News
Dublin-Abschiebungen nach Polen müssen gestoppt werden
Sie haben die lebensgefährliche EU-Außengrenze Belarus-Polen überwunden, stellen einen Asylantrag – und kommen in Haftzentren mit zu wenig Platz, Beratung und medizinischer Versorgung. Viele Schutzsuchende fliehen nach Deutschland weiter. Doch ab dem 1. August droht ihnen die Abschiebung nach Polen – trotz systematischer Grundrechtsverletzungen.
Das polnische Dorf Wędrzyn ist nur etwa 50 Kilometer von Frankfurt (Oder) entfernt. Vor knapp einem Jahr wurde in Teilen des gleichnamigen Truppenübungsplatzes ein »bewachtes Zentrum für Ausländer« eingerichtet, wie es beschönigend heißt. Damit reagierte Polen darauf, dass mehr Schutzgesuche als zuvor gestellt werden. Seither hat das Haftlager den Ruf, das schlimmste in Polen zu sein.
Berichten zufolge sind knapp 600 Personen in Wędrzyn inhaftiert. Das sind sowohl Personen im Asylverfahren als auch Drittstaatler*innen im Ausweisungsverfahren, etwa nach der Strafhaft. Und das unter extremen Bedingungen: Zeitweise müssen sich in Wędrzyn rund 24 Schutzsuchende einen Raum teilen.
PRO ASYL fordert: übernehmen statt abschieben!
Die Unterbringung in solchen geschlossenen Lagern droht auch den Schutzsuchenden, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens aus einem EU-Land nach Polen zurückgeschoben werden, weil sie dort die EU zuerst betreten hatten.
Zwar hatte Polen im Februar 2022 diese Dublin-Rückübernahmen vorübergehend eingestellt – angesichts der Aufnahme von mehr als einer Million ukrainischer Flüchtlinge, die vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine flohen. Mit Schreiben vom 23. Juni 2022 gab Polen jedoch bekannt, ab dem 1. August 2022 wieder Dublin-Überstellungen zu akzeptieren
Systematische Haft nach Rückführung zu erwarten
Doch darauf darf Deutschland nicht eingehen! Schutzsuchende, die vor der unhaltbaren Behandlung in Polen nach Deutschland weitergeflohen sind, dürfen nicht nach Polen zurückgeschoben werden – denn dort werden sie absehbar systematisch inhaftiert. Da die Haftbedingungen für Geflüchtete in Polen menschenunwürdig und erniedrigend sein können, stellt dies einen systemischen Mangel im Aufnahmesystem dar. Deutschland muss in diesen Fällen per sogenanntem Selbsteintritt auf die Abschiebungen nach Polen verzichten und die Asylverfahren selbst durchführen.
Polnische Anwält*innen bestätigen, dass die Anwendung von Haft im polnischen Asylverfahren als automatisch zu bewerten ist, und betonen, dass auch Menschen, die zum Beispiel aus Deutschland nach Polen abgeschoben wurden, die Inhaftierung droht (AIDA Bericht Polen 2021 Update May 2022, S. 91).
Kein Zugang zu Telefon oder mail: Familie hielt Mann für tot
PRO ASYL ist über einen ersten Fall informiert, in dem ein jemenitischer Schutzsuchender nach der Zurückweisung aus Deutschland mehrere Monate im Lager Wędrzyn untergebracht war. Diese Zeit beschreibt er als fürchterlich, zudem habe er keine Möglichkeit gehabt, seine Familie zu informieren. Deshalb habe die Familie gedacht, er wäre tot.
Nur zwei Quadratmeter pro Person in polnischen Hafteinrichtungen für Asylsuchende
Wenn sich in Wędrzyn rund 24 Schutzsuchende einen Raum teilen müssen, kommen damit auf jede Person nur zwei Quadratmeter, so die stellvertretende Kommissarin für Menschenrechte in Polen, Hanna Machińska. In Polen ist das seit August 2021 in »Krisenfällen« gesetzeskonform, widerspricht aber EU-Standards und international festgelegten Mindeststandards.
Für Strafgefangene sieht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen Verstoß gegen das Verbot von Folter und unmenschliche und erniedrigende Behandlung, wenn eine Mindestgröße von drei Quadratmetern pro Person unterschritten wird. In polnischen Haftanlagen für Asylsuchende ist dies dennoch bittere Realität.
Bis auf Doppelstockbetten, einen Tisch und Stühle gibt es nichts in den Zellen. Ihre Kleidung müssen die Männer in Plastiktüten auf dem Boden lagern. Vor den Fenstern sind Gitter, das Gelände ist von Zäunen mit Stacheldraht umgeben – wie im Gefängnis.
»Wędrzyn sollte von der polnischen Landkarte verschwinden. Es ist der schlimmste Ort.«
Vize-Menschenrechtskommissarin: Haftlager ist »der schlimmste Ort«
Für die Ausgabe rationierter Essensportionen müssen die Schutzsuchenden im Freien lange in Schlangen stehen. Die Sanitäranlagen genügen nicht für fast 600 Menschen und sind zudem verdreckt. Dazu kommen täglich Schüsse, Explosionen und gebrüllte militärische Kommandos. Obwohl auf dem Gelände auch Kriegsflüchtlinge untergebracht sind, ist der Truppenübungsplatz weiterhin aktiv. In einer Anhörung vor dem Ausschuss für bürgerliche Freiheiten des EU Parlaments im Februar 2022 bezeichnete Hanna Machińska, stellvertretende Kommissarin für Menschenrechte in Polen, die Zustände als unhaltbar: »Wędrzyn sollte von der polnischen Landkarte verschwinden. Es ist der schlimmste Ort.«
Für die zusammen etwa 700 Personen in Wędrzyn und im 60 Kilometer entfernten Haftlager in Krosno Odrzańskie steht nur ein Psychologe für zwölf Stunden in der Woche zur Verfügung (AIDA Bericht Polen 2021 Update, S. 94). In anderen Einrichtungen ist der Schlüssel ähnlich. Trotz des begrenzten Personals und fehlender Behandlungsmöglichkeiten lassen die Verantwortlichen unabhängiges medizinisches Personal sowie NGOs nur beschränkt bis gar nicht in die Haftlager, überweisen die Kranken aber auch nicht an lokale Krankenhäuser oder Fachärzte.
Von Außenwelt, Familie und rechtlicher Beratung abgeschnitten
Internet und vor allem Handys, die Lebensader für Schutzsuchende, sind nur begrenzt verfügbar. Die Lager und ihre Bewohner*innen sind von der Außenwelt abgeschnitten. Amnesty International beschreibt in einem Bericht die mangelhafte Informationslage sowie das Fehlen von Übersetzungen und wirksamer Rechtsberatung. Viele wissen nichts über den Status ihres Asylverfahrens oder warum sie inhaftiert sind. Entsprechend können sie Klagemöglichkeiten nicht in Anspruch nehmen und versäumen Fristen.
Bereits im Oktober 2021, kurz nach der Eröffnung des Lagers Wędrzyn nahe der deutschen Grenze, bezeichneten Vertreter*innen des nationalen Mechanismus zur Verhütung von Folter die Bedingungen als nicht mit den Standards einer menschenwürdigen Behandlung vereinbar. Die Anlage gleiche einem Gefängnis, dessen Bedingungen insbesondere für die hier untergebrachte Personengruppe schockierend seien und zu einer Vertiefung von Traumata führen könnten. Zudem fehle angemessene medizinische und insbesondere psychologische Betreuung. Dennoch sind auch nach einem Jahr keine signifikanten Verbesserung erkennbar.
Pauschale Inhaftierung von Schutzsuchenden, die einen Asylantrag stellen
Für die Unterbringung in haftähnlichen Einrichtungen genügen das Fehlen von Identitätsdokumenten oder der unerlaubte Grenzübertritt über die »grüne Grenze« – obwohl die Verantwortlichen wissen, dass belarussische Soldat*innen Schutzsuchende genau dazu drängen. Dennoch gehen sie von einer besonderen Fluchtgefahr aus.
Auf dieser Grundlage ersucht der für die Lagerleitung zuständige polnische Grenzschutz, Straż Graniczna, die örtlichen Bezirksgerichte um Anordnung zur Unterbringung unter Haftbedingungen – und hat damit in der Regel Erfolg. So finden sich die Schutzsuchenden in polnischer Haft wieder – nachdem sie zuvor schon Tage, wenn nicht Wochen, ohne ausreichende Versorgung in den Wäldern entlang der belarussisch-polnischen Grenze oder in den provisorischen Lagern in Belarus zubringen mussten, oft der willkürlichen Gewalt von belarussischen sowie polnischen Einheiten ausgesetzt.
Kinder in Lebensgefahr
Eine Würdigung der individuellen Situation der Antragsstellenden, insbesondere des Kindeswohls und der mentalen und körperlichen Gesundheit, findet durch die Gerichte auch dann nicht statt, wenn dies bereits aktenkundig ist. Im Gegenteil, PRO ASYL sind Fälle bekannt, in denen Bezirksgerichte argumentieren, dass die Unterbringung in den geschlossenen Lagern die medizinische Versorgung auch im Fall von vulnerablen Minderjährigen garantiere. Angesichts der Situation, in der sich gerade internierte Kinder befinden, klingt das wie purer Hohn.
Appelle an die entsprechenden Richter*innen, bestehende Alternativen zur Haft zu nutzen, fanden bisher kein Gehör. So wandte sich der polnische Ombudsmann, Marcin Wiącek, an die Präsidenten der Bezirksgerichte und machte deutlich, dass Schutzgarantien gegenwärtig offenkundig missachtet werden. Er betonte, dass das medizinische Angebot in den Zentren nicht ausreiche und zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands führe. Er sei zudem über internierte Kinder informiert, die nach der Unterbringung lebensbedrohlich krank waren und stationär behandelt werden mussten.
Haftähnliche Lager werden ausgeweitet
Mit neuen Haftlagern, wie in dem beschriebenen Wędrzyn, und der Umstrukturierung vormals offener in geschlossene Einrichtungen, wie in Biała Podlask und Czerwony Bór, wurden die Haftkapazitäten erweitert. Die Umbauten setzen die bereits erwähnte Minderung des Mindestanspruchs an Quadratmetern um. So stiegen innerhalb des Jahres 2021 die Plätze in Haft von rund 600 auf etwa 2.300 an (AIDA Bericht Polen 2021 Update May 2022, S. 88). Zwar gibt es örtliche Unterschiede, aber dennoch gleichen die Bedingungen und Erfahrungsberichte der Betroffenen einander. Unmissverständlich macht die polnische Regierung deutlich, dass Asylsuchende in Polen unerwünscht sind.
Die Schwächen des polnischen Asyl- und Aufnahmesystems sind bekannt
In aktuellen Entscheidungen des deutschen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), in denen aufgrund der Dublin-Verordnung Polen als für das Asylverfahren zuständiger Mitgliedstaat benannt wird, führt die deutsche Asylbehörde aus, dass keine systemischen Mängel im polnischen Asylsystem vorlägen. Länderberichte, die insbesondere die veränderte Situation ab dem Sommer 2021 darstellen, zieht das BAMF jedoch nicht heran.
So bleibt die Darstellung des Aufnahme- und Asylsystems veraltet, zum Teil fehlt eine Auseinandersetzung mit der Unterbringung in den haftähnlichen Lagern gänzlich. Weiterhin hält das BAMF an der Annahme des gegenseitigen Vertrauens zwischen den EU Mitgliedsstaaten fest – trotz des offenkundigen Rechtsbruchs, der in Polen längst salonfähig gemacht wurde.
Deutschland muss Mängel im polnischen Asylsystem erkennen
Dabei ist die deutsche Bundesregierung bestens über die Situation informiert. Auf Nachfrage der Abgeordneten Clara Bünger (Die Linke) führte der parlamentarische Staatssekretär des Inneren bereits im Frühjahr 2022 aus, dass »(…) in Polen (…) grundsätzlich alle Personen, die die polnische Grenze irregulär überschreiten, nach polnischem Recht auf richterlichen Beschluss in eine geschlossene Einrichtung des polnischen Grenzschutz verbracht (werden)«. Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass der Bundesregierung dennoch »keine systemischen Mängel im polnischen Asylsystem bekannt (sind)«, wie er zuvor verlauten ließ.
Doch diese systemischen Mängel existieren. Deshalb dürfen Schutzsuchende nicht nach Polen zurückgeschoben werden! Deutschland muss auf die Abschiebungen nach Polen verzichten und die Asylverfahren selbst durchführen.
Der Schutz von Flüchtlingen ist eine elementare Errungenschaft und muss unabhängig vom Herkunftsland und der Fluchtsituation gelten. Die Bundesregierung muss sich auf allen Ebenen dafür einsetzen, dass auch Menschen, die über Belarus in die EU fliehen, Zugang zu einem fairen Asylverfahren und menschenwürdiger Unterbringung haben.
(mz/wr)