19.11.2020
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Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hat am 19.11. eine von PRO ASYL unterstützte Klage positiv beschieden. Symbolbild: Justitia-Statue im Dogenpalast in Venedig | Foto: PRO ASYL / Max Klöckner

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 19. November in einem von PRO ASYL bezuschussten Vorabentscheidungsverfahren über Fragen zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten syrischer Kriegsdienstverweigerer entschieden.

Die Ent­schei­dung macht deut­lich: Das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge hat in den letz­ten Jah­ren zahl­rei­chen syri­schen Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rern den die­sen zuste­hen­den Flücht­lings­sta­tus zu Unrecht ver­wei­gert. Statt­des­sen erhiel­ten sie nur sub­si­diä­ren Schutz. Das Pro­blem: Für sie wur­de der Fami­li­en­nach­zug von 2016 bis 2018 aus­ge­setzt, er ist wei­ter­hin einem Kon­tin­gent unter­wor­fen und unter­liegt hohen Vor­aus­set­zun­gen. Auch des­halb  klag­ten vie­le syri­sche Geflüch­te­te auf den vol­len Flücht­lings­schutz. Auch der syri­sche Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rer E.Z. klag­te – und zog mit Unter­stüt­zung durch den PRO ASYL-Rechts­hil­fe­fonds nun erfolg­reich vor den EuGH.

Die­ses Urteil muss auch poli­ti­sche Kon­se­quen­zen haben: Die unge­recht­fer­tig­te Ungleich­be­hand­lung Schutz­su­chen­der beim Fami­li­en­nach­zug muss drin­gend auf­ge­ho­ben wer­den, auch damit Feh­ler in der Ent­schei­dungs­pra­xis der Ver­gan­gen­heit weni­ger gra­vie­ren­de Aus­wir­kun­gen haben.

Mit sei­ner Ent­schei­dung im Fall EZ gegen Deutsch­land hat der Gerichts­hof der Euro­päi­schen Uni­on (EuGH) Fra­gen des Ver­wal­tungs­ge­richts Han­no­vers beant­wor­tet, die die deut­sche Recht­spre­chung schon län­ger ent­zweit haben (für eine Über­sicht der Recht­spre­chung sie­he Info­ver­bund vom 16.04.2020).

Die­ses Urteil muss auch poli­ti­sche Kon­se­quen­zen haben!

Dabei geht es um die essen­ti­el­le Fra­ge, wann bei syri­schen Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rern von einer Flücht­lings­ei­gen­schaft aus­ge­gan­gen wer­den kann. In Deutsch­land bekom­men Syrer*innen mitt­ler­wei­le mehr­heit­lich den sub­si­diä­ren Schutz und nicht die Flüchtlingseigenschaft.

In Syri­en sind Män­ner im Alter von 18 bis 42 Jah­ren wehr­pflich­tig, doch es kommt auch zum Ein­zug von jün­ge­ren oder älte­ren Män­nern. Die Wehr­dienst­ent­zie­hung ist eine Straf­tat und wird laut UNHCR von der Regie­rung »wahr­schein­lich als poli­ti­sche, regie­rungs­feind­li­che Hand­lung ange­se­hen« was zu schär­fe­ren Stra­fen als den regu­lär vor­ge­se­he­nen Sank­tio­nen füh­ren kann. Dies kann Haft sein, in der Fol­ter und ande­re Miss­hand­lung droht, oder der Ein­satz an vor­ders­ter Front ohne aus­rei­chen­de mili­tä­ri­sche Aus­bil­dung. Mit Beginn des Bür­ger­kriegs kam es zu mas­sen­haf­ter Zwangs­re­kru­tie­rung. Deser­teu­ren dro­hen lan­ge Haft­stra­fen oder sogar die Todes­stra­fe – in der Pra­xis kam es oft zu direk­ten Erschie­ßun­gen von gefass­ten Deser­teu­ren (Quel­len: UNHCR, Schwei­ze­ri­sche Flücht­lings­hil­fe, adopt a revo­lu­ti­on). Im syri­schen Bür­ger­krieg wer­den regel­mä­ßig Kriegs­ver­bre­chen began­gen, auch gegen Zivilist*innen (Quel­len: Amnes­ty Inter­na­tio­nal, Human Rights Watch). Auch die­ses Jahr kommt es wei­ter­hin zu Kampf­hand­lun­gen.

Die Geschichte von E.Z.

Der Klä­ger E.Z. ist Syrer und kam im Sep­tem­ber 2015 nach Deutsch­land. Er hat­te Syri­en im Novem­ber 2014 ver­las­sen, da ihm ab den Früh­jahr 2015 der Ein­zug in die syri­sche Armee und damit eine erzwun­ge­ne Betei­li­gung am Bür­ger­krieg gedroht hät­te. Bis dahin war er wegen sei­nes Stu­di­ums frei­ge­stellt gewe­sen. Im April 2017 lehn­te das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge die Flücht­lings­ei­gen­schaft ab und sprach ihm nur den sub­si­diä­ren Schutz zu. Damit war E.Z. von der dras­ti­schen Ände­rung in der Ent­schei­dungs­pra­xis des BAMF betrof­fen, die zeit­gleich mit der zwei­jäh­ri­gen Aus­set­zung des Fami­li­en­nach­zugs für sub­si­di­är Schutz­be­rech­ti­ge ab März 2016 erfolgte.

Wur­den bis Ende 2015 Geflüch­te­te aus Syri­en im Rah­men eines schrift­li­chen Ver­fah­rens noch in 99,7% der Fäl­le als Flücht­lin­ge im Sin­ne der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on (GFK) bzw. als Asyl­be­rech­tig­te nach dem Grund­ge­setz aner­kannt, änder­te sich die Aner­ken­nungs­pra­xis danach mas­siv. Im Jahr 2016 beka­men nur noch 58% der syri­schen Antragsteller*innen Schutz nach der GFK bzw. dem Grund­ge­setz, 42% erhiel­ten sub­si­diä­ren Schutz. Im Jahr 2017 wur­den 38% der syri­schen Antragsteller*innen nach der GFK bzw. dem Grund­ge­setz aner­kannt, dage­gen erhielt mit 61% die Mehr­heit den sub­si­diä­ren Schutz.

Die Entscheidung des EuGHs

Das BAMF lehn­te in dem der Ent­schei­dung des EuGH zugrun­de­lie­gen­den Asyl­ver­fah­ren den Asyl­an­trag von E.Z. ab, weil er in Syri­en kei­ne Ver­fol­gung erlebt hät­te und da es zu der dro­hen­den Ver­fol­gungs­hand­lung (der Bestra­fung wegen dem Wehr­dienst­ent­zug) kei­nen Ver­fol­gungs­grund gege­ben hät­te. Das BAMF argu­men­tier­te vor dem EuGH – und in sei­nen zahl­rei­chen Beschei­den zu syri­schen Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rern ent­spre­chend – die­se müss­ten ihre oppo­si­tio­nel­le poli­ti­sche Ansicht, also z.B. die Ille­gi­ti­mi­tät des syri­schen Bür­ger­kriegs, nach außen kund­tun, damit von einem Kau­sal­zu­sam­men­hang zwi­schen der dro­hen­den Ver­fol­gungs­hand­lung und einer poli­ti­sche Ansicht aus­ge­gan­gen wer­den kön­ne. Die Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rer müss­ten das Vor­lie­gen von Ver­fol­gungs­grün­den beweisen.

Über meh­re­re in die­sem Zusam­men­hang gestell­te Vor­la­ge­fra­gen hat­te der EuGH zu entscheiden.

Die Qua­li­fi­ka­ti­ons­richt­li­nie nennt als eine der mög­li­chen Ver­fol­gungs­hand­lun­gen, die zur Aner­ken­nung der Flücht­lings­ei­gen­schaft füh­ren kön­nen, expli­zit die Straf­ver­fol­gung oder Bestra­fung wegen der Ver­wei­ge­rung des Mili­tär­diens­tes, wenn die­ser die Betei­li­gung u.a. an Kriegs­ver­bre­chen umfas­sen wür­de (Art. 9 Abs. 2 Buchst. e.).

Zunächst stell­te der EuGH auf die dies­be­züg­li­chen Vor­la­ge­fra­gen fest, dass es in einer Situa­ti­on, in wel­cher die Mög­lich­keit, den Kriegs­dienst zu ver­wei­gern, wie in Syri­en nicht vor­ge­se­hen ist, son­dern die Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung rechts­wid­rig und mit Straf­ver­fol­gung bedroht ist, von dem Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rer nicht ver­langt wer­den darf, dass er sei­ne Ver­wei­ge­rung in einem bestimm­ten Ver­fah­ren for­ma­li­siert oder sie gegen­über der Mili­tär­ver­wal­tung zum Aus­druck gebracht hat.

Wei­ter ent­schied der EuGH, dass für einen Wehr­pflich­ti­gen, der sei­nen Mili­tär­dienst in einem von wie­der­hol­ten und sys­te­ma­ti­schen Kriegs­ver­bre­chen und Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit gekenn­zeich­ne­ten Kon­flikt ver­wei­gert, i.R.d. Art 9 Abs. 2 Buchst 3 der Qua­li­fi­ka­ti­ons­richt­li­nie davon aus­zu­ge­hen ist, dass die Ableis­tung des Mili­tär­diens­tes unab­hän­gig von dem kon­kre­ten – zum Zeit­punkt der Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung noch nicht bekann­ten – Ein­satz­ge­biet unmit­tel­bar oder mit­tel­bar die Betei­li­gung an sol­chen Ver­bre­chen umfas­sen würde.

Fer­ner bestä­tig­te der EuGH, dass eine Ver­fol­gungs­hand­lung mit einem der Ver­fol­gungs­grün­de der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on bzw. der Qua­li­fi­ka­ti­ons­richt­li­nie kau­sal ver­knüpft sein muss: »Ras­se«, Reli­gi­on, Natio­na­li­tät, Zuge­hö­rig­keit zu einer bestimm­ten sozia­len Grup­pe und poli­ti­sche Über­zeu­gung. Es bedarf also einer Ver­fol­gungs­hand­lung bspw. gera­de wegen einer poli­ti­schen Überzeugung.

Politische Überzeugung als Beweggrund?

Die ent­schei­den­de Fra­ge vor dem EuGH war, ob bei einer Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung davon aus­ge­gan­gen wer­den könn­te, dass mit die­ser eine poli­ti­sche Über­zeu­gung zum Aus­druck gebracht wird.

In sei­ner Ent­schei­dung hält der EuGH zwar fest, dass die Ver­wei­ge­rung von Mili­tär­dienst nicht per se auf einer poli­ti­schen Über­zeu­gung basie­ren müs­se. Sie kön­ne auch durch die Furcht begrün­det sein, sich den Gefah­ren aus­zu­set­zen, die die Ableis­tung des Mili­tär­diens­tes im Kon­text eines bewaff­ne­ten Kon­flikts mit sich bringe.

Der EuGH betont in der Ent­schei­dung aber, dass eine star­ke Ver­mu­tung dafür spricht, dass die Ver­wei­ge­rung des Mili­tär­diens­tes unter den in Art. 9 Abs. 2 e) der Qua­li­fi­ka­ti­ons­richt­li­nie genann­ten Vor­aus­set­zun­gen – also im Rah­men eines Kon­flikts, der bspw. mit Kriegs­ver­bre­chen oder Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit ein­her­geht – mit einem der in Art. 10 die­ser Richt­li­nie auf­ge­zähl­ten Ver­fol­gungs­grün­de – wie bspw. einer poli­ti­schen Über­zeu­gung – in Zusam­men­hang steht. Auch erlau­be die Ver­wei­ge­rung des Mili­tär­diens­tes ins­be­son­de­re, wenn die Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung mit schwe­ren Sank­tio­nen bewehrt ist, die Annah­me, dass ein star­ker Wer­te­kon­flikt bzw. ein Kon­flikt poli­ti­scher oder reli­giö­ser Über­zeu­gun­gen zwi­schen dem Betrof­fe­nen und den Behör­den des Her­kunfts­lan­des vorliege.

»Fer­ner sei zu beach­ten, dass in einem Bür­ger­krieg bei feh­len­der lega­ler Mög­lich­keit, sich sei­nen mili­tä­ri­schen Pflich­ten zu ent­zie­hen, eine hohe Wahr­schein­lich­keit bestehe, dass die Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung unab­hän­gig von den per­sön­li­chen Grün­den des Betrof­fe­nen als ein Akt poli­ti­scher Oppo­si­ti­on aus­ge­legt wird.«

sagt der EuGH

Fer­ner sei zu beach­ten, dass in einem Bür­ger­krieg bei feh­len­der lega­ler Mög­lich­keit, sich sei­nen mili­tä­ri­schen Pflich­ten zu ent­zie­hen, eine hohe Wahr­schein­lich­keit bestehe, dass die Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung unab­hän­gig von den per­sön­li­chen Grün­den des Betrof­fe­nen als ein Akt poli­ti­scher Oppo­si­ti­on aus­ge­legt wird. Der EuGH betont in die­sem Zusam­men­hang, dass es nach Art. 10 Abs. 2 der Qua­li­fi­ka­ti­ons­richt­li­nie bei der Bewer­tung der Fra­ge nach begrün­de­ter Furcht vor Ver­fol­gung uner­heb­lich ist, ob der Antrag­stel­ler tat­säch­lich die bspw. poli­ti­schen Merk­ma­le auf­weist, die zur Ver­fol­gung füh­ren, sofern ihm die­se Merk­ma­le von sei­nem Ver­fol­ger zuge­schrie­ben werden.

Es sei im Ergeb­nis nicht an dem Betrof­fe­nen, die Ver­knüp­fung zwi­schen Ver­fol­gungs­hand­lung und Ver­fol­gungs­grund zu bewei­sen. Viel­mehr sei es Sache der zustän­di­gen natio­na­len Behör­de, in Anbe­tracht sämt­li­cher in Rede ste­hen­der Umstän­de die Plau­si­bi­li­tät einer sol­chen Ver­knüp­fung zu prüfen.

Was bedeutet das Urteil für syrische Flüchtlinge in Deutschland?

Vom EuGH wird über die ver­bind­li­che Aus­le­gung von Gemein­schafts­recht, und nicht über den Ein­zel­fall selbst ent­schie­den. Nach der Ent­schei­dung des EuGHs liegt es im Anschluss an den natio­na­len Gerich­ten, basie­rend auf den Ant­wor­ten eine Ent­schei­dung über den kon­kre­ten Ein­zel­fall zu treffen.

Da die Kriegs­hand­lun­gen der syri­schen Streit­kräf­te unstrei­tig u.a. mit Kriegs­ver­bre­chen und Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit ein­her­ge­hen und Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung in Syri­en mit dras­ti­schen Stra­fen bedroht ist, ist aber nach der Vor­ga­be des EuGHs zu erwar­ten, dass syri­schen Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rern in Deutsch­land in aller Regel die Flücht­lings­ei­gen­schaft zuge­spro­chen wer­den soll­te. E.Z. hat nun gute Aus­sich­ten, dass das VG Han­no­ver ihm die Flücht­lings­ei­gen­schaft zuerkennt.

Für Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rer, denen in den letz­ten Jah­ren in Deutsch­land die Flücht­lings­ei­gen­schaft ver­wei­gert wur­de und deren Ver­fah­ren schon rechts­kräf­tig abge­schlos­sen ist, stellt sich nun die Fra­ge, ob das Urteil auch bei ihnen einen Unter­schied macht. Bis­lang galt eigent­lich nach der Recht­spre­chung des Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richts, dass selbst eine Ent­schei­dung des EuGHs kei­ne Ände­rung der Rechts­la­ge ist, die einen Fol­ge­an­trag ermög­licht. Doch eine wei­te­re Ent­schei­dung des EuGHs vom 14. Mai 2020 zu den unga­ri­schen Tran­sit­zo­nen sorgt hier für Bewe­gung. In dem Urteil stell­te der EuGH fest, dass eine Ent­schei­dung im Erst­ver­fah­ren, die vom EuGH als uni­ons­rechts­wid­rig befun­den wur­de, sehr wohl eine neue Erkennt­nis ist, die einen Fol­ge­an­trag begrün­den kann – aller­dings nicht auto­ma­tisch, ein Antrag der Betrof­fe­nen wäre not­wen­dig (Rn. 190 ff; so auch Dr. Con­stan­tin Hrusch­ka bei LTO). Dies muss jetzt für die­se Kon­stel­la­ti­on genau geprüft wer­den – PRO ASYL wird an dem The­ma dran blei­ben und informieren.

Für Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rer, deren Ver­fah­ren schon rechts­kräf­tig abge­schlos­sen ist, stellt sich nun die Fra­ge, ob das Urteil auch bei ihnen einen Unter­schied macht.

Denn wür­de es kei­ne Mög­lich­keit zur Kor­rek­tur der fal­schen Ent­schei­dun­gen geben, wür­de dies auch ange­sichts der hun­dert­tau­sen­den Wider­rufs­ver­fah­ren, die vom BAMF aktu­ell durch­ge­führt wer­den, nicht eines gewis­sen Zynis­mus ent­beh­ren: Obwohl sich in den Haupt­her­kunfts­län­dern die Lage nicht geän­dert hat, wer­den für die Wider­rufs- und Rück­nah­me­ver­fah­ren die Akten auf Wie­der­vor­la­ge genom­men – bei mög­li­chen Ver­bes­se­run­gen aber nicht?

(wj/pva)