Mittlerweile verliert jeder Siebte, der die Überfahrt nach Europa wagt, sein Leben. Über 1.400 Menschen starben 2018 schon im Mittelmeer, die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Der erneute Anstieg der Todeszahlen ist eine direkte Folge auch der deutschen Politik.

Die­ser Tage tref­fen sich die EU-Innen­mi­nis­ter in Inns­bruck. In einer eige­nen Run­de will Innen­mi­nis­ter Horst See­ho­fer mit sei­nen Kol­le­gen von der rechts­po­pu­lis­ti­schen FPÖ (Frei­heit­li­che Par­tei Öster­reichs) und der rechts­extre­men Lega aus Ita­li­en eine »Koope­ra­ti­on der Täti­gen« bil­den. Tätig heißt dabei: Die abso­lu­te Abschot­tung der euro­päi­schen Außen­gren­zen. Wäh­rend man in Fra­gen der EU-Bin­nen­mi­gra­ti­on aus­ein­an­der liegt, ist man sich dar­in einig. Es soll schlicht­weg nie­mand mehr nach Euro­pa kom­men und hier einen Asyl­an­trag stel­len kön­nen. Dass das zur Fol­ge hat, dass vor den Toren Euro­pas, vor unse­ren Augen, Men­schen ertrin­ken, wird dabei in Kauf genom­men – es dient ja der Abschreckung.

Die Sea-Watch hat tau­sen­de Men­schen vor dem Ertrin­ken geret­tet, bis sie im Hafen von Mal­ta fest­ge­setzt wur­de. Foto: Chris­ti­an Gohdes
Die­se Ent­schei­dung der Behör­den sorgt dafür, dass momen­tan noch mehr Men­schen auf der Flucht ertrin­ken. Foto: Chris­ti­an Gohdes
Nicht nur die Sea-Watch kann kei­ne Aus­schau mehr nach Flücht­lin­gen hal­ten, auch das klei­ne Such­flug­zeug wur­de fest­ge­setzt. Foto: Chris­ti­an Gohdes
Hun­der­te Men­schen könn­ten die­se Ret­tungs­rin­ge der­weil gut gebrau­chen. Foto: Chris­ti­an Gohdes

»Wir ent­deck­ten pro Tag min­des­tens 2 geken­ter­te Schlauch­boo­te. Jedes die­ser Boo­te war mit Sicher­heit mit bis zu 180 Men­schen gefüllt. Wir konn­ten nur die auf dem Was­ser trei­ben­den Lei­chen zäh­len. Das waren immer etwa 10–20. Nur die­se Leich­na­me sind in die Sta­tis­tik der Ertrun­ke­nen im Mit­tel­meer eingeflossen.«

Johann Pät­zold, Seenotretter

Es sind keine Zahlen, es sind Menschen

Die offi­zi­el­len Schät­zun­gen des UNHCR lie­gen bei aktu­ell 1.408 ertrun­ke­nen Flücht­lin­gen, die meis­ten davon auf der zen­tra­len Mit­tel­meer­rou­te. Hier­bei han­delt es sich aber nur um die offi­zi­ell pro­to­kol­lier­ten Toten. Wes­sen Leich­nam nicht gefun­den wird, der bleibt in der Sta­tis­tik uner­wähnt, wie ein See­not­ret­ter in die­sem Erfah­rungs­be­richt ein­drück­lich vorrechnet:

»Zu der Zeit, als ich noch im Mit­tel­meer mit­ge­fah­ren bin, da ent­deck­ten wir pro Tag und pro Schiff – und wir waren vie­le Schif­fe – min­des­tens 2, oft­mals 3 bis 5 geken­ter­te Schlauch­boo­te. Rund­her­um trieben​ ​häu­fig ein paar Lei­chen im Was­ser. Die Kör­per, meist in Bauch­la­ge, stark auf­ge­bläht, der Kopf unter Was­ser, die Haut auf­ge­dun­sen und völ­lig weiß – von Kin­dern und Frau­en bis hin zu kräf­ti­gen Män­nern. […] Jedes die­ser Boo­te war mit Sicher­heit mit bis zu 180 Men­schen gefüllt, wie wir von den Boo­ten wis­sen, die noch nicht geken­tert waren und inter­na­tio­na­le Gewäs­ser erreichten. 

Alle Lei­chen haben wir aber nie gefun­den. […] Wir konn­ten nur die auf dem Was­ser trei­ben­den Lei­chen zäh­len und haben es dann Rom so wei­ter­ge­ge­ben. Das waren immer etwa 10–20 tote Kör­per. Nur die­se Leich­na­me sind in die Sta­tis­tik der Ertrun­ke­nen im Mit­tel­meer ein­ge­flos­sen. Dann erhält man eine Zahl wie 1.500 oder auch mal 3.000 pro Jahr. Eine sehr geschön­te Zahl, so maka­ber das auch klin­gen mag.«

Sie hat­ten Glück: Die Crew der Sea-Watch konn­te die­se Men­schen vor dem Ertrin­ken eben­so bewah­ren, wie vor dem Rück­trans­port in die Fol­ter­la­ger in Liby­en. Foto: Chris­ti­an Gohdes
Ali hat­te schon zum sechs­ten Mal ver­sucht, der Höl­le in Liby­en zu ent­kom­men. Jetzt kann er sei­ne Trä­nen nicht mehr zurück­hal­ten. Foto: Chris­ti­an Gohdes
Die meis­ten Men­schen sind nicht nur erschöpft von der Über­fahrt, sie müs­sen auch ver­ar­bei­ten, was sie die letz­ten Mona­te & Jah­re erlebt haben. Foto: Chris­ti­an Gohdes
Auch die­ses Neu­ge­bo­re­ne ist einer der Pas­sa­gie­re auf der Sea-Watch. Foto: Chris­ti­an Gohdes
Jeder 7.

Mensch stirbt aktu­ell beim Ver­such, über das zen­tra­le Mit­tel­meer nach Euro­pa zu fliehen.

Deut­lich wird auch: Im Juni stie­gen die Todes­zah­len dras­tisch an. Nach­dem Mal­ta und Ita­li­en diver­sen See­not­ret­tungs­schif­fen die Ein­fahrt ver­wei­ger­ten, eini­ge Schif­fe sogar fest­ge­setzt und damit an wei­te­ren Ret­tungs­ein­sät­zen gehin­dert wur­den. Nach­dem Horst See­ho­fer in Deutsch­land Zurück­wei­sun­gen an EU-Bin­nen­gren­zen for­der­te. Nach­dem das Nach­bar­land Öster­reich sogar schon Grenz­übun­gen unter dem von Rechts­extre­men genutz­ten Mot­to »Pro Bor­ders« veranstaltete.

Mitt­ler­wei­le stirbt, dem UNHCR zufol­ge, jeder sieb­te Mensch, der die Über­fahrt wagt. Weit mehr als noch in den Vor­jah­ren, Anfang 2017 war es noch einer von 38.

Wer in »unser Meer« kommt, den lassen wir absaufen

Ita­li­en hat­te wäh­rend­des­sen vor weni­gen Jah­ren noch eine eige­ne See­not­ret­tungs­mis­si­on, die bis Okto­ber 2014 zehn­tau­sen­den Flücht­lin­gen das Leben ret­te­te. Nach­dem sich die übri­gen euro­päi­schen Regie­run­gen aber beharr­lich wei­ger­ten, das Pro­jekt zumin­dest finan­zi­ell zu unter­stüt­zen, wur­de »Mare Nos­trum« (deutsch: »Unser Meer«) been­det. Heu­te scheint die Prä­mis­se der neu­en ita­lie­ni­schen Regie­rung hin­ge­gen zu sein: »Wer in unser Meer kommt, den las­sen wir absau­fen«. Nun sol­len näm­lich nicht mehr »nur« die pri­va­ten See­not­ret­tungs­in­itia­ti­ven kri­mi­na­li­siert werden:

Selbst Schif­fe, die im Rah­men der EU-Ope­ra­ti­on EUNAVFOR Med (genannt »Sophia« – sozu­sa­gen der euro­päi­sche Nach­fol­ger von »Mare Nos­trum«, aller­dings mit dem Fokus auf »Schlep­per­be­kämp­fung«, nicht auf See­not­ret­tung) im Mit­tel­meer unter­wegs sind, sol­len nicht mehr in ita­lie­ni­schen Häfen ein­lau­fen dür­fen, wenn sie aus See­not geret­te­te Flücht­lin­ge an Bord haben.

Am 25. Mai wur­de die Sea-Watch bei einem Ret­tungs­ein­satz behin­dert. Men­schen spran­gen panisch ins Was­ser. Foto: Chris­ti­an Gohdes
Durch das Auf­tau­chen der soge­nann­ten liby­schen Küs­ten­wa­che ent­stand das Cha­os. Foto: Chris­ti­an Gohdes
Letzt­end­lich konn­te der Groß­teil der Men­schen auf die­sem Boot von der Sea-Watch geret­tet wer­den. Foto: Chris­ti­an Gohdes
Über­le­ben­de berich­ten aber von meh­re­ren feh­len­den Per­so­nen. Foto: Chris­ti­an Gohdes
Im Anschluss an die Ret­tungs­ein­sät­ze wer­den die genutz­ten Boo­te in der Regel ver­nich­tet. Foto: Chris­ti­an Gohdes

Anstrengungen zur Verhinderung der Rettung von Menschenleben

Die Hard­li­ner der Abschot­tung füh­ren also Regie in der Euro­päi­schen Uni­on. Kei­ne fünf Jah­re ist es her, dass der dama­li­ge EU-Par­la­ments­prä­si­dent Schulz ange­sichts der Zustän­de im Mit­tel­meer von einer »Schan­de für die EU« gespro­chen hat­te und mehr Anstren­gun­gen zur Ret­tung von Men­schen­le­ben for­der­te. Wor­te, die klin­gen, wie aus einer ande­ren Epo­che, kaum ein Ver­ant­wort­li­cher spricht heu­te noch davon. Das Gebot der Stun­de schei­nen im Gegen­satz Anstren­gun­gen zur Ver­hin­de­rung der Ret­tung von Men­schen­le­ben zu sein.

(mk)