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Der Europäische Gerichtshof (EuGH) Foto: European Union, 2017

Als zu Beginn der Pandemie keine Rückführungen in andere EU-Länder stattfinden konnten, ersann das BAMF einen Trick. Indem sie die sechsmonatige Überstellungsfrist aussetzten, wollten sie sich später Zeit für die Abschiebung erkaufen. Doch das war europarechtswidrig, wie der EuGH nun am 22.9 in einem von PRO ASYL unterstützten Verfahren entschied.

Am 18. März 2020 beschloss das Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF), auf­grund der Coro­na-Pan­de­mie kei­ne Asyl­su­chen­de mehr in ande­re EU-Staa­ten abzu­schie­ben (soge­nann­te Dub­lin-Über­stel­lun­gen). Denn in Euro­pa wüte­te eine bis dahin noch kaum bekann­te Krank­heit. Haupt­ziel­län­der von Dub­lin-Abschie­bun­gen wie Ita­li­en waren im Aus­nah­me­zu­stand – die Bil­der von Sär­gen auf Mili­tär­fahr­zeu­gen in ita­lie­ni­schen Städ­ten präg­ten die Zeit.

Wenn eine Über­stel­lung nach der Dub­lin-Ver­ord­nung, die fest­legt wel­ches EU-Land für einen Asyl­an­trag zustän­dig ist, nicht inner­halb von sechs Mona­ten durch­ge­führt wird, dann wird eigent­lich das EU-Land zustän­dig, indem die schutz­su­chen­de Per­son auf­häl­tig ist. Das BAMF woll­te aber ver­hin­dern, dass durch die­sen Frist­ab­lauf Deutsch­land für die Asyl­ver­fah­ren zustän­dig wird, und schick­te inmit­ten des ers­ten Coro­na-Lock­downs in Deutsch­land über 21.000 Asyl­su­chen­den einen Brief. Ein ent­spre­chen­des Schrei­ben ging auch an die Präsident*innen der Ver­wal­tungs­ge­rich­te. Dar­in hieß es, dass ihre Dub­lin-Über­stel­lung aus­ge­setzt und die Frist damit unter­bro­chen sei. Die­ses Vor­ge­hen stütz­te das Bun­des­amt auf die Rechts­grund­la­ge des § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art 27 Abs. 4 Dublin-III-VO.

Das Vor­ge­hen des BAMF höhlt das Recht auf zügi­ge Durch­füh­rung eines Asyl­ver­fah­rens aus, in dem es den Zugang zu einem Asyl­ver­fah­ren ver­zö­gert und dem­entspre­chend nicht für Schutz des Betrof­fe­nen sorgt.

Was harm­los klin­gen mag hat für die Betrof­fe­nen, die oft­mals auf­grund der mise­ra­blen Lebens­um­stän­de für Geflüch­te­te in ande­ren EU-Län­dern wie Grie­chen­land oder Ita­li­en nach Deutsch­land gekom­men sind, eine dra­ma­ti­sche Kon­se­quenz: Nach der Unter­bre­chung wür­de die Frist von sechs Mona­ten neu begin­nen. Jemand, der dann zum Bei­spiel schon seit fünf Mona­te in Deutsch­land lebt, müss­te dann erneut sechs Mona­te um sei­ne Zukunft ban­gen. In die­ser gesam­ten Zeit wird der Asyl­an­trag nicht geprüft. So wird für die Betrof­fe­nen der Zugang zu Schutz verzögert.

Die Dub­lin-Frist ist von grund­sätz­li­cher Bedeu­tung. Sie ist Aus­prä­gung des Ziels der Dub­lin-Ver­ord­nung, für jede*n Asylsuchende*n einen zustän­di­gen Mit­glied­staat zu defi­nie­ren, sodass garan­tiert ist, dass in einem EU-Staat ein Asyl­ver­fah­ren statt­fin­det und inhalt­lich die Asyl­an­trä­ge geprüft wer­den. So soll erreicht wer­den, dass Schutz für Ver­folg­te gewähr­leis­tet wird.  Das Vor­ge­hen des BAMF höhlt aller­dings genau die­ses Recht auf zügi­ge Durch­füh­rung eines Asyl­ver­fah­rens aus, in dem es den Zugang zu einem Asyl­ver­fah­ren ver­zö­gert und infol­ge­des­sen nicht für Schutz des Betrof­fe­nen sorgt.

PRO ASYL hielt das von Anfang an für rechts­wid­rig. Denn die Dub­lin-Ver­ord­nung sieht eine sol­che Aus­set­zung nur unter stren­gen Vor­ga­ben vor, wenn es um die Ermög­li­chung des Rechts­schut­zes der betrof­fe­nen Per­son geht. Gemein­sam mit Equal Rights Bey­ond Bor­ders ver­öf­fent­lich­te PRO ASYL schon im April 2020 ent­spre­chen­de Pra­xis­hin­wei­se, im Okto­ber 2020 folg­ten dann mit Flucht­punkt Ham­burg gemein­sa­me Mus­ter­schrift­sät­ze, um Betrof­fe­ne und ihre Anwält*innen dabei zu unter­stüt­zen, sich vor Gericht gegen die Aus­set­zung zu weh­ren. Auch eines der mit am 22. Sep­tem­ber 2022 Urteil abge­schlos­se­nen Ver­fah­ren vor dem Euro­päi­schen Gerichts­hof  (EuGH) wur­de von PRO ASYL unterstützt.

EuGH bestätigt: Bundesamt handelt rechtswidrig

Am 26. Janu­ar 2021 leg­te das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt dem EuGH im Rah­men eines Vor­ab­ent­schei­dungs­ver­fah­rens drei Rechts­fra­gen vor. Zusam­men­ge­fasst geht es ins­be­son­de­re um fol­gen­de Fra­ge: Kann ein Mit­glied­staat auf­grund von Schwie­rig­kei­ten bei der recht­zei­ti­gen Über­stel­lung wegen der Coro­na-Pan­de­mie die Dub­lin-Frist unterbrechen?

Um das zu beur­tei­len, haben die Richter*innen ins­be­son­de­re die Sys­te­ma­tik der Dub­lin-Ver­ord­nung ana­ly­siert. Wenn eine asyl­su­chen­de Per­son sich gegen die Dub­lin-Ent­schei­dung gericht­lich wehrt, sieht die Dub­lin-Ver­ord­nung im Arti­kel 27 vor, dass die Mit­glied­staa­ten ent­we­der auto­ma­ti­sche auf­schie­ben­de Wir­kung der Kla­ge vor­se­hen kön­nen – was bedeu­tet, dass bis zur Ent­schei­dung die Rück­füh­rung nicht durch­ge­führt wer­den darf. Die Mit­glied­staa­ten kön­nen aber auch dar­auf ver­zich­ten. Dann muss die Per­son die Mög­lich­keit haben, bei Gericht die auf­schie­ben­de Wir­kung zu bean­tra­gen. Wenn die Rück­füh­rung aus­ge­setzt ist, läuft auch die Über­stel­lungs­frist nicht. Die Dub­lin-Ver­ord­nung ermög­licht es den natio­na­len Behör­den auch »von Amts wegen tätig zu wer­den, um die Durch­füh­rung der Über­stel­lungs­ent­schei­dung bis zum Abschluss des Rechts­be­helfs oder der Über­prü­fung aus­zu­set­zen« (Art. 27 Abs. 4 Dub­lin-VO). Hier­auf hat­te sich das BAMF in sei­nem Schrei­ben über die Frist­aus­set­zung wegen der Unmög­lich­keit der Über­stel­lung auf­grund der Coro­na-Pan­de­mie gestützt.

Doch die­se Ent­schei­dung war eben nicht mit dem Rechts­schutz der betrof­fe­nen Per­son begrün­det. Wür­de man den Art. 27 Abs. 4 Dub­lin-VO so aus­le­gen, dass eine wie vom BAMF vor­ge­nom­me­ne Aus­set­zung dar­un­ter fal­len wür­de, wür­de das »den zustän­di­gen Behör­den […] gestat­ten, die Durch­füh­rung von Über­stel­lungs­ent­schei­dun­gen aus einem Grund aus­zu­set­zen, der nicht in unmit­tel­ba­rem Zusam­men­hang mit dem gericht­li­chen Rechts­schutz der betrof­fe­nen Per­son steht, [bräch­te die­se Aus­le­gung] die Gefahr mit sich, der in Art. 29 Abs. 1 der Ver­ord­nung genann­ten Über­stel­lungs­frist jeg­li­che Wirk­sam­keit zu neh­men« (Rn. 59).

Ent­spre­chend hält der EuGH fest:

»Folg­lich ist davon aus­zu­ge­hen, dass eine Aus­set­zung der Durch­füh­rung einer Über­stel­lungs­ent­schei­dung von den zustän­di­gen Behör­den im Ein­klang mit Art. 27 Abs. 4 der Dub­lin III Ver­ord­nung nur dann ange­ord­net wer­den darf, wenn die im Zusam­men­hang mit die­ser Durch­füh­rung gege­be­nen Umstän­de erken­nen las­sen, dass der betrof­fe­nen Per­son, um ihr einen wirk­sa­men gericht­li­chen Rechts­schutz zu gewähr­leis­ten, zu gestat­ten ist, sich bis zum Erlass einer abschlie­ßen­den Ent­schei­dung über den Rechts­be­helf wei­ter­hin im Hoheits­ge­biet des Mit­glied­staats auf­zu­hal­ten, der die Über­stel­lungs­ent­schei­dung getrof­fen hat« (Rn. 61).

Zudem hat der euro­päi­sche Gesetz­ge­ber für zwei kon­kre­te Situa­tio­nen, in denen die Über­stel­lung zwi­schen­zeit­lich unmög­lich ist, Ver­län­ge­run­gen der Frist vor­ge­se­hen (Art. 29 Abs. 2. der Dub­lin III Ver­ord­nung). Wenn die zu über­stel­len­de Per­son inhaf­tiert ist, kann die Über­stel­lungs­frist auf höchs­tens ein Jahr ver­län­gert wer­den. Wenn die zu über­stel­len­de Per­son flüch­tig ist, die Behör­den also nicht wis­sen, wo sich die Per­son  auf­hält, kann die Frist auf 18 Mona­te ver­län­gert wer­den. Dar­aus zieht der EuGH den Schluss, dass die­ser »Ver­län­ge­rung Aus­nah­me­cha­rak­ter zukommt und sie somit eng aus­zu­le­gen ist, was ihre ent­spre­chen­de Anwen­dung auf ande­re Fäl­le der Unmög­lich­keit der Durch­füh­rung der Über­stel­lungs­ent­schei­dung aus­schließt« (Rn. 68).

Abschlie­ßend resü­miert der EuGH, dass die Über­stel­lungs­fris­ten durch die Aus­set­zung des BAMF, die mit der Unmög­lich­keit der Über­stel­lun­gen auf­grund der Covid-19-Pan­de­mie begrün­det wur­den, nicht wirk­sam unter­bro­chen wur­den (Rn. 71).

Urteil auch über Pandemie hinaus bedeutsam

Das Urteil hat aller­dings auch über die Pan­de­mie-Situa­ti­on hin­aus Rele­vanz. Dies wur­de beson­ders in den vor dem Urteil ver­öf­fent­lich­ten Schluss­an­trä­gen des Gene­ral­an­walts Pika­mäe deut­lich. In die­sen hebt er die »Soli­da­ri­tät der Mit­glieds­staa­ten« und das Ziel der »gerech­ten Auf­tei­lung der Ver­ant­wort­lich­kei­ten« her­vor (Rn. 93). Ent­spre­chend hält der Gene­ral­an­walt in einer schwie­ri­gen Situa­ti­on wie einer Pan­de­mie es für ange­mes­sen, dass sich Mit­glied­staa­ten wie Deutsch­land ande­ren gegen­über soli­da­risch zei­gen und per Selbst­ein­tritt die Asyl­ver­fah­ren über­neh­men – anstatt zu ver­su­chen, die­se Ver­ant­wor­tung mög­lichst wie­der loszuwerden.

Eine ähn­li­che Situa­ti­on gibt es bei  der Auf­nah­me vie­ler Kriegs­flücht­lin­ge aus der Ukrai­ne durch Nach­bar­län­der Deutsch­lands, wie Polen, Rumä­ni­en, Tsche­chi­en und die Slo­wa­kei seit Ende Febru­ar 2022. Auf­grund der hohen Zahl der Geflüch­te­ten und der damit ver­bun­de­nen Fol­gen für das Auf­nah­me­sys­tem stimm­ten oder stim­men sie Dub­lin­über­stel­lun­gen nicht zu  Anstatt abzu­war­ten und zu ver­su­chen, auch in die­ser Kriegs­si­tua­ti­on noch zu über­stel­len, könn­te Deutsch­land  sich  pro­ak­tiv soli­da­risch zei­gen und mit der Nut­zung der Mög­lich­keit zum Selbst­ein­tritt nach Art. 17 Abs. 1 Dub­lin-VO aktiv ins Asyl­ver­fah­ren ein­tre­ten und somit die­se Län­der unterstützen.

(wj, nk)