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Das war rechtswidrig! EuGH entscheidet zur Aussetzung der Dublin-Überstellungsfrist
Als zu Beginn der Pandemie keine Rückführungen in andere EU-Länder stattfinden konnten, ersann das BAMF einen Trick. Indem sie die sechsmonatige Überstellungsfrist aussetzten, wollten sie sich später Zeit für die Abschiebung erkaufen. Doch das war europarechtswidrig, wie der EuGH nun am 22.9 in einem von PRO ASYL unterstützten Verfahren entschied.
Am 18. März 2020 beschloss das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), aufgrund der Corona-Pandemie keine Asylsuchende mehr in andere EU-Staaten abzuschieben (sogenannte Dublin-Überstellungen). Denn in Europa wütete eine bis dahin noch kaum bekannte Krankheit. Hauptzielländer von Dublin-Abschiebungen wie Italien waren im Ausnahmezustand – die Bilder von Särgen auf Militärfahrzeugen in italienischen Städten prägten die Zeit.
Wenn eine Überstellung nach der Dublin-Verordnung, die festlegt welches EU-Land für einen Asylantrag zuständig ist, nicht innerhalb von sechs Monaten durchgeführt wird, dann wird eigentlich das EU-Land zuständig, indem die schutzsuchende Person aufhältig ist. Das BAMF wollte aber verhindern, dass durch diesen Fristablauf Deutschland für die Asylverfahren zuständig wird, und schickte inmitten des ersten Corona-Lockdowns in Deutschland über 21.000 Asylsuchenden einen Brief. Ein entsprechendes Schreiben ging auch an die Präsident*innen der Verwaltungsgerichte. Darin hieß es, dass ihre Dublin-Überstellung ausgesetzt und die Frist damit unterbrochen sei. Dieses Vorgehen stützte das Bundesamt auf die Rechtsgrundlage des § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art 27 Abs. 4 Dublin-III-VO.
Das Vorgehen des BAMF höhlt das Recht auf zügige Durchführung eines Asylverfahrens aus, in dem es den Zugang zu einem Asylverfahren verzögert und dementsprechend nicht für Schutz des Betroffenen sorgt.
Was harmlos klingen mag hat für die Betroffenen, die oftmals aufgrund der miserablen Lebensumstände für Geflüchtete in anderen EU-Ländern wie Griechenland oder Italien nach Deutschland gekommen sind, eine dramatische Konsequenz: Nach der Unterbrechung würde die Frist von sechs Monaten neu beginnen. Jemand, der dann zum Beispiel schon seit fünf Monate in Deutschland lebt, müsste dann erneut sechs Monate um seine Zukunft bangen. In dieser gesamten Zeit wird der Asylantrag nicht geprüft. So wird für die Betroffenen der Zugang zu Schutz verzögert.
Die Dublin-Frist ist von grundsätzlicher Bedeutung. Sie ist Ausprägung des Ziels der Dublin-Verordnung, für jede*n Asylsuchende*n einen zuständigen Mitgliedstaat zu definieren, sodass garantiert ist, dass in einem EU-Staat ein Asylverfahren stattfindet und inhaltlich die Asylanträge geprüft werden. So soll erreicht werden, dass Schutz für Verfolgte gewährleistet wird. Das Vorgehen des BAMF höhlt allerdings genau dieses Recht auf zügige Durchführung eines Asylverfahrens aus, in dem es den Zugang zu einem Asylverfahren verzögert und infolgedessen nicht für Schutz des Betroffenen sorgt.
PRO ASYL hielt das von Anfang an für rechtswidrig. Denn die Dublin-Verordnung sieht eine solche Aussetzung nur unter strengen Vorgaben vor, wenn es um die Ermöglichung des Rechtsschutzes der betroffenen Person geht. Gemeinsam mit Equal Rights Beyond Borders veröffentlichte PRO ASYL schon im April 2020 entsprechende Praxishinweise, im Oktober 2020 folgten dann mit Fluchtpunkt Hamburg gemeinsame Musterschriftsätze, um Betroffene und ihre Anwält*innen dabei zu unterstützen, sich vor Gericht gegen die Aussetzung zu wehren. Auch eines der mit am 22. September 2022 Urteil abgeschlossenen Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) wurde von PRO ASYL unterstützt.
EuGH bestätigt: Bundesamt handelt rechtswidrig
Am 26. Januar 2021 legte das Bundesverwaltungsgericht dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens drei Rechtsfragen vor. Zusammengefasst geht es insbesondere um folgende Frage: Kann ein Mitgliedstaat aufgrund von Schwierigkeiten bei der rechtzeitigen Überstellung wegen der Corona-Pandemie die Dublin-Frist unterbrechen?
Um das zu beurteilen, haben die Richter*innen insbesondere die Systematik der Dublin-Verordnung analysiert. Wenn eine asylsuchende Person sich gegen die Dublin-Entscheidung gerichtlich wehrt, sieht die Dublin-Verordnung im Artikel 27 vor, dass die Mitgliedstaaten entweder automatische aufschiebende Wirkung der Klage vorsehen können – was bedeutet, dass bis zur Entscheidung die Rückführung nicht durchgeführt werden darf. Die Mitgliedstaaten können aber auch darauf verzichten. Dann muss die Person die Möglichkeit haben, bei Gericht die aufschiebende Wirkung zu beantragen. Wenn die Rückführung ausgesetzt ist, läuft auch die Überstellungsfrist nicht. Die Dublin-Verordnung ermöglicht es den nationalen Behörden auch »von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen« (Art. 27 Abs. 4 Dublin-VO). Hierauf hatte sich das BAMF in seinem Schreiben über die Fristaussetzung wegen der Unmöglichkeit der Überstellung aufgrund der Corona-Pandemie gestützt.
Doch diese Entscheidung war eben nicht mit dem Rechtsschutz der betroffenen Person begründet. Würde man den Art. 27 Abs. 4 Dublin-VO so auslegen, dass eine wie vom BAMF vorgenommene Aussetzung darunter fallen würde, würde das »den zuständigen Behörden […] gestatten, die Durchführung von Überstellungsentscheidungen aus einem Grund auszusetzen, der nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem gerichtlichen Rechtsschutz der betroffenen Person steht, [brächte diese Auslegung] die Gefahr mit sich, der in Art. 29 Abs. 1 der Verordnung genannten Überstellungsfrist jegliche Wirksamkeit zu nehmen« (Rn. 59).
Entsprechend hält der EuGH fest:
»Folglich ist davon auszugehen, dass eine Aussetzung der Durchführung einer Überstellungsentscheidung von den zuständigen Behörden im Einklang mit Art. 27 Abs. 4 der Dublin III Verordnung nur dann angeordnet werden darf, wenn die im Zusammenhang mit dieser Durchführung gegebenen Umstände erkennen lassen, dass der betroffenen Person, um ihr einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten, zu gestatten ist, sich bis zum Erlass einer abschließenden Entscheidung über den Rechtsbehelf weiterhin im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats aufzuhalten, der die Überstellungsentscheidung getroffen hat« (Rn. 61).
Zudem hat der europäische Gesetzgeber für zwei konkrete Situationen, in denen die Überstellung zwischenzeitlich unmöglich ist, Verlängerungen der Frist vorgesehen (Art. 29 Abs. 2. der Dublin III Verordnung). Wenn die zu überstellende Person inhaftiert ist, kann die Überstellungsfrist auf höchstens ein Jahr verlängert werden. Wenn die zu überstellende Person flüchtig ist, die Behörden also nicht wissen, wo sich die Person aufhält, kann die Frist auf 18 Monate verlängert werden. Daraus zieht der EuGH den Schluss, dass dieser »Verlängerung Ausnahmecharakter zukommt und sie somit eng auszulegen ist, was ihre entsprechende Anwendung auf andere Fälle der Unmöglichkeit der Durchführung der Überstellungsentscheidung ausschließt« (Rn. 68).
Abschließend resümiert der EuGH, dass die Überstellungsfristen durch die Aussetzung des BAMF, die mit der Unmöglichkeit der Überstellungen aufgrund der Covid-19-Pandemie begründet wurden, nicht wirksam unterbrochen wurden (Rn. 71).
Urteil auch über Pandemie hinaus bedeutsam
Das Urteil hat allerdings auch über die Pandemie-Situation hinaus Relevanz. Dies wurde besonders in den vor dem Urteil veröffentlichten Schlussanträgen des Generalanwalts Pikamäe deutlich. In diesen hebt er die »Solidarität der Mitgliedsstaaten« und das Ziel der »gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten« hervor (Rn. 93). Entsprechend hält der Generalanwalt in einer schwierigen Situation wie einer Pandemie es für angemessen, dass sich Mitgliedstaaten wie Deutschland anderen gegenüber solidarisch zeigen und per Selbsteintritt die Asylverfahren übernehmen – anstatt zu versuchen, diese Verantwortung möglichst wieder loszuwerden.
Eine ähnliche Situation gibt es bei der Aufnahme vieler Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine durch Nachbarländer Deutschlands, wie Polen, Rumänien, Tschechien und die Slowakei seit Ende Februar 2022. Aufgrund der hohen Zahl der Geflüchteten und der damit verbundenen Folgen für das Aufnahmesystem stimmten oder stimmen sie Dublinüberstellungen nicht zu Anstatt abzuwarten und zu versuchen, auch in dieser Kriegssituation noch zu überstellen, könnte Deutschland sich proaktiv solidarisch zeigen und mit der Nutzung der Möglichkeit zum Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-VO aktiv ins Asylverfahren eintreten und somit diese Länder unterstützen.
(wj, nk)