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In Syrien gibt es weder Schutz und Sicherheit noch dauerhaften Frieden

Immer wieder kocht die öffentliche Debatte darüber hoch, ob der Krieg in Syrien nicht längst vorbei und das Land sicher genug für Abschiebungen ist. Ist es nicht. Jegliche Debatten über Rückkehr führen an der lebensgefährlichen Realität in Syrien vorbei.
Es sind Berichte über »freiwillig« Zurückgekehrte oder reißerische Schlagzeilen über vermeintliche »Urlaubsreisen«, die den Eindruck erwecken, Flüchtlinge hätten in Syrien nichts mehr zu befürchten. Sie befeuern immer wieder Debatten über mögliche Widerrufe des Schutzstatus und Abschiebungen nach Syrien, in denen Empörung und Ressentiments mehr Gewicht beigemessen wird als vorliegenden Fakten.
Syrische Flüchtlinge bekommen fast zu 100 % Schutz
Fakt ist, dass nahezu alle syrischen Flüchtlinge (99,8 %) vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Schutz zugesprochen bekommen: Zwischen Januar und August 2019 wurde bei 27.315 inhaltlich geprüften Asylerstanträgen in 59,5 % der Fälle eine Anerkennung nach der Genfer Flüchtlingskonvention bzw. Artikel 16 a Grundgesetz erteilt, 38,8 % bekamen subsidiären Schutz. In 1,6 % der Fälle wurden Abschiebungsverbote ausgesprochen. Die enorm hohe Schutzquote spricht auch im achten Jahr des blutigen Syrien-Konflikts Bände.
Kaum Widerrufe bei Syrer*innen
Ein ähnliches Bild gibt es auch bei den Widerrufsverfahren (Quelle: BAMF): In 98,7 % aller durchgeführten Widerrufsverfahren im 1. Halbjahr 2019 wurde bei Syrer*innen der erteilte Schutzstatus bestätigt bzw. nicht widerrufen (39.285 von 39.806 Entscheidungen). Widerrufen wurde 426 Mal (also in 1,1 % der Fälle, davon 327 Anerkennungen als Flüchtling, 88 Mal subsidiärer Schutz und 11 Mal Abschiebungsverbote) – allerdings nicht aufgrund der allgemein geänderten Lage in Syrien, sondern wegen individuellen Gründen im jeweiligen Einzelfall.
Der Krieg in Syrien dauert unverändert an
Massive Kampfhandlungen finden in Syrien weiterhin statt. Die sich zunehmend verbreitende Auffassung, der Krieg sei fast zu Ende, ist falsch. In manchen Teilen des Landes gehen die Kämpfe unverändert weiter, in anderen Regionen drohen neue Eskalationen, insbesondere, da das Assad-Regime nach eigenen Aussagen anstrebt, das ganze Staatsgebiet militärisch zurückerobern zu wollen.
Viele Frontlinien und Kriegsakteure
Zudem überlagern sich im Syrien-Krieg mehrere regionale und internationale Konflikte, z.B. zwischen der Türkei und den Kurd*innen, zwischen Iran und Israel oder zwischen Iran und Saudi-Arabien. Hinzu kommen die Terror- und Entführungsgefahr durch terroristische Gruppierungen wie dem sogenannten »Islamischen Staat«, der im Untergrund weiterhin aktiv ist, oder der Islamistenmiliz Hayat Tahrir al-Sham.
Ende der Gefechte ist nicht das Ende der Verfolgung
Auch wenn einige Staaten ein starkes Interesse zeigen, die Situation in Syrien so darzustellen, als sei der Krieg bald zu Ende, weisen viele Beobachter*innen darauf hin, dass zwar die militärischen Auseinandersetzungen abgenommen haben, der Konflikt aber nicht zu Ende geht, sondern in eine neue, nicht weniger gefährliche Phase eintritt (Quelle: EASO, insbesondere S. 12 und S. 15). Und selbst, wenn in Syrien militärisch Ruhe einkehren sollte: Große Teile der syrischen Bevölkerung werden weiterhin massive Gewalt durch den Repressionsapparat des Assad-Regimes erleiden.
»In keinem Teil Syriens besteht ein umfassender, langfristiger und verlässlicher interner Schutz für verfolgte Personen.«
AA: Effektiven Schutz gibt es in Syrien nirgends
Deshalb ist es fahrlässig, von sogenannten »inländischen Fluchtalternativen« zu sprechen. Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes (AA) aus November 2018 macht deutlich: »In keinem Teil Syriens besteht ein umfassender, langfristiger und verlässlicher interner Schutz für verfolgte Personen, es gibt keine Rechtssicherheit oder Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher Verhaftung und Folter.«
UNHCR: Syrische Flüchtlinge brauchen weiterhin Schutz
Auch nach der Einschätzung des UNHCR besteht in Syrien keine interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative für Schutzsuchende: »Angesichts der vorherrschenden Umstände in Syrien, insbesondere der zahlreichen und komplexen Konflikte, der unbeständigen Sicherheitslage, der unzähligen Berichte von Menschenrechtsverletzungen und des tief verwurzelten Misstrauens gegenüber Personen mit abweichender Herkunft oder Abstammung, ist es nach Auffassung von UNHCR nicht angemessen, dass Staaten Personen aus Syrien auf der Grundlage einer internen Flucht- oder Neuansiedlungsalternative internationalen Schutz versagen.« (UNHCR Erwägungen 11/2017)
Rückkehr weiterhin nicht möglich
UNHCR hat die Aufnahmestaaten ersucht, Syrer*innen nicht zwangsweise nach Syrien rückzuführen. Ebenso kann es UNHCR »nicht befürworten oder unterstützen, dass Flüchtlinge aus den Aufnahmeländern zurückkehren«. Die Voraussetzungen für »eine freiwillige Rückkehr ins Heimatland in Sicherheit und Würde« seien nicht gegeben. Auch die UN-Untersuchungskommission zu Syrien warnt, dass eine sichere und nachhaltige Rückkehr nach Syrien weiterhin unmöglich sei (Februar 2019). Die Internationale Organisation für Migration (IOM) schätzt eine Rückkehr nach Syrien für derart riskant ein, das sie laut eigenen Angaben keine Fördergelder dazu bereitstellt.
Damaskus als inländische Fluchtalternative?
Trotz der oben genannten Einschätzungen wurde in Schweden vor kurzem die neue Praxis ausgerufen, wonach zumindest Damaskus als inländische Fluchtalternative betrachtet wird. Doch wer auch immer Damaskus zu erreichen versucht, setzt sich großen Gefahren aus: Laut UN-Einschätzung können Geflüchtete innerhalb Syriens nicht frei und gefahrlos reisen und drohen Gefahren, Schikanen und Ausbeutung ausgesetzt zu werden (UNHCR Erwägungen, S. 34).
Verschärfte Sicherheitskontrollen sind in Syrien Alltag; fehlende Ausweispapiere oder der Verlust von Dokumenten können für Schutzsuchende Einschränkungen und Repressionen bedeuten. Ebenso besteht das Risiko, mit einer verfeindeten Konfliktpartei in Verbindung gebracht zu werden, weshalb Betroffene zum Ziel von Angriffen werden können.
Zur Rückkehrdebatte
Um die Meldungen über vereinzelte Rückreisen nach Syrien einzuordnen: Ja, es gibt syrische Flüchtlinge, die nach Syrien reisen und wieder nach Deutschland zurück – angesichts von rund 750.000 hier lebenden Syrer*innen eine kaum verwunderliche Tatsache. Allerdings gibt es keinerlei belastbare Zahlen oder wenigstens Schätzungen zur Größenordnung.
In den wenigen PRO ASYL bekannten Einzelfällen ging es um die Unterstützung schwer erkrankter Verwandter, die Teilnahme an Beerdigungen oder darum, Familienmitglieder nach Jahren der Trennung wieder zu sehen.
Dringende Familienverpflichtungen oft Reisegrund
Auch von »Urlaub« zu sprechen, als gehe es darum, sich in Syrien zu erholen, verkennt völlig die Situation von Flüchtlingen: In den wenigen PRO ASYL bekannten Einzelfällen ging es um die Unterstützung schwer erkrankter Verwandter, die Teilnahme an Beerdigungen oder darum, Familienmitglieder nach Jahren der Trennung wieder zu sehen. Also sehr dringliche persönliche Gründe, für die die Betroffenen jeweils ein sehr hohes Risiko auf sich genommen haben.
Kurzfristiger Aufenthalt heißt nicht dauerhafte Sicherheit
In Fällen von Rückkehr ins Herkunftsland ist bereits jetzt gängige Rechtslage, dass eine Widerrufsprüfung eingeleitet werden kann. PRO ASYL wurden einzelne Fälle bekannt, in denen bei unterstellter oder vermuteter (kurzzeitiger) Rückkehr eine Widerrufsprüfung durch das BAMF eingeleitet wurde. Allerdings kann aus einem kurzfristigen Aufenthalt nicht automatisch geschlossen werden, dass man auch dauerhaft wieder gefahrfrei in Syrien leben kann.
Rückreisen bedeuten nicht gleich Widerruf
Ein Widerruf ist dann möglich, wenn im Einzelfall davon ausgegangen werden kann, dass sich der Betroffene mit der Rückkehr unter den Schutz des Heimatstaates stellt. Tatsächliche Urlaubsreisen oder ein langfristiger Aufenthalt im Herkunftsland können bspw. Indiz dafür sein, dass bei dem Flüchtling keine Furcht vor Verfolgung mehr vorliegt. Eine kurze Rückreise zur Erfüllung einer sittlichen Verpflichtung, wie die Teilnahme an einer Beerdigung oder die Unterstützung eines schwerkranken Familienangehörigen sind regelmäßig kein Grund für einen Widerruf. Davon geht auch das BAMF aus (Quelle), dies ist zudem gängige Rechtsprechung.
Rückreise gefährlich, Gefährdung bei Rückkehr hoch
Eine Rückreise nach Syrien anzutreten, ist an sich schwierig und mit Gefahren verbunden. Der Reiseweg selbst funktioniert kaum legal bzw. nur über teure Umwege. Aufgrund fehlender Direktflüge nach Syrien ist die Einreise oft nur über Transitländer bzw. die Nachbarstaaten, wie etwa der Türkei möglich, für die syrische Flüchtlinge wiederum Visa benötigen. Dazu kommt, dass Grenzübergänge nach Syrien oft geschlossen oder gefährlich für die Einreisenden sind.
Syrischer Geheimdienst unberechenbar
Die Geheimdienste befragen Rückkehrer*innen in der Regel nach der Ankunft am Flughafen oder später am Heimatort. Wer auch nur irgendeinen Verdacht erregt, das Regime abzulehnen, dem drohen willkürliche Inhaftierung, Folter und Verschwinden-Lassen. Dies kann potentiell jede*n Rückkehrer*in betreffen.
Wer auch nur irgendeinen Verdacht erregt, das Regime abzulehnen, dem drohen willkürliche Inhaftierung, Folter und Verschwinden-Lassen.
Das Verhalten der syrischen Sicherheitsbehörden zeichnet sich durch einen hohen Grad der Willkür und entsprechend durch einen Mangel an Vorhersehbarkeit aus. Willkürliche Verdächtigungen und Generalverdacht gegen bestimmte Personengruppen sind zentrale Bestandteile der Praxis des syrischen Sicherheitsapparats. Dabei schreiben die syrischen Geheimdienste und Behörden Zivilist*innen oftmals ohne konkrete Anhaltspunkte und stichhaltige Beweise eine oppositionelle und regimefeindliche Haltung zu.
Willkür pur: Der bloße Verdacht reicht aus
Für Kontrollen durch syrische Sicherheitskräfte gibt es keine festen Regeln. Sicherheitsbeamte haben einen Freibrief, alle möglichen Maßnahmen zu ergreifen, sollten sie eine Person aus irgendeinem Grund verdächtigen. Schutzmechanismen gibt es nicht. Der bloße Verdacht eines Sicherheitsbeamten kann ausreichen, um eine Person zu inhaftieren. Auch Personen, die syrische Grenzpunkte überqueren und nichts mit der Revolution zu tun haben, können festgenommen und inhaftiert werden.
Rückkehrer*innen werden zu Opfern
Allein für den Monat August 2019 berichtete das Syrian Network for Human Rights (SNHR) von 569 dokumentierten willkürlichen Festnahmen durch Sicherheitskräfte des Regimes, 362 der Fälle wurden Opfer des Verschwinden-Lassens. Tatsächlich dürften die Fallzahlen die von SNHR dokumentierten Fälle weit übersteigen. Auch aus Deutschland gibt es Berichte über zwei Syrer, die festgenommen wurden und verschwunden sind.
Willkür hat System
Die vielfach dokumentierten willkürlichen Verhaftungen, die von verschiedenen Geheimdiensten sowie von regimeloyalen Milizen ausgehen, haben in Syrien System – niemand kann und soll sich sicher fühlen. Willkür ist nicht unbeabsichtigt, sondern im Gegenteil ein Merkmal des System Assad, das allen Gegner*innen bewusst gemacht werden soll. Daher ist anzunehmen, dass Rückkehrer*innen auch aufgrund eines in Deutschland durchgeführten Asylverfahrens Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sein können, insbesondere, wenn die Behörden von diesem Verfahren Kenntnis erlangen. Etwaigen Zusicherungen Assads, Rückkehrer*innen nicht zu verfolgen, kann nicht vertraut werden.
Fazit
Eine kurzfristige Rückreise Einzelner bedeutet keineswegs, dass syrische Flüchtlinge ihren Schutzstatus generell zu Unrecht in Anspruch nehmen, noch ist sie gar Indiz dafür, dass Syrien sicherer geworden ist. Syrischen Flüchtlingen wird in Deutschland fast zu 100 % Schutz zugesprochen – und dies zu Recht.
Einen Faktencheck zur Lage in Syrien gibt es auch bei Adopt a Revolution.
(dmo / akr / wj)