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Erfolg vor dem Europäischen Gerichtshof: Entscheidung zu syrischen Kriegsdienstverweigerern
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 19. November in einem von PRO ASYL bezuschussten Vorabentscheidungsverfahren über Fragen zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zugunsten syrischer Kriegsdienstverweigerer entschieden.
Die Entscheidung macht deutlich: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat in den letzten Jahren zahlreichen syrischen Kriegsdienstverweigerern den diesen zustehenden Flüchtlingsstatus zu Unrecht verweigert. Stattdessen erhielten sie nur subsidiären Schutz. Das Problem: Für sie wurde der Familiennachzug von 2016 bis 2018 ausgesetzt, er ist weiterhin einem Kontingent unterworfen und unterliegt hohen Voraussetzungen. Auch deshalb klagten viele syrische Geflüchtete auf den vollen Flüchtlingsschutz. Auch der syrische Kriegsdienstverweigerer E.Z. klagte – und zog mit Unterstützung durch den PRO ASYL-Rechtshilfefonds nun erfolgreich vor den EuGH.
Dieses Urteil muss auch politische Konsequenzen haben: Die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung Schutzsuchender beim Familiennachzug muss dringend aufgehoben werden, auch damit Fehler in der Entscheidungspraxis der Vergangenheit weniger gravierende Auswirkungen haben.
Mit seiner Entscheidung im Fall EZ gegen Deutschland hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) Fragen des Verwaltungsgerichts Hannovers beantwortet, die die deutsche Rechtsprechung schon länger entzweit haben (für eine Übersicht der Rechtsprechung siehe Infoverbund vom 16.04.2020).
Dieses Urteil muss auch politische Konsequenzen haben!
Dabei geht es um die essentielle Frage, wann bei syrischen Kriegsdienstverweigerern von einer Flüchtlingseigenschaft ausgegangen werden kann. In Deutschland bekommen Syrer*innen mittlerweile mehrheitlich den subsidiären Schutz und nicht die Flüchtlingseigenschaft.
In Syrien sind Männer im Alter von 18 bis 42 Jahren wehrpflichtig, doch es kommt auch zum Einzug von jüngeren oder älteren Männern. Die Wehrdienstentziehung ist eine Straftat und wird laut UNHCR von der Regierung »wahrscheinlich als politische, regierungsfeindliche Handlung angesehen« was zu schärferen Strafen als den regulär vorgesehenen Sanktionen führen kann. Dies kann Haft sein, in der Folter und andere Misshandlung droht, oder der Einsatz an vorderster Front ohne ausreichende militärische Ausbildung. Mit Beginn des Bürgerkriegs kam es zu massenhafter Zwangsrekrutierung. Deserteuren drohen lange Haftstrafen oder sogar die Todesstrafe – in der Praxis kam es oft zu direkten Erschießungen von gefassten Deserteuren (Quellen: UNHCR, Schweizerische Flüchtlingshilfe, adopt a revolution). Im syrischen Bürgerkrieg werden regelmäßig Kriegsverbrechen begangen, auch gegen Zivilist*innen (Quellen: Amnesty International, Human Rights Watch). Auch dieses Jahr kommt es weiterhin zu Kampfhandlungen.
Die Geschichte von E.Z.
Der Kläger E.Z. ist Syrer und kam im September 2015 nach Deutschland. Er hatte Syrien im November 2014 verlassen, da ihm ab den Frühjahr 2015 der Einzug in die syrische Armee und damit eine erzwungene Beteiligung am Bürgerkrieg gedroht hätte. Bis dahin war er wegen seines Studiums freigestellt gewesen. Im April 2017 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Flüchtlingseigenschaft ab und sprach ihm nur den subsidiären Schutz zu. Damit war E.Z. von der drastischen Änderung in der Entscheidungspraxis des BAMF betroffen, die zeitgleich mit der zweijährigen Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtige ab März 2016 erfolgte.
Wurden bis Ende 2015 Geflüchtete aus Syrien im Rahmen eines schriftlichen Verfahrens noch in 99,7% der Fälle als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) bzw. als Asylberechtigte nach dem Grundgesetz anerkannt, änderte sich die Anerkennungspraxis danach massiv. Im Jahr 2016 bekamen nur noch 58% der syrischen Antragsteller*innen Schutz nach der GFK bzw. dem Grundgesetz, 42% erhielten subsidiären Schutz. Im Jahr 2017 wurden 38% der syrischen Antragsteller*innen nach der GFK bzw. dem Grundgesetz anerkannt, dagegen erhielt mit 61% die Mehrheit den subsidiären Schutz.
Die Entscheidung des EuGHs
Das BAMF lehnte in dem der Entscheidung des EuGH zugrundeliegenden Asylverfahren den Asylantrag von E.Z. ab, weil er in Syrien keine Verfolgung erlebt hätte und da es zu der drohenden Verfolgungshandlung (der Bestrafung wegen dem Wehrdienstentzug) keinen Verfolgungsgrund gegeben hätte. Das BAMF argumentierte vor dem EuGH – und in seinen zahlreichen Bescheiden zu syrischen Kriegsdienstverweigerern entsprechend – diese müssten ihre oppositionelle politische Ansicht, also z.B. die Illegitimität des syrischen Bürgerkriegs, nach außen kundtun, damit von einem Kausalzusammenhang zwischen der drohenden Verfolgungshandlung und einer politische Ansicht ausgegangen werden könne. Die Kriegsdienstverweigerer müssten das Vorliegen von Verfolgungsgründen beweisen.
Über mehrere in diesem Zusammenhang gestellte Vorlagefragen hatte der EuGH zu entscheiden.
Die Qualifikationsrichtlinie nennt als eine der möglichen Verfolgungshandlungen, die zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen können, explizit die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Verweigerung des Militärdienstes, wenn dieser die Beteiligung u.a. an Kriegsverbrechen umfassen würde (Art. 9 Abs. 2 Buchst. e.).
Zunächst stellte der EuGH auf die diesbezüglichen Vorlagefragen fest, dass es in einer Situation, in welcher die Möglichkeit, den Kriegsdienst zu verweigern, wie in Syrien nicht vorgesehen ist, sondern die Kriegsdienstverweigerung rechtswidrig und mit Strafverfolgung bedroht ist, von dem Kriegsdienstverweigerer nicht verlangt werden darf, dass er seine Verweigerung in einem bestimmten Verfahren formalisiert oder sie gegenüber der Militärverwaltung zum Ausdruck gebracht hat.
Weiter entschied der EuGH, dass für einen Wehrpflichtigen, der seinen Militärdienst in einem von wiederholten und systematischen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekennzeichneten Konflikt verweigert, i.R.d. Art 9 Abs. 2 Buchst 3 der Qualifikationsrichtlinie davon auszugehen ist, dass die Ableistung des Militärdienstes unabhängig von dem konkreten – zum Zeitpunkt der Kriegsdienstverweigerung noch nicht bekannten – Einsatzgebiet unmittelbar oder mittelbar die Beteiligung an solchen Verbrechen umfassen würde.
Ferner bestätigte der EuGH, dass eine Verfolgungshandlung mit einem der Verfolgungsgründe der Genfer Flüchtlingskonvention bzw. der Qualifikationsrichtlinie kausal verknüpft sein muss: »Rasse«, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und politische Überzeugung. Es bedarf also einer Verfolgungshandlung bspw. gerade wegen einer politischen Überzeugung.
Politische Überzeugung als Beweggrund?
Die entscheidende Frage vor dem EuGH war, ob bei einer Kriegsdienstverweigerung davon ausgegangen werden könnte, dass mit dieser eine politische Überzeugung zum Ausdruck gebracht wird.
In seiner Entscheidung hält der EuGH zwar fest, dass die Verweigerung von Militärdienst nicht per se auf einer politischen Überzeugung basieren müsse. Sie könne auch durch die Furcht begründet sein, sich den Gefahren auszusetzen, die die Ableistung des Militärdienstes im Kontext eines bewaffneten Konflikts mit sich bringe.
Der EuGH betont in der Entscheidung aber, dass eine starke Vermutung dafür spricht, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 e) der Qualifikationsrichtlinie genannten Voraussetzungen – also im Rahmen eines Konflikts, der bspw. mit Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit einhergeht – mit einem der in Art. 10 dieser Richtlinie aufgezählten Verfolgungsgründe – wie bspw. einer politischen Überzeugung – in Zusammenhang steht. Auch erlaube die Verweigerung des Militärdienstes insbesondere, wenn die Kriegsdienstverweigerung mit schweren Sanktionen bewehrt ist, die Annahme, dass ein starker Wertekonflikt bzw. ein Konflikt politischer oder religiöser Überzeugungen zwischen dem Betroffenen und den Behörden des Herkunftslandes vorliege.
»Ferner sei zu beachten, dass in einem Bürgerkrieg bei fehlender legaler Möglichkeit, sich seinen militärischen Pflichten zu entziehen, eine hohe Wahrscheinlichkeit bestehe, dass die Kriegsdienstverweigerung unabhängig von den persönlichen Gründen des Betroffenen als ein Akt politischer Opposition ausgelegt wird.«
Ferner sei zu beachten, dass in einem Bürgerkrieg bei fehlender legaler Möglichkeit, sich seinen militärischen Pflichten zu entziehen, eine hohe Wahrscheinlichkeit bestehe, dass die Kriegsdienstverweigerung unabhängig von den persönlichen Gründen des Betroffenen als ein Akt politischer Opposition ausgelegt wird. Der EuGH betont in diesem Zusammenhang, dass es nach Art. 10 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie bei der Bewertung der Frage nach begründeter Furcht vor Verfolgung unerheblich ist, ob der Antragsteller tatsächlich die bspw. politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
Es sei im Ergebnis nicht an dem Betroffenen, die Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund zu beweisen. Vielmehr sei es Sache der zuständigen nationalen Behörde, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität einer solchen Verknüpfung zu prüfen.
Was bedeutet das Urteil für syrische Flüchtlinge in Deutschland?
Vom EuGH wird über die verbindliche Auslegung von Gemeinschaftsrecht, und nicht über den Einzelfall selbst entschieden. Nach der Entscheidung des EuGHs liegt es im Anschluss an den nationalen Gerichten, basierend auf den Antworten eine Entscheidung über den konkreten Einzelfall zu treffen.
Da die Kriegshandlungen der syrischen Streitkräfte unstreitig u.a. mit Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit einhergehen und Kriegsdienstverweigerung in Syrien mit drastischen Strafen bedroht ist, ist aber nach der Vorgabe des EuGHs zu erwarten, dass syrischen Kriegsdienstverweigerern in Deutschland in aller Regel die Flüchtlingseigenschaft zugesprochen werden sollte. E.Z. hat nun gute Aussichten, dass das VG Hannover ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkennt.
Für Kriegsdienstverweigerer, denen in den letzten Jahren in Deutschland die Flüchtlingseigenschaft verweigert wurde und deren Verfahren schon rechtskräftig abgeschlossen ist, stellt sich nun die Frage, ob das Urteil auch bei ihnen einen Unterschied macht. Bislang galt eigentlich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass selbst eine Entscheidung des EuGHs keine Änderung der Rechtslage ist, die einen Folgeantrag ermöglicht. Doch eine weitere Entscheidung des EuGHs vom 14. Mai 2020 zu den ungarischen Transitzonen sorgt hier für Bewegung. In dem Urteil stellte der EuGH fest, dass eine Entscheidung im Erstverfahren, die vom EuGH als unionsrechtswidrig befunden wurde, sehr wohl eine neue Erkenntnis ist, die einen Folgeantrag begründen kann – allerdings nicht automatisch, ein Antrag der Betroffenen wäre notwendig (Rn. 190 ff; so auch Dr. Constantin Hruschka bei LTO). Dies muss jetzt für diese Konstellation genau geprüft werden – PRO ASYL wird an dem Thema dran bleiben und informieren.
Für Kriegsdienstverweigerer, deren Verfahren schon rechtskräftig abgeschlossen ist, stellt sich nun die Frage, ob das Urteil auch bei ihnen einen Unterschied macht.
Denn würde es keine Möglichkeit zur Korrektur der falschen Entscheidungen geben, würde dies auch angesichts der hunderttausenden Widerrufsverfahren, die vom BAMF aktuell durchgeführt werden, nicht eines gewissen Zynismus entbehren: Obwohl sich in den Hauptherkunftsländern die Lage nicht geändert hat, werden für die Widerrufs- und Rücknahmeverfahren die Akten auf Wiedervorlage genommen – bei möglichen Verbesserungen aber nicht?
(wj/pva)