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Türkei: Kein Schutz für die Menschenrechte und ihre Verteidiger*innen
Im sogenannten Büyükada-Prozess wurden vier der elf angeklagten Menschenrechtler*innen zu Haftstrafen verurteilt. Der Prozess belegt erneut, dass Rechtstaatlichkeit keine Kategorie in Erdoğans Türkei mehr ist. Jüngste Gesetzesvorhaben drohen den Demokratieabbau weiter voranzutreiben.
Am 3. Juli wurden vier der elf angeklagten Menschenrechtler*innen von einem Istanbuler Gericht zu Haftstrafen verurteilt. Der Ehrenvorsitzende von Amnesty International Türkei, Taner Kılıç, wurde der Mitgliedschaft in der »Gülen-Terrororganisation« schuldig gesprochen und zu mehr als sechs Jahren Haft verurteilt. Die frühere Geschäftsführerin von Amnesty International Türkei, İdil Eser, sowie Özlem Dalkıran und Günal Kurşun, Mitglieder von Amnesty International Türkei, wurden der Unterstützung der Terrororganisation für schuldig befunden und zu über zwei Jahren Haft verurteilt.
Sieben weitere Angeklagte, darunter der deutsche Peter Steudtner, wurden nach dem drei Jahre andauernden Verfahren freigesprochen. 2017 wurde Steudtner gemeinsam mit neun der elf Menschenrechtler*innen im Anschluss an ein Seminar auf der, Istanbul vorgelagerten, Insel Büyükada festgenommen.
Das für den gescheiterten Putschversuch 2016 verantwortlich gemachte Netzwerk des Predigers Abdullah Gülen wird in der Türkei als Terrororganisation eingestuft und verfolgt. Im Rahmen von sogenannten »Säuberungsaktionen«, die unmittelbar nach dem gescheiterten Putschversuch von Staatspräsident Erdogan eingeleitet wurden, wurden bis März 2019 über 500.000 Ermittlungsverfahren aufgrund der vermeidlichen Nähe zum Gülen-Netzwerk oder zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) eingeleitet. Fast 20.000 Menschen wurden in der Folge rechtskräftig verurteilt. Etwa 150.000 Menschen wurden aus dem Staatsdienst entlassen. Etliche können das Land aufgrund einer Ausreisesperre nicht verlassen.
Terrorismusverdacht als Vorwand
»Die Entscheidung des Gerichts ist erschütternd. Während zwölf Gerichtsverhandlungen wurde jede einzelne Behauptung umfassend als grundlose Verunglimpfung entlarvt«, so Andrew Gardner, Researcher bei Amnesty International zur Türkei. »Das Urteil des Gerichts entzieht sich jedweder Logik und entlarvt diesen dreijährigen Prozess als den politisch motivierten Versuch unabhängige Stimmen zum Schweigen zu bringen, der er vom ersten Tag an war.«
Nach Prozessen gegen etliche Journalist*innen, Politiker*innen, Anwält*innen und Wissenschaftler*innen legt auch der Büyükada-Prozess offen, dass Terrorismusvorwürfe in der Türkei gezielt gegen Oppositionelle, Kritiker*innen und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft eingesetzt werden. Für den türkischen Staatsapparat ist es nebensächlich, ob es sich um tatsächliche Verbindungen und terroristische Aktivitäten handelt oder diese lediglich unterstellt werden. Die Justiz ist in nicht frei von politischer Einflussnahme.
»Wenn einer der elf angeklagten Menschenrechtsverteidiger*innen für schuldig gesprochen wird, sendet die Türkei die Botschaft aus, dass es niemandem uneingeschränkt erlaubt ist, für die Menschenrechte in diesem Land einzutreten«, sagte die UN-Sonderberichterstatterin zur Lage von Menschenrechtsverteidiger*innen Mary Lawlor noch vor der Verurteilung.
»Wenn eine*r der Menschenrechtsverteidiger*innen für schuldig gesprochen wird, sendet die Türkei die Botschaft aus, dass es niemandem uneingeschränkt erlaubt ist, für die Menschenrechte in diesem Land einzutreten.«
Ein Schlag gegen Menschenrechtler*innen ist auch ein Schlag gegen die, die ihre Unterstützung brauchen
Das Urteil gegen Vertreter*innen der Menschenrechtsorganisation Amnesty International ist ein klares Signal an alle NGOs und Beobachtungsstellen in der Türkei, die sich zivilgesellschaftlich einsetzen. Aus Angst vor Repressionen ist absehbar, dass sich die Selbstzensur ausweiten wird, um nicht ins Visier staatlicher Verfolgung zu geraten.
Menschen, etwa Geflüchtete, die in der Türkei auf die Unterstützung durch NGOs und Aktivist*innen angewiesen sind, sind so zunehmend auf sich allein gestellt und der staatlichen Willkür ausgeliefert.
Nächster Angriff auf die Anwaltskammern
Besorgt zeigte sich die Menschenrechtskommissarin des Europarats angesichts einer jüngst eingebrachten Gesetzesinitiative, die Anwaltskammern einzuengen droht. »Es ist sehr besorgniserregend, dass die vorgeschlagenen Änderungen eindeutig das Potenzial haben, die Anwaltskammern von Istanbul, Ankara und Izmir zu schwächen, die schon immer eine entscheidende Rolle beim Schutz der Menschenrechte in der Türkei gespielt haben(…)«, so Dunja Mijatović.
Die Anwaltskammern haben eine wichtige Funktion im türkischen Justizsystem. Zu ihren Aufgaben gehört der Schutz der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte. Sie dokumentierten und berichteten etwa nach dem gescheiterten Putschversuch von 2016 Menschenrechtsverletzungen wie Folter und Entführungen. Über die Anwaltskammern ist auch das Rechtshilfesystem der Türkei organisiert. In den wenigen Fällen, in denen etwa Asylsuchende rechtliche Unterstützung in ihrem Verfahren erhalten, sind meist Anwaltskammern involviert. Sie sind mit dem UNHCR an Pilotprojekten beteiligt, um den Zugang zu Rechtshilfe auszuweiten. In dieser Funktion klagen Anwält*innen immer wieder Rechtschutz für Schutzsuchende ein und machen auf Rechtsverstöße aufmerksam.
Wenn man nun Anwälte und ihre Kammern zum Schweigen bringt, dann werden auch verwundbare Gruppen zum Schweigen gebracht.
Derzeit gibt es in jeder Provinz einen Berufsverband, eine Anwaltskammer, in der die Mitgliedschaft verpflichtend ist. Mit der Gesetzesänderung soll es möglich werden, dass sich zusätzliche regierungsnahe Kammern formieren. Statt dass dies zu »mehr Demokratie und Pluralismus« führt, ist absehbar, dass damit die Anwaltschaft in zwei Lager geteilt wird: jene auf Linie der Regierung Erdoğans und jene, die sich an rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien orientieren und der Regierung kritisch gegenüberstehen. Anwält*innen werden gezwungen sein, sich für eine Seite zu entscheiden. Es ist absehbar, dass kritische Anwaltskammern an Einfluss verlieren.
Die Spaltung könnte kritische Anwält*innen weiter ins Visier staatlicher Verfolgung bringen. Opfer von unrechtmäßiger Gewalt, Folter und Willkür können dadurch wichtige Mitstreiter*innen verlieren. »Wenn man nun Anwälte und ihre Kammern zum Schweigen bringt, dann werden auch diese verwundbaren Gruppen zum Schweigen gebracht«, fasst eine Anwältin die Auswirkungen des Gesetzes zusammen.
Schon länger ein Dorn im Auge der Regierung
Erst im April 2020 geriet die Anwaltskammer Ankara in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit, als sie Strafanzeige gegen den Präsidenten der türkischen Religionsbehörde Diyanet, Ali Erbaş, einreichte. Dieser hatte zuvor in seiner Predigt zum Fastenmonat Ramadan gegen Homosexualität gewettert und diese als ursächlich für gesellschaftlichen Verfall und Krankheiten verunglimpft. Anschließende Ermittlungen eröffnete die Staatsanwaltschaft jedoch gegen die Anwaltskammer selbst. Der Vorwurf: »Verletzung der religiösen Gefühle des Volkes«.
Im Zuge der Bekämpfung der Corona-Pandemie gerieten auch Ärztekammern unter Druck. Nachdem sich Mediziner*innen verschiedener Ärztekammern kritisch bezüglich der zögerlichen Corona-Maßnahmen des Regimes Erdoğans äußerten, wurden Verfahren eröffnet, den Mediziner*innen gezielte Desinformation vorgeworfen und einzelne Reiseverbote erteilt. »Die strafrechtlichen Ermittlungen der türkischen Behörden gegen Beamte der Ärztekammer sind nicht nur ein empörender Angriff auf die Meinungsfreiheit, sondern behindern auch den Kampf gegen die tödliche COVID-19-Pandemie«, kommentiert Hugh Williamson, Human Rights Watch.
»Ich komme nicht umhin, eine Verbindung zwischen diesen Vorschlägen und der ungerechtfertigten Kritik herzustellen, die in den letzten Monaten von herrschenden Politikern an Berufsverbänden wie Anwaltskammern und Ärztekammern geübt wurde. Dazu gehörte die Kennzeichnung legitimer Aktivitäten dieser Verbände, die versuchen, die Menschenrechte zu verteidigen, beispielsweise angesichts von Hassreden gegen LGBTI-Personen, als „Politisierung“ oder sogar „Terrorismus“«, so Dunja Mijatović in ihrem Statement.
Die Türkei ist nicht sicher!
Von rechtsstaatlichen Standards ist in der Türkei vier Jahre nach dem EU-Türkei-Deal und dem gescheiterten Putschversuch nichts übrig. Die Gefährdungslage für türkische Staatsangehörige hat sich rapide zugespitzt. 2019 ist die Türkei unter den zehn häufigsten Herkunftsländern der Asylantragsstellenden in der EU, Tendenz steigend. In Deutschland belegt die Türkei 2019 den dritten Platz der Hauptherkunftsländer.
Von rechtsstaatlichen Standards ist in der Türkei vier Jahre nach dem EU ‑Türkei-Deal und dem gescheiterten Putschversuch nichts übrig.
Auch für Schutzsuchende in der Türkei trug der staatliche Umbau nach dem gescheiterten Putschversuch zu einer Verschlechterung des generell brüchigen Schutzsystems bei. Das Prinzip der Nicht-Zurückweisung wird durch Abschiebungen in die Kriegsländer Syrien und Afghanistan weiterhin regelmäßig gebrochen.
Statt Staatspräsident Erdogan als Partner zu hofieren, müssen sich Bundesregierung und EU klar mit der türkischen Zivilgesellschaft solidarisieren und für ihren Schutz eintreten.