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»Die überlangen Verfahrensdauern verlängern sich durch Corona noch weiter«
Im August 2019 zogen wir mit Rechtsanwältin Lena Ronte eine Bilanz zum eingeschränkten Familiennachzug für subsidiär Geschützte. Ein Jahr später läuft das Verfahren weiter schleppend, die Familien warten. Als ob dies nicht genug wäre, machte die Corona-Pandemie den Angehörigen, die bereits ein Einreisevisum hatten, einen Strich durch die Rechnung.
PRO ASYL: Frau Ronte, wir haben fast auf den Tag genau vor einem Jahr über den verschleppten Familiennachzug miteinander gesprochen. Hat sich bei Ihren Mandant*innen seitdem etwas getan?
Lena Ronte: Wir vertreten überwiegend somalische Staatsangehörige. Von allen subsidiär schutzberechtigten somalischen Staatsangehörigen, die wir seit Beginn des Jahres 2018 für Termine zur förmlichen Antragstellung in den deutschen Botschaften registriert haben, ist bisher keine einzige Person eingereist. Einige warten sogar immer noch auf einen Termin zur förmlichen Antragstellung. Letzte Woche hat eine Familie (Mutter mit fünf Kinder, die auf den Nachzug zum Vater und Ehemann wartete) Visa erhalten; deren Verfahren haben wir im November 2014 begonnen. Nur um sich mal klar zu machen, was die Familien aushalten müssen.
Sie hatten vor einem Jahr ein ziemliches Chaos bei der Kontingentlösung für subsidiär Geschützte diagnostiziert. Kann man aus Ihrer Sicht inzwischen von einem geregelten Verfahren sprechen?
Das lässt sich weiterhin nicht beurteilen. Die Botschaften schaffen es gar nicht, so viele Fälle weiterzureichen, dass es tatsächlich auf das Kontingent ankäme. Aus den Aussagen der beteiligten Behörden lässt sich allerdings schließen, dass das Bundesverwaltungsamt (BVA) auch weiterhin keine Strategie hat, wie die Fälle im Falle einer Ausschöpfung des Kontingents zu priorisieren wären. Soweit bekannt, gibt es kein Verfahren, mit dem die Fälle direkt mit Eingang beim BVA nach besonderer Dringlichkeit, Vulnerabilität, Humanität sortiert werden. Kommuniziert wurde, dass es ab 3.000 Fällen beim BVA eine Priorisierung geben soll. Wie diese aber vorgenommen soll, wenn es keine Parameter gibt, nach denen die Fälle beim Eingang geprüft werden, bleibt weiterhin unklar.
»Von allen Betroffenen, die wir seit Beginn des Jahres 2018 für Termine zur förmlichen Antragstellung in den deutschen Botschaften registriert haben, ist bisher keine einzige Person eingereist. «
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) wurde im Verfahren teilweise vorgeschaltet, um den Botschaften zur Hand zu gehen, Anträge entgegenzunehmen und die Verfahren zu beschleunigen. Hat sich das bewährt?
Was das Verfahren bei den Botschaften und die Zusammenarbeit mit IOM angeht, haben sich zumindest in den Ländern, in welchen IOM bereits länger aktiv ist (z.B.: Kenia), Verfahrensabläufe etabliert. In Khartum (Sudan) und Addis Abeba (Äthiopien) erweist sich die Arbeit mit IOM als sehr hinderlich und wenig produktiv. IOM stellt hier eine weitere Hürde dar, die von den Antragsteller*innen überwunden werden muss.
Erstaunlich ist, dass die Vorprüfungen durch IOM keineswegs dazu geführt haben, dass die Verfahren beschleunigt werden. Sie liegen häufig nach Weitergabe an die Botschaft (die seitens IOM erst dann erfolgt, wenn alle notwenigen Dokumente und Angaben vorliegen) viele Monate (bis zu 10 oder länger) bei der Botschaft, bevor sie dann endlich an die Ausländerbehörden abgegeben werden. Wir hatten gehofft, dass die Vorprüfung durch IOM, die teilweise selbst 6–12 Monate dauert, die Verfahren beschleunigt. Letztlich führt sie aber zu einer weiteren Verzögerung, da eine doppelte Prüfung erfolgt.
Wie steht es insgesamt um die Dokumentenbeschaffung in ostafrikanischen Ländern? Dokumente beibringen bzw. anerkannt bekommen war für Angehörige über Jahre ein bekanntes Problem.
Leider rücken die Botschaften in Ostafrika von der teilweise absurden Praxis, Dokumente zu verlangen, die es entweder so gar nicht geben kann (z.B. zuverlässige Heirats- und Geburtsurkunden bei somalischen Staatsangehörigen), die schlicht vollkommen unüblich sind (z.B. staatliche Eheregistrierungen aus Eritrea) oder deren Beschaffung unzumutbar ist (politisch Verfolgte werden gezwungen sich an ihre Heimatbehörden zu wenden) nicht ab.
Wie hat sich aus Ihrer Sicht die Corona-Pandemie bei Familiennachzugsfällen niedergeschlagen?
Die ohnehin bereits überlangen Verfahrensdauern von über zwei Jahren werden sich durch Corona noch weiter verlängern. Mit jeder Verzögerung gehen für die Betroffenen schwere Nachteile einher: Die Familientrennung wird aufrechterhalten, das Kindeswohl weiter verletzt. Nicht zuletzt sind mit der Verzögerung auch rechtliche Nachteile verbunden, beispielsweise durch die Unmöglichkeit, rechtzeitig förmliche Anträge zu stellen oder durch den Eintritt der Volljährigkeit. Das Auswärtige Amt (AA) verweist zwar darauf, dass man ausnahmsweise auch einen schriftlichen Antrag stellen darf. Für viele, die nicht anwaltlich vertreten sind, wird das aber gar nicht realisierbar sein.
Was geschieht mit den Fällen, die bereits ein Einreisevisum hatten, aber aufgrund von Corona nicht einreisen konnten?
Für Personen, deren Visum ausgestellt wurde, aber wegen Corona nicht genutzt werden konnte, haben die Auslandsvertretungen Fristen für eine erneute Visierung (Verlängerung) der Visa vorgesehen. Bei den meisten Auslandsvertretungen hatten die Betroffenen ab Bekanntgabe dieser Einschränkungen zunächst nur einen Monat Zeit.
»Es erscheint geradezu so, als seien für viele andere Sachverhalte großzügige »Corona-Regelungen« getroffen worden – beim Familiennachzug leider nicht.«
Inzwischen hat die Bundesregierung erst nach großem Protest vieler Verbände und Organisationen den Fristablauf für die Neuvisierung pauschal auf den 31.12.2020 verlegt. Wird der Verlängerungsantrag nach Ablauf der Frist gestellt, müssen die Betroffenen das Verfahren komplett von vorne beginnen, was bei den aktuellen Verfahrensdauern vollkommen unverhältnismäßig erscheint. Wohlgemerkt, es handelt sich um Betroffene, die eine lange Verfahrensdauer hinter sich hatten und ausweislich der abgelaufenen Familiennachzugsvisa bereits einen Anspruch auf Einreise besaßen.
Es erscheint geradezu so, als seien für viele andere Sachverhalte großzügige »Corona-Regelungen« getroffen worden – beim Familiennachzug leider nicht.
Danke für dieses Gespräch, Frau Ronte.
(akr)
Hinweis: Das Gespräch wurde bereits im August geführt, zwischenzeitlich wurden einige Fakten aktualisiert.