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Das Asylbewerberleistungsgesetz sieht für Flüchtlinge nur eine Notfallversorgung vor. Wenn es schlecht läuft, entscheiden medizinische Laien darüber, ob ein Notfall vorliegt. Die Konsequenzen sind mitunter lebensgefährdend. Foto: flickr / Julian Schüngel

In jüngster Zeit berichten Zeitungen immer wieder über die erheblichen Missstände bei der Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen. Dennoch hält die Bundesregierung an dem Fortbestand des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylblG) fest. Spätestens ab Juli wird eine Anpassung des AsylblG nötig werden, denn Deutschland muss eine europäische Richtlinie zur besonderen Behandlung von Traumatisierten umsetzen.

Aktu­el­le Zei­tungs­be­rich­te ver­deut­li­chen die men­schen­un­wür­di­ge Gesund­heits­ver­sor­gung von Flücht­lin­gen in Deutsch­land. Flücht­lings­kin­der lei­den bei­spiels­wei­se unter einem mas­si­ven Zer­stö­rungs­grad ihrer Zäh­ne. Je län­ger sich Kin­der in Flücht­lings­un­ter­künf­ten auf­hal­ten, des­to schlim­mer wer­den ihre Zahn­schmer­zen. Eine nach­hal­ti­ge medi­zi­ni­sche Behand­lung erfolgt nicht, immer wie­der wer­den Zäh­ne gezo­gen, wenn die Schmer­zen zu stark werden.

Im bay­ri­schen Zirn­dorf gab es jüngst einen Pro­zess um den Bei­na­he-Tod des Flücht­lings­kinds Leo­nar­do. Trotz star­ker Schmer­zen wur­de Leo­nar­do durch die Secu­ri­ty und die Mit­ar­bei­ter einer Flücht­lings­un­ter­kunft nicht zu einem Arzt gebracht. Die Fol­ge waren über 20 Ope­ra­tio­nen und immense lebens­lan­ge Fol­ge­schä­den für den Jungen.

Auch die psy­cho­lo­gi­sche Betreu­ung von Flücht­lin­gen ist kata­stro­phal. Obwohl über 60 Pro­zent der Flücht­lin­ge auf­grund trau­ma­ti­scher Erleb­nis­se drin­gend eine psy­cho­lo­gi­sche Behand­lung benö­ti­gen, gibt es bun­des­weit nur 30 psy­cho­so­zia­le Zen­tren mit jeweils zwei Mit­ar­bei­te­rIn­nen.

Medi­zi­ni­sche Man­gel­ver­wal­tung per Gesetz

All dies sind kei­ne Ein­zel­fäl­le, son­dern die Aus­wir­kun­gen der deut­schen Flücht­lings­ge­set­ze. Das 1993 in Kraft getre­te­ne Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz (Asyl­blG) regelt die Sozi­al­leis­tun­gen und die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung von Flücht­lin­gen. Schon damals war das Ziel des Geset­zes klar: Der Aus­schluss der Flücht­lin­ge aus dem regu­lä­ren Sozi­al- und Gesund­heits­we­sen soll­te Flücht­lin­ge abschrecken.

Asyl­be­wer­ber sind über die Sozi­al­hil­fe­ver­wal­tung kran­ken­ver­si­chert. Vor einem Arzt­be­such müs­sen sie sich vie­ler­orts beim Sozi­al­amt einen Kran­ken­schein abho­len. Die Kos­ten wer­den nur bei ein­deu­ti­gen Not­ver­sor­gun­gen geleis­tet, wie §§ 4 und 6 Asyl­blG vor­schrei­ben. Die Ent­schei­dung über einen medi­zi­ni­schen Not­fall maßen sich so häu­fig medi­zi­ni­sche Lai­en an– eine Fol­ge des Asyl­bLG, die schon zum Tod von Flücht­lin­gen geführt hat. Der Kran­ken­schein wird durch das Sozi­al­amt mit Anmer­kun­gen für die Ärz­tIn­nen ver­se­hen, dabei wer­den mit­un­ter äußerst restrik­ti­ve Aus­le­gun­gen von § 4 Asyl­blG abge­druckt. Vie­le Ärz­tIn­nen zei­gen sich in der Pra­xis ange­sichts der Geset­zes­la­ge über­for­dert und ver­wei­gern manch­mal selbst die Not­ver­sor­gung oder ent­schei­den sich bei Zahn­schmer­zen zur Zie­hung des Zahns statt zu einer kos­ten­in­ten­si­ve­ren Wurzelbehandlung.

„Die Men­schen­wür­de ist migra­ti­ons­po­li­tisch nicht zu relativieren.“

Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt beschäf­tig­te sich 2012 in einem weg­wei­sen­den Urteil mit dem Asyl­blG. Damals konn­te das Gericht nur über die Sät­ze der Geld­leis­tun­gen von Flücht­lin­gen ent­schei­den: Es erklär­te die zum dama­li­gen Zeit­punkt seit 1993 unver­än­der­ten Geld­leis­tun­gen nach § 3 Asyl­blG für ver­fas­sungs­wid­rig, denn ein men­schen­wür­di­ges Exis­tenz­mi­ni­mum stün­de deut­schen und aus­län­di­schen Staats­an­ge­hö­ri­gen glei­cher­ma­ßen zu. Das Gericht konn­te in sei­ner Ent­schei­dung nicht auf die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung von Flücht­lin­gen ein­ge­hen. Aber sein berühm­ter Leit­satz: „Die Men­schen­wür­de ist migra­ti­ons­po­li­tisch nicht zu rela­ti­vie­ren“ gilt auch für die als Abschre­ckungs­in­stru­ment kon­zi­pier­te Not­ver­sor­gung von Flücht­lin­gen. Als das Asyl­blG in Reak­ti­on auf das Urteil 2014 geän­dert wur­de, bekräf­tig­te PRO ASYL die For­de­rung, das Asyl­blG abzu­schaf­fen und allen Flücht­lin­gen eine men­schen­wür­di­ge Ver­sor­gung zu garantieren.

EU-Recht: Psy­chi­sche und trau­ma­ti­sche Pro­ble­me von Flücht­lin­gen müs­sen behan­delt werden

Im Jahr 2013 hat die Euro­päi­sche Uni­on die Auf­nah­me­richt­li­nie geän­dert, die euro­päi­sche Stan­dards zur Auf­nah­me von inter­na­tio­nal Schutz­su­chen­den fest­legt. Die neue Auf­nah­me­richt­li­nie sieht in Art. 15 und 21 vor, dass die Mit­glieds­staa­ten Rege­lun­gen tref­fen müs­sen, um psy­chi­sche und trau­ma­ti­sche Stö­run­gen von Flücht­lin­gen zu behan­deln. Hier­für ist eine förm­li­che Ein­zel­fall­prü­fung zur Erken­nung der beson­de­ren Hil­fe­be­dürf­tig­keit erfor­der­lich. Eine gene­rel­le Abfra­ge und Erken­nung von psy­chi­schen Stö­run­gen gibt es bis­lang in Deutsch­land nicht. Die Bun­des­re­gie­rung hat noch kei­nen Vor­schlag unter­brei­tet, wie sie die Richt­li­nie umset­zen will. Dabei läuft die Umset­zungs­frist am 20. Juli 2015 ab.

Als ein Vor­schlag, wie die Ein­zel­fall­prü­fung orga­ni­siert wer­den kann, wur­de der soge­nann­te PRO­TECT-Fra­ge­bo­gen ent­wi­ckelt. Er ent­hält zehn Fra­gen, die in einem Erst­ge­spräch bei der Auf­nah­me von Flücht­lin­gen gestellt wer­den sol­len. Beant­wor­tet der Flücht­ling die Mehr­heit der Fra­gen posi­tiv, so sei die Wahr­schein­lich­keit einer Trau­ma­ti­sie­rung höher.

Der Fra­ge­bo­gen stellt sicher­lich eine schnel­le und unbü­ro­kra­ti­sche Form dar, um inner­halb eines ers­ten Gesprächs ober­fläch­lich beson­de­re psy­chi­sche Belas­tun­gen von Flücht­lin­gen abzu­fra­gen. Er kann aber höchs­tens als ers­ter Hin­weis die­nen, denn ers­tens ver­wei­sen die Fra­gen des Bogens eher auf eine gene­rel­le Stress­si­tua­ti­on des Flücht­lings und zwei­tens besteht die Gefahr, dass bei einer mehr­heit­li­chen Ver­nei­nung der Fra­gen auch im wei­te­ren Ver­fah­ren kei­ne Unter­su­chung des Flücht­lings mehr vor­ge­nom­men und kei­ne Trau­ma­ti­sie­rung ange­nom­men wird.

Trau­ma­ti­sie­run­gen und psy­chi­sche Stö­run­gen las­sen sich oft nicht inner­halb eines kur­zen Fra­ge-Ant­wort-Gesprächs fest­stel­len. Vie­le Flücht­lin­ge brin­gen es nicht über sich, sich gegen­über Bediens­te­ten von Behör­den über trau­ma­ti­sie­ren­de Erfah­run­gen zu äußern. Der Fra­ge­bo­gen kann eine gründ­li­che medi­zi­ni­sche Dia­gno­se nicht ersetzen.

Gesund­heits­kar­te: Ein Ende der büro­kra­ti­schen Stigmatisierung?

Bun­des­weit wird mitt­ler­wei­le über die Ein­füh­rung einer soge­nann­ten Gesund­heits­kar­te diskutiert.

Die Gesund­heits­kar­te exis­tiert seit 2005 in Bre­men und seit 2012 in Ham­burg. Mit ihr soll es Flücht­lin­gen unbü­ro­kra­tisch ermög­licht wer­den, einen Arzt auf­zu­su­chen – ohne vor­he­ri­ge Geneh­mi­gung der Sozialbehörde.

Die recht­li­che Grund­la­ge der Gesund­heits­kar­te ist § 264 des fünf­ten Sozi­al­ge­setz­buchs. Danach kann der Staat mit den Kran­ken­kas­sen einen Ver­trag zur Über­nah­me der Kos­ten für die Gesund­heits­ver­sor­gung tref­fen. In Bre­men besteht bei­spiels­wei­se eine Ver­ein­ba­rung mit der AOK. Die Behand­lungs­kos­ten der Flücht­lin­ge erstat­tet der Staat direkt den Krankenkassen.

Die Kos­ten für die Gesund­heits­ver­sor­gung von Asyl­bLG-Betrof­fe­nen sind im Rah­men die­ser Model­le nicht gestie­gen – im Gegen­teil, sie sind sogar gesun­ken,  in Ham­burg bei­spiels­wei­se um rund 1,6 Mil­lio­nen Euro.

Die Grün­de hier­für sind offen­sicht­lich: Lau­fen­de und nach­hal­ti­ge medi­zi­ni­sche Behand­lun­gen sind letzt­lich weni­ger kos­ten­in­ten­siv als Ope­ra­tio­nen, die oft die Fol­ge einer auf Not­ver­sor­gung beschränk­ten Gesund­heits­ver­sor­gung  sind. Zudem spart der Staat mit der Gesund­heits­kar­te die Bezah­lung von Sach­be­ar­bei­tern ein, denn die Kran­ken­kas­sen ver­fü­gen über aus­ge­bil­de­tes Personal.

Auch im Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­te­ri­um wird die Ein­füh­rung der Gesund­heits­kar­te dis­ku­tiert. Doch gera­de inner­halb der CDU/CSU möch­te man  auf das Abschre­ckungs­in­stru­ment und damit die fort­ge­setz­te men­schen­un­wür­di­ge Behand­lung von Flücht­lin­gen offen­bar nicht verzichten.

Ein orga­ni­sa­to­ri­sches Pro­blem ergibt sich aber bei der Gesund­heits­kar­te: Die Durch­füh­rung des Asyl­blG obliegt den Län­dern, die mit ihren Aus­füh­rungs­ge­set­zen die kon­kre­te Umset­zung an die Kom­mu­nen dele­giert haben. Die Kom­mu­nen tra­gen daher auch die Kos­ten der Ver­ein­ba­run­gen mit den Kran­ken­kas­sen. In Stadt­staa­ten wie Ham­burg und Bre­men ist die­ses Pro­blem ein­fa­cher zu hand­ha­ben, denn Stadt­staa­ten sind juris­tisch gese­hen zugleich Bun­des­land und Kommune.

In ande­ren Län­dern hegen die Kom­mu­nen des­halb Beden­ken hin­sicht­lich zusätz­li­cher Kos­ten für die Gesund­heits­ver­sor­gung. Damit kein bun­des­wei­ter Fli­cken­tep­pich ent­steht, müss­te die Gesund­heits­kar­te daher bun­des­ein­heit­lich ein­ge­führt wer­den. Bei einer rein kom­mu­na­len Lösung gäbe es in jeder Kom­mu­ne unter­schied­li­che Regelungen.

Auch wenn die Gesund­heits­kar­te die büro­kra­ti­schen Hür­den für die Inan­spruch­nah­me medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung für Flücht­lin­ge erheb­lich sen­ken, ihre Stig­ma­ti­sie­rung ver­mei­den und end­lich Fach­per­so­nal statt Lai­en über gesund­heit­li­che Bedürf­nis­se ent­schei­den las­sen wür­de: An der Auf­recht­erhal­tung einer rei­nen Not­ver­sor­gung wür­de sich bei Bei­be­hal­tung von §§ 4 und 6 Asyl­blG nichts ändern. PRO ASYL for­dert daher, dass das Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz abge­schafft wird und die Betrof­fe­nen die­sel­ben Sozi­al­leis­tun­gen erhal­ten wie ande­re unter­stüt­zungs­be­dürf­ti­ge Men­schen in Deutschland.

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