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Gute Nachrichten: EuGH stärkt das Recht auf Familiennachzug zu anerkannten Flüchtlingen
In zwei wichtigen Urteilen hat der EuGH die Rechte von Kindern und Eltern beim Familiennachzug gestärkt. Das Gericht legte fest, dass Deutschland Eltern oder Kindern den Nachzug nicht deshalb verwehren darf, weil die Kinder während langer Verfahren volljährig wurden. Entscheidend sei, dass das Kind bei Asylantragstellung minderjährig war.
»Mir hat was gefehlt. Ich habe mich sehr, sehr, sehr traurig gefühlt – es war sehr schwer für mich«, so beschreibt Omid aus Afghanistan im PRO ASYL-Podcast seine Situation. Gemeinsam mit seiner Familie flieht der damals 12-jährige im Jahr 2015 aus Afghanistan. Bei der Überfahrt nach Griechenland wird die Familie getrennt. Nur Omid schafft es nach Europa und wird in Deutschland als Flüchtling anerkannt. Heute ist er 19 Jahre alt – und seine mittlerweile alleinerziehende Mutter und seine minderjährigen Geschwister konnten immer noch nicht zu ihm ziehen, obwohl er als anerkannter Flüchtling einen Anspruch auf Familiennachzug hat. Im Visumsverfahren wurden viele Dokumente verlangt – Tazkiras (afghanische Identitätsdokumente), DNA-Gutachten und auch eine Einverständniserklärung seines Onkels aus Afghanistan für die Ausreise der Geschwister, da der Vater seit einer Entführung durch die Taliban als verschollen gilt und die Erlaubnis der Mutter den deutschen Behörden nicht gereicht hat. Doch die Botschaft war lange Zeit nicht erreichbar und vergab ein Jahr lang keinen Termin für den DNA-Abgleich der Mutter und Geschwister. Omid wurde volljährig bevor das positive Ergebnis endlich vorlag. Dann hieß es: »Pech gehabt«, das Recht auf Familiennachzug sei mit dem 18. Geburtstag erloschen.
Für Omid und viele andere bedeuten die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) deswegen einen wichtigen Durchbruch: Sein Anspruch auf Familiennachzug ist eben nicht dadurch erloschen, dass er aufgrund der langen Verfahren mittlerweile volljährig geworden ist. »Ich habe noch eine kleine Hoffnung, dass meine Familie noch hier her kommen kann und das gibt mir Kraft, dass ich das alles [seine Ausbildung als Industriekaufmann] noch mache.« Diese Hoffnung ist jetzt gestärkt.
»Ich habe noch eine kleine Hoffnung, dass meine Familie noch hier her kommen kann und das gibt mir Kraft, dass ich das alles [seine Ausbildung als Industriekaufmann] noch mache.«
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EuGH-Entscheidung stärkt das Recht auf Familiennachzug
Egal, ob ein Kind zu seinen in Deutschland als Flüchtling anerkannten Eltern möchte, oder ob ein Kind in Deutschland anerkannt wurde und auf die Erlaubnis hofft, dass seine Eltern zu ihm ziehen dürfen: In beiden Konstellationen gilt nach Unionsrecht, dass es darauf ankommt, dass das Kind zu dem Zeitpunkt minderjährig war, als die Person, zu der der Familiennachzug erfolgen soll und die dann als Flüchtling anerkannt wird, ihren Asylantrag gestellt hat. Das hat der Gerichtshof der Europäischen Union nun verbindlich nicht nur für Deutschland, sondern für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union geklärt.
Das bedeutet, dass der Visumsantrag für den Familiennachzug auch dann noch gestellt werden kann, wenn das Kind zum Zeitpunkt der Asylantragstellung minderjährig war, aber während des Asylverfahrens volljährig geworden ist. Das Recht auf Familiennachzug zu Flüchtlingen wird so gestärkt und kann nicht – etwa durch Verzögerungen der den Asylantrag oder den Visumantrag bearbeitenden Behörden – zunichtegemacht werden.
In der am 1. August 2022 getroffenen Entscheidung SW, BL und BC gegen Deutschland geht es um syrische Kinder, die als unbegleitete Minderjährige 2015 nach Deutschland kamen und hier als Flüchtlinge anerkannt wurden. Nachdem die Kinder auf der Grundlage der Flüchtlingsanerkennung Aufenthaltserlaubnisse erhalten hatten, beantragten die Eltern im Herbst 2016 Visa zur Familienzusammenführung – zu dem Zeitpunkt sind alle Kinder noch knapp unter 18 Jahren. Im März 2017 lehnt die zuständige deutsche Botschaft in Beirut die Anträge ab, weil die Kinder zwischenzeitlich volljährig geworden sind. Dagegen klagten die Eltern vor dem Verwaltungsgericht Berlin.
Das Verwaltungsgericht Berlin gab ihnen mit Urteilen vom 01. Februar 2019 sowie vom 30. Januar 2019 Recht und verpflichtete die Bundesrepublik Deutschland dazu, den Eltern der syrischen Kinder die beantragten Visa zu erteilen. Dabei bezog sich das Gericht auf ein Urteil des EuGH von 2018 in einem niederländischen Verfahren zu einer ähnlichen Situation: In seinem Urteil vom 12. April 2018 – C‑550/16 hatte der EuGH schon damals entschieden, dass der entscheidende Zeitpunkt für die Frage, ob das Kind, zu dem die Eltern ziehen sollen, minderjährig ist, der Zeitpunkt des Asylverfahrens ist.
Trotz klarer EuGH-Rechtsprechung: Vorlage durch das Bundesverwaltungsgericht
Gegen diese Entscheidungen wurde auf Antrag der Bundesrepublik eine sogenannte Sprungrevision gewährt, die bei Verfahren von grundlegender Bedeutung erlaubt wird – womit der Fall direkt beim Bundesverwaltungsgericht als letzte Instanz landete anstatt zunächst beim Oberverwaltungsgericht. Das Bundesverwaltungsgericht entschied, dem EuGH diese Konstellation noch einmal vorzulegen. Als Begründung gaben die Richter*innen an, dass nach deutschem Aufenthaltsrecht (§ 36 Abs. 1 AufenthG) und seiner dazu ergangenen Rechtsprechung den Eltern ein Aufenthaltsrecht zur Familienzusammenführung nur bis zum Erreichen der Volljährigkeit des Kindes zustehe. Anders als beim Kindernachzug reiche es auch nicht aus, dass das Kind zumindest bei Stellung des Visumantrags noch minderjährig sei, die Minderjährigkeit müsse vielmehr bis zur Erteilung der Visa an die Eltern fortbestehen.
In seiner besagten Rechtsprechung hatte das Bundesverwaltungsgericht dies damit begründet, dass sich das Aufenthaltsrecht der Eltern, nachdem ihr in Deutschland lebendes Kind volljährig geworden ist, nicht in ein vom Familiennachzug unabhängiges eigenständiges Aufenthaltsrecht wandele – wie es das bei der umgekehrten Situation des Kindernachzugs für das Kind der Fall ist (vgl. § 34 Abs. 2 und 3 AufenthG) –, sondern dass vielmehr der Rechtsgrund für den Aufenthalt der Eltern entfalle. Das Bundesverwaltungsgericht wollte vor diesem Hintergrund vom EuGH klären lassen, ob der Familienzusammenführungsantrag abgelehnt werden dürfe oder ob den Eltern die Visa zum Familiennachzug aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts erteilt werden muss (abweichend von § 36 Abs. 1 AufenthG in unmittelbarer Anwendung von Art. 10 Abs. 3 a der Familienzusammenführungsrichtlinie).
Ferner richtete das Bundesverwaltungsgericht an den EuGH die Frage, welche Anforderungen an das Bestehen von tatsächlichen familiären Bindungen im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Familienzusammenführungsrichtlinie zwischen dem inzwischen volljährig gewordenen Kind und den nachzugswilligen Eltern zu stellen sind.
Der EuGH holte, wohl in Anbetracht der seiner Meinung klaren Rechtslage, keine sogenannten Schlussanträge eines Generalanwalts ein, sondern entschied direkt über den Vorabentscheidungsantrag des Bundesverwaltungsgerichts. Schlussanträge werden üblicherweise eingeholt, sie sind eine Art Rechtsgutachten, die dem EuGH bei der Entscheidungsfindung helfen sollen.
Der EuGH entscheidet erneut: Minderjährigkeit muss nur beim Asylantrag bestehen
In seinem aktuellen Urteil vom 1. August 2022 bleibt der EuGH – wie bereits in seiner Entscheidung vom 12. April 2018 (s.o.) – dabei, dass auf die Minderjährigkeit des in Deutschland als Flüchtling anerkannten Kindes zum Zeitpunkt seiner Asylantragstellung abzustellen ist.
»Der Gerichtshof hat […] bereits entschieden, dass Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der bei Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und Stellung seines Asylantrags in diesem Staat jünger als 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als „Minderjähriger“ im Sinne dieser Bestimmung [für den Elternnachzug] anzusehen ist (Urteil vom 12. April 2018, A und S, C 550/16, EU:C:2018:248, Rn. 64)«. (Rn. 41)
Dies begründet der Gerichtshof damit, dass langsames Behördenhandeln ansonsten das Recht auf Familienleben der Minderjährigen gefährden würde und für die Behörden keine Veranlassung bestehen würde, die Anträge mit der gebotenen Dringlichkeit zu bearbeiten (Rn. 43). Außerdem würde es den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit widersprechen, wenn bei Antragsteller*innen, die zeitlich in der gleichen Situation sind, »der Erfolg des Antrags auf Familienzusammenführung hauptsächlich von Umständen abhinge, die in der Sphäre der nationalen Behörden oder Gerichte liegen, insbesondere von der mehr oder weniger zügigen Bearbeitung des Antrags oder von der mehr oder weniger zügigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines solchen Antrags, und nicht von Umständen, die in der Sphäre des Antragstellers liegen« (Rn. 44). Dies würde dann auch »große Unterschiede bei der Bearbeitung von Anträgen auf Familienzusammenführung zwischen den Mitgliedstaaten und innerhalb ein und desselben Mitgliedstaats zur Folge haben« (Rn. 45).
Aufenthaltsrecht der Eltern
Außerdem hat der EuGH auf die Frage des Bundesverwaltungsgerichts geantwortet, wie es mit dem Aufenthaltsrecht der zuziehenden Eltern aussieht, das in Deutschland bislang bis zu dem Zeitpunkt begrenzt war, an dem ihr Kind, zu dem sie nachgezogen sind, volljährig wurde. Hierzu hält der EuGH fest, dass bei Stattgabe des Antrags auf Familiennachzugs – entsprechend dem Urteil auch wenn das Kind volljährig geworden ist – den Eltern »ein Aufenthaltstitel erteilt werden muss, der mindestens ein Jahr lang gültig ist, ohne dass der Eintritt der Volljährigkeit des als Flüchtling anerkannten Kindes dazu führen darf, dass die Dauer eines solchen Aufenthaltstitels verkürzt wird. […] Somit verstößt es gegen diese Bestimmung, den Eltern unter solchen Umständen ein Aufenthaltsrecht nur so lange zu gewähren, wie das Kind tatsächlich minderjährig ist« (Rn. 51).
Tatsächliche familiäre Bindung
Die letzte Frage, die das Bundesverwaltungsgericht an den EuGH gestellt hat, bezog sich auf den Nachweis der familiären Bindung und ob die bloße Verwandtschaft in »gerader aufsteigender Linie ersten Grades« (also zwischen Kindern und Eltern) ausreicht. Dies hat der EuGH verneint, aber der Gerichtshof stellte auch fest, dass es den Betroffenen überlassen ist wie sie ihr Familienleben führen wollen und das entsprechend keine Anforderungen an die Intensität der familiären Beziehung gestellt werden können (Rn. 62). Bei der Beurteilung müsse auch berücksichtigt werden, dass die Trennung in dem Fall auf die Sondersituation von geflüchteten Menschen zurück geht und entsprechend nicht auf diese Trennung abgestellt werden kann um zu behaupten, dass kein familiären Bindungen bestehen.
Insgesamt resümiert der EuGH zu der Frage:
»Es ist jedoch nicht erforderlich, dass das zusammenführende Kind und der betreffende Elternteil im selben Haushalt zusammenleben oder unter einem Dach wohnen, damit dieser Elternteil Anspruch auf Familienzusammenführung haben kann. Gelegentliche Besuche, sofern sie möglich sind, und regelmäßige Kontakte jedweder Art können für die Annahme, dass diese Personen persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen, und als Beleg für das Bestehen tatsächlicher familiärer Bindungen ausreichen. Darüber hinaus kann auch nicht verlangt werden, dass sich das zusammenführende Kind und der betreffende Elternteil gegenseitig finanziell unterstützen« (Rn. 68).
Konsequenz für das deutsche Aufenthaltsrecht
Für den Elternnachzug bedeutet das EuGH-Urteil: Der enger gefasste § 36 Abs. 1 AufenthG hat wegen Verstoßes gegen Unionsrecht zunächst außer Anwendung zu bleiben und Art. 10 Abs. 3 a der Familienzusammenführungsrichtlinie ist unmittelbar zu Gunsten der nachzugswilligen Eltern anzuwenden. Auch eine aufenthaltsrechtliche Grundlage für den Verbleib der Eltern, nachdem ihr Kind volljährig geworden ist, muss entsprechend dem Urteil geschaffen werden.
Im zweiten heute vom EuGH entschiedenen Fall, XC gegen Deutschland, geht es um einen syrischen Vater, der in Deutschland als Flüchtling anerkannt worden ist und seine nach dem Tode der Mutter alleine in der Türkei lebende Tochter zu sich holen möchte. Den Visumantrag hatte die im Januar 1999 geborene Tochter im August 2017 gestellt, also wenige Monate, nachdem sie bereits volljährig geworden war. Allerdings war sie zum Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags des Vaters in Deutschland noch minderjährig.
Das deutsche Generalkonsulat in Istanbul lehnte den Visumantrag ab, da die Antragstellerin zum Zeitpunkt der Stellung des Visumantrags bereits erwachsen war. Außerdem argumentierte es, dass der Vater noch keine Aufenthaltserlaubnis erhalten hatte, als sie die Volljährigkeit erreichte. Diese hatte der Vater erst nach Stellung des Visumantrags der Tochter im September 2017 erhalten.
Demgegenüber verurteilte das Verwaltungsgericht Berlin, nachdem die Tochter gegen die ablehnende Entscheidung Klage eingereicht hatte, die Bundesrepublik Deutschland zur Erteilung des begehrten Visums. Das Verwaltungsgericht argumentierte mit der oben genannten EuGH-Entscheidung vom 12. April 2018 zur umgekehrten Situation – also dem Nachzug eines Elternteils zu einem in Deutschland anerkannten minderjährigen Flüchtling und übertrug die diesbezügliche Rechtsprechung des EuGHs auf diese Situation.
Vorlage beim EuGH durch das Bundesverwaltungsgericht
Gegen diese Entscheidung legte die Bundesrepublik Deutschland ebenfalls Sprungrevision beim Bundesverwaltungsgericht ein. Das Bundesverwaltungsgericht hat auch hier das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH die nun beantworteten Fragen zur Auslegung von EU-Recht vorgelegt. Bei Stellung des Antrags auf Vorabentscheidung argumentierte das Bundesverwaltungsgericht, dass die Voraussetzungen für den Kindernachzug nach nationalem Recht in Gestalt des § 32 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, wonach das nachzugswillige Kind zum Zeitpunkt der Stellung des Visumantrags noch minderjährig sein muss und der stammberechtigte Elternteil schon über eine Aufenthaltserlaubnis verfügen muss, eindeutig nicht vorliegen würden und auch nicht die Auslegung zuließen, nach der für die Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung des stammberechtigen Vaters abzustellen sei. Ein Anspruch in unmittelbarer Anwendung des EU-Rechts – namentlich von Art. 4 Abs. 1 Buchst. b der Familienzusammenführungsrichtlinie – komme wiederum nur in Betracht, wenn beim Kindernachzug zu Flüchtlingen hinsichtlich der Minderjährigkeit des nachzugswilligen Kindes der Zeitpunkt der Asylantragstellung der als Flüchtlinge anerkannte Eltern maßgeblich wäre – wie es der EuGH wie oben dargestellt bereits mit Urteilen vom 12. April 2018 (C‑550/16) und vom heutigen Tage im Urteil SW, BL und BC gegen Deutschland für die umgekehrte Situation des Nachzugs des Elternteils zum in Deutschland lebenden Kind entschieden hat.
Außerdem stellte das Bundesverwaltungsgericht dem EuGH auch hier die Frage, welche Anforderungen an das Bestehen von tatsächlichen familiären Bindungen i.S.v. Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Familienzusammenführungsrichtlinie zwischen dem inzwischen volljährig gewordenen Kind und dem Flüchtling zu stellen sind.
Auch beim Kindernachzug: Entscheidend ist Zeitpunkt der Asylantragstellung
Zunächst einmal betont der EuGH, dass es nicht den Mitgliedstaaten überlassen werden kann zu bestimmen, zu welchem Zeitpunkt die Minderjährigkeit bestehen muss – also etwa zum Asylantrag, zum Visumsantrag oder bei Entscheidung über den Visumsantrag – sondern dies in der gesamten EU gleich angewendet werden muss (Rn. 37). In Bezugnahme auf die Schlussanträge des Generalanwalt Collins vom 16. Dezember 2021 betont der EuGH, dass »das Recht auf Familienzusammenführung, wenn es um minderjährige Kinder geht, nicht durch den Zeitaufwand für Entscheidungen über Anträge auf internationalen Schutz oder auf Familienzusammenführung ausgehöhlt werden darf« (Rn. 47).
Wie auch im Urteil SW, BL und BC gegen Deutschland führen die Luxemburger Richter*innen aus, dass Anträge auf Familiennachzug nicht mit der gebotenen Dringlichkeit bearbeitet werden könnten, wenn der Anspruch auf Familiennachzug von Behörden durch langsames Arbeiten verhindert kann (Rn. 49). Die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit setzen voraus, dass es eine gleiche und vorhersehbare Behandlung von Antragsteller*innen in der gleichen Situation gibt (Rn. 50). Das Recht auf Familienzusammenführung darf entsprechend nicht von »zufälligen und nicht vorhersehbaren Umständen abhängig gemacht würde, die voll und ganz im Verantwortungsbereich der zuständigen nationalen Behörden und Gerichte des betreffenden Mitgliedstaats lägen« (Rn. 51).
Entsprechend resümiert der EuGH, dass der entscheidende Zeitpunkt »für die Feststellung, ob das Kind eines als Flüchtling anerkannten Zusammenführenden minderjährig im Sinne des Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 ist, wenn es vor der Anerkennung des Zusammenführenden als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist, auf den Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags des Zusammenführenden abzustellen. Nur das Abstellen auf diesen Zeitpunkt steht mit den Zielsetzungen dieser Richtlinie und den durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten in Einklang« (Rn. 52). Der Antrag muss aber in einer Frist von drei Monaten ab Anerkennung als Schutzberechtigt gestellt werden (Rn. 53).
Bezüglich der tatsächlichen familiären Bindung macht der EuGH die gleichen Ausführungen wie im Urteil SW, BL und BC gegen Deutschland (siehe Konstellation 1 zum Elternnachzug).
Konsequenz für das deutsche Aufenthaltsrecht
Für den Kindernachzug bedeutet das EuGH-Urteil: Der Art. 4 Abs. 1 Buchst. b der Familienzusammenführungsrichtlinie verdrängt die deutsche Rechtsvorschrift § 32 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts.
Konsequenzen der EuGH-Urteile in Deutschland
Im Rahmen von Vorlageverfahren, wie in diesen Fällen, entscheidet der EuGH über die vorgelegten Rechtsfragen und nicht über die Fälle selbst. Somit gehen die Fälle nun zurück an das Bundesverwaltungsgericht, das in Anwendung der EuGH-Rechtsprechung entscheiden muss. In den vorliegenden Fällen muss das dazu führen, dass das Bundesverwaltungsgericht die ursprünglichen Urteile des Verwaltungsgerichts Berlin bestätigt und die Bundesrepublik dazu verpflichtet wird, den Eltern bzw. der Tochter Visa zur Familienzusammenführung zu ihren Angehörigen erteilen.
Das sind gute Nachrichten für viele Familie wie die von Omid, die unter zermürbender Trennung leiden, weil ihnen der Familiennachzug verwehrt wird. Denn die EuGH-Rechtsprechung gilt nicht nur in dem konkret zu entscheidenden Fall, sondern grundsätzlich in allen Fällen des Eltern- bzw. Kindernachzug.
Der Gesetzgeber ist zudem verpflichtet, das Aufenthaltsgesetz den Erfordernissen des EU-Rechts anzupassen. Das bedeutet, dass der Bundestag die deutschen Vorschriften zum Familiennachzug jetzt entsprechend ändern muss. Doch damit nicht genug: Die Bundesregierung muss endlich ihren Versprechen aus dem Koalitionsvertrag nachkommen und die Visavergabe beschleunigen und digitalisieren sowie subsidiär Schutzberechtigte beim Familiennachzug Flüchtlingen gleichstellen. Denn ansonsten müssen viele nach Deutschland geflüchtete Menschen weiterhin jahrelang auf ihre engsten Angehörigen warten.
(pva/wj)