen das Mikro schnapp­te und sag­te, »wir müs­sen was tun«. Mir wur­de klar: Das will ich unter­stüt­zen. Ich will auf die See, da ist Hil­fe möglich.

Wie kamst Du zu »Sea-Eye«?

Ich habe online recher­chiert und mit Freun­den immer wie­der dar­über gespro­chen. Über sie habe ich  einen Kon­takt­num­mer zu »Sea-Eye« bekom­men. Zeit­gleich ging mei­ne Erzie­her­aus­bil­dung zu Ende. Ich dach­te, bevor ich mich jetzt wie­der in den nächs­ten Job rein­stür­ze, rufe ich bei »Sea-Eye an«. Fünf Tage spä­ter war ich in Cux­ha­ven auf ihrem Boot.

Image
Die „Pro­fes­sor Albrecht Penck“, mitt­ler­wei­le in „Alan Kur­di“ umge­tauft. Foto: Alex­an­der Dra­heim / sea-eye.org

Das ging sicher schnel­ler als gedacht. 

Nor­ma­ler­wei­se dau­ert das auch län­ger. Mein Weg war schon sehr unge­wöhn­lich. Ich glau­be, ich war auch der­je­ni­ge an Bord, der am wenigs­ten wuss­te. Ich wuss­te aber, dass Ver­bre­chen im Mit­tel­meer pas­sie­ren und Men­schen nicht gehol­fen wird. Und ich woll­te hel­fen, wo und wie ich kann. Alles ande­re habe ich im Ein­satz erfah­ren. Ich war erst ein­mal Schiffs­koch und habe mit einem Mecha­ni­ker zusam­men die ers­ten zwei Tage die Küche geschmissen.

Wie habt Ihr Euch auf den Ein­satz vorbereitet?

Wir haben viel trai­niert, Ret­tungs­ak­tio­nen, Boo­te zu Was­ser las­sen, Ers­te-Hil­fe-Trai­ning. Ich habe immer ver­sucht, mir bild­lich vor­zu­stel­len, dass ich gera­de nicht eine Mat­te, son­dern einen Men­schen reani­mie­re. Dem­entspre­chend stand ich schon im Trai­ning voll unter Stress. Im Ein­satz war ich dann genau­so fokus­siert wie im Trai­ning. Ich hat­te trotz­dem einen Höl­len­re­spekt vor dem Ernstfall.

Es gab auch Gesprä­che dar­über, was pas­siert, wenn wir ein über­füll­tes Boot sich­ten, mit 120 oder 200 Men­schen an Bord und sonst nie­mand in der Nähe. Wie soll man sich auf so etwas vor­be­rei­ten? Wir hät­ten natür­lich unse­re Ret­tungs­boo­te ein­ge­setzt, die Ret­tungs­stel­le in Rom kon­tak­tiert und gewar­tet. Ich bin trotz­dem dank­bar, dass ich das nicht erlebt habe.

Wie ging es weiter? 

Die nächs­te Sta­ti­on war nach einem Zwi­schen­stopp Alge­ci­ras in Süd­spa­ni­en. Wir muss­ten Auf­la­gen erfül­len. Der Hafen­meis­ter in Alge­ci­ras woll­ten alles genau geprüft haben. Die Doku­men­te muss­ten alle sau­ber sein. Unse­re Crew muss­te vor den Augen der Hafen­meis­te­rei auch Not­fäl­le bei Sze­na­ri­en wie »Mann-über-Bord« oder »Feu­er-an-Bord« üben.

Wel­che  Auf­ga­be hat »Sea-Eye«?

Sich­ten und Doku­men­tie­ren der Men­schen­rechts­la­ge in inter­na­tio­na­len Gewäs­sern vor Liby­en, beob­ach­ten, wel­che ande­ren Schif­fe sich vor Ort befin­den. Nur so kann rekon­stru­iert wer­den, wel­che Boo­te in der Nähe gewe­sen wären um zu hel­fen, wenn Men­schen ertrinken.

»Die Men­schen müs­sen über­haupt erst ein­mal gefun­den wer­den, um sie ret­ten zu kön­nen. Wich­tigs­te Ret­tungs­maß­nah­me ist dabei, SOS abzu­set­zen und eine pro­fes­sio­nel­le Hil­fe ein­zu­lei­ten. Bis dahin besteht die Auf­ga­be in der Über­le­bens­si­che­rung der Flücht­lin­ge, soweit irgend möglich.«

»Sea-Eye«

Wann ging es Rich­tung Mittelmeer? 

Am 21. Dezem­ber 2018.

Kannst Du Dich an das Datum erin­nern, an dem Ihr Sicht­kon­takt hattet?

Na klar, das wer­de ich nie ver­ges­sen: 29. Dezem­ber 2018, 6:35 Uhr. Ich hat­te die Mor­gen­schicht erst ein paar Minu­ten übernommen.

Image
Aus­rü­cken mit Ret­tungs­boot. Foto: Alex­an­der Dra­heim / sea-eye.org

Wo war das? 

Inter­na­tio­na­les Gewäs­ser, 27 See­mei­len von der liby­schen Küs­te entfernt.

Wuss­test Du sofort, dass es ein Boot mit Geflüch­te­ten war? 

Das war ja erst­mal nur ein Punkt auf dem Radar, das hat­ten wir schon oft. Gro­ße Schif­fe wer­den etwa zen­ti­me­ter­groß ange­zeigt; ganz klei­ne Boo­te, die­se win­zi­gen Fischer­boo­te, etwa mil­li­me­ter­groß. Wenn der Punkt nach einer Wei­le immer noch da ist, gehen wir raus und sehen nach. Das mach­te ich auch: Ich schau­te aufs Radar, sah drau­ßen aber nichts. Irgend­wann schau­ten wir zu viert. Dann wur­de aus dem Punkt ein klei­nes Boot, das auf den Wel­len auf und ab ging. Ich hat­te ein Fern­glas dabei, das gehör­te mei­nem Groß­va­ter. Damit habe ich das Boot gesichtet.

Irgend­wann waren wir uns schwei­gend einig. Dann sag­te ich: »Hey, I see heads!« Mein Kol­le­ge Alex sag­te: »Go down and prepa­re for that!«

Und dann?

Der Motor ging aus. Ich lief unter Deck, unser »Head of Mis­si­on« lief mir schon ent­ge­gen. Der Alarm ging los. Wir lie­fen in den Raum, in dem unse­re Aus­rüs­tung lag. Jede*r hat ein eige­nes Fach mit Helm, Schwimm­wes­te, Ret­tungs­ring und Sicht­wes­te. Aus­rüs­tung ange­legt, ein kur­zes Brie­fing und dann waren wir alle drau­ßen an Deck. Das Boot war jetzt ganz nah, wir konn­ten schon die Men­schen sehen.

Was macht Ihr bei einer Sichtung?

Wir fun­ken Rom an (Anm. d. Red.: Das Mari­ti­me Res­cue Coor­di­na­ti­on Cen­ter – MRCC Rome). Inzwi­schen ist es aber gän­gi­ge Pra­xis, dass Rom auf Tri­po­lis und die liby­sche Küs­ten­wa­che ver­weist. Das haben wir aber kate­go­risch abge­lehnt. Tri­po­lis ist kein siche­rer Hafen für Boots­flücht­lin­ge. Schon die Sich­tung war außer­halb der liby­schen Gewäs­ser, also der 12-Mei­len-Zone vor der Küs­te. Davon habe ich aber erst hin­ter­her erfah­ren, ich war schon in einem der bei­den Ret­tungs­boo­te unterwegs.

Wie ging es weiter?

Wir haben das Boot umfah­ren, Erst­kon­takt her­ge­stellt, geschaut, wie vie­le Män­ner, Frau­en und Kin­der es an Bord gab. Es waren 17 Men­schen, dar­un­ter eine Frau und zwei Kin­der. Das Boot stand zwar nicht akut vor dem Ken­tern, wäre aber schon bei der ers­ten  Meter­wel­le gekippt. Sie hat­ten Glück mit dem Wet­ter, es gab kaum Wellen.

Und Dei­ne Auf­ga­be war? 

Kom­mu­ni­zie­ren. Ich war stand vor­ne am Bug des Ret­tungs­boo­tes und habe den Leu­ten klar gemacht, dass alles ok ist, sie beru­higt, Sym­pa­thie signa­li­siert, Ver­trau­en auf­ge­baut: »Hey, we are from Ger­ma­ny, a Ger­man NGO, we are from Euro­pe. You are safe. We are here to help you«. So lan­ge, bis die schwers­te Anspan­nung weg war. Irgend­wann kam grü­nes Licht von der Brü­cke, dass wir die Ret­tungs­ak­ti­on star­ten und sie an Bord neh­men dürfen.

Weißt Du, wie lang sie unter­wegs gewe­sen sind? 

Ja, sie waren um Mit­ter­nacht gestar­tet und waren unge­fähr sechs Stun­den unterwegs.

Wie ging es ihnen? 

Wäh­rend der Ret­tungs­ak­ti­on haben wir alle funk­tio­niert und die Stim­mung war fast locker. Sie hat­ten begrif­fen, dass sie nicht ster­ben wer­den. Man­che waren schwach, man­che hat­ten Bein­ver­let­zun­gen, aber es war kein aku­ter medi­zi­ni­scher Not­fall dabei. Bei­de Sei­ten, die Refu­gees und wir, waren erleichtert.

Das Ers­te, was ich dann bei uns an Deck sah, waren Män­ner, die unter Wär­me­de­cken lagen. Einer unse­rer Gäs­te hat fast nur geschla­fen. Die ein­zi­ge Frau, Mer­cy, knie­te im Hos­pi­tal vor mei­ner Kol­le­gin und sag­te mit Trä­nen in den Augen 30, 40, 50 Mal – ich weiß nicht wie oft – »thank you, thank you, thank you«. Das war für mich ein so emo­tio­na­ler Moment, das füh­le ich jetzt noch.

Was geschah danach? 

Unmit­tel­bar danach tra­fen wir auf die liby­sche Küs­ten­wa­che. Ich stand am Aus­guck, sah eine Rauch­schwa­de am Hori­zont und alar­mier­te den Kapi­tän. Der Kapi­tän erklär­te, dass das Holz­boot ange­zün­det wur­de – das hat­ten wir ja zurück­ge­las­sen. Irgend­wann wur­de die Sil­hou­et­te eines Kriegs­schiffs erkenn­bar. Als dann klar wur­de, dass es die liby­sche Küs­ten­wa­che war, ging die gesam­te Crew run­ter, Han­dy aus, kei­ne Kom­mu­ni­ka­ti­on. Unse­re Gäs­te blie­ben drau­ßen an Deck.

Was woll­te die liby­sche Küs­ten­wa­che von Euch? 

Sie fuh­ren knapp 40 Meter an uns her­an und for­der­ten uns auf, unse­re Gäs­te zu über­ge­ben. Ich zie­he noch heu­te den Hut vor unse­rem Kapi­tän Klaus Merk­le, der kate­go­risch ablehn­te. Danach sind sie abge­zo­gen. Nach eini­gen Über­le­gun­gen ent­schie­den wir, Kurs auf Mal­ta zu neh­men. (Anm. d. Red.: Inzwi­schen war ein Sturm von Nord­afri­ka her Rich­tung Mit­tel­meer unterwegs.)

In Mal­ta durf­te »Sea-Eye« aber nicht anlegen.

»Sea-Watch« auch nicht. Sie war­te­ten mit uns vor der mal­te­si­schen Küs­te und hat­ten eben­falls Geflüch­te­te an Bord.

Was haben die Behör­den in Val­let­ta gesagt? 

Die Ansa­ge war, Schutz vor dem auf­zie­hen­den Sturm zu suchen. Wir durf­ten bis vier Mei­len an die Küs­te ran und fuh­ren hoch und run­ter, je nach Wet­ter­la­ge, sodass wir güns­tig zur Wel­le stan­den. Aber es hieß, ihr dürft nicht an Land. Das war alles. Das ging acht, neun Tage so. Unser Pro­vi­ant ging zur Nei­ge. Wir muss­ten ratio­nie­ren. »Sea-Watch« hat uns gehol­fen und Pro­vi­ant zukom­men lassen.

Die Infor­ma­ti­ons­la­ge war unklar bis zum Schluss. Das war für alle an Bord ziem­lich zer­mür­bend. Als wir irgend­wann die Infor­ma­ti­on beka­men, dass unse­re Gäs­te abge­holt wer­den, set­ze eine rie­si­ge Erleich­te­rung und Freu­de ein. Am Mitt­woch, 9. Janu­ar haben wir gefrüh­stückt, unse­re Gäs­te fer­tig gemacht und dann wur­den sie von der mal­te­si­schen Küs­ten­wa­che abgeholt.

Image
Dani­el wäh­rend des kraft­rau­ben­den Ein­sat­zes. Foto: Alex­an­der Dra­heim / sea-eye.org

Habt Ihr selbst anle­gen dürfen? 

Nein. Wir muss­ten wei­ter vier Mei­len von der Küs­te wegbleiben.

Du hast die Kri­mi­na­li­sie­rungs-Debat­te gegen­über Seenotretter*innen sicher mitbekommen. 

Ein Teil der Crew hat sich damit aus­ein­an­der­ge­setzt und war scho­ckiert dar­über. Mir war auch klar, dass im Hin­ter­grund die­se gan­zen Berich­te lau­fen. Aber ich habe mich davon abge­grenzt, so gut ich konn­te. Ich dach­te mir, ich bin auf die­sem Schiff – was da drau­ßen pas­siert, kann ich sowie­so nicht beein­flus­sen. Ich woll­te ein­fach so kon­zen­triert wie mög­lich mei­nen Job tun.

Hast Du noch Kon­takt zu den Geret­te­ten? Gibt es da Neuigkeiten? 

Mein letz­ter Kon­takt ist eine Woche her. Das war am 22. Janu­ar. Die letz­te Nach­richt lau­te­te, dass sie immer noch in Mal­ta sind und dass es ihnen gut geht. Einer der Geflüch­te­ten teil­te mit, dass die Min­der­jäh­ri­gen in Mal­ta blei­ben soll­ten. Ver­mut­lich sind sie noch da.

Fährst du wie­der raus? 

Am 8. Febru­ar wie­der. Geplant sind drei Wochen.

War­um?

War­um? Wir sind da unten nichts ande­res als Ret­tungs­sa­ni­tä­ter auf der Stra­ße, wir leis­ten ers­te Hil­fe. Und das ist Men­schen­recht. Wir kön­nen unse­ren Teil dazu bei­tra­gen, Ver­bre­chen zu ver­hin­dern und auf­zu­klä­ren. Öffent­lich­keit zu schaf­fen. Und am Ende jedem Men­schen in Euro­pa die Aus­re­de zu neh­men, »wir hät­ten von nichts gewusst«. Das ist eine Motivation.

Die ande­re ist, dass ich das von mei­nen Lebens­um­stän­den her gera­de kann, dass ich ein brauch­ba­rer Teil der Crew sein kann, weil ich jetzt die Abläu­fe ken­ne. Und aus ganz per­sön­li­cher Sicht muss ich das tun. (Pau­se) Dafür rei­chen Wor­te nicht aus. Ich habe das erlebt, ich kann hel­fen, also wer­de ich hel­fen. So ein­fach ist es.

Das Inter­view führ­te Anđel­ka Križanović