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Flüchtlingsjunge außerhalb des offiziellen EU-Hotspots Moria auf der griechischen Insel Lesbos, November 2019. Foto: picture alliance / Angelos Tzortzinis / dpa

Am Wochenende haben der Parteivorsitzende von Bündnis 90 / Die Grünen, Robert Habeck, und die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler, eine Debatte zur Aufnahme von Flüchtlingskindern aus Griechenland angestoßen. Tausende sitzen dort fest – ohne Perspektive.

Eine Viel­zahl der dort fest­sit­zen­den Flücht­lings­kin­der hat Ange­hö­ri­ge, die bereits in Deutsch­land leben und hier im Asyl­ver­fah­ren sind. Ihre Auf­nah­me ist dabei kein Gna­den­akt son­dern beruht auf einem Rechts­an­spruch auf Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung. Er folgt aus der Dub­lin-Ver­ord­nung. Nach Arti­kel 21 muss dabei inner­halb von drei Mona­ten von Grie­chen­land aus ein soge­nann­tes Auf­nah­me­ge­such an Deutsch­land gestellt werden.

An die­ser Frist schei­tern aktu­ell jedoch vie­le Asyl­su­chen­den. Wer in Dreck und Morast von Moria und ande­ren Hot­spots fest­sitzt, hat kaum Zugang zu recht­li­chen Struk­tu­ren. Und Deutsch­land lehnt Über­nah­me­ersu­che von Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen aus Grie­chen­land mitt­ler­wei­le sys­te­ma­tisch mit der Begrün­dung, die Fris­ten sei­en bereits abge­lau­fen, ab.

Auch im Rah­men des Dub­lin-Ver­fah­rens müs­sen die Mit­glied­staa­ten den Schutz der fami­liä­ren Ein­heit wah­ren. Dies ergibt sich schon aus dem Recht auf Ach­tung des Fami­li­en­le­bens aus Art. 7 EU Grund­rech­te­char­ta und Arti­kel 8 EMRK. Auf­grund des­sen fin­den sich auch in der Dub­lin-III-Ver­ord­nung beson­de­re Rege­lun­gen, die gewähr­leis­ten, dass Asyl­su­chen­de zur Durch­füh­rung ihres Asyl­ver­fah­rens mit ihren Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen zusam­men­ge­führt werden.

So ist etwa bei unbe­glei­te­ten Min­der­jäh­ri­gen immer der Staat für die Durch­füh­rung des Asyl­ver­fah­rens zustän­dig, in dem sich ein Fami­li­en­mit­glied recht­mä­ßig auf­hält, sofern dies dem Wohl des Kin­des dient (sie­he Art. 8 Dub­lin-III-VO). Oder falls eine Per­son im Dub­lin-Ver­fah­ren ein Fami­li­en­mit­glied hat, wel­ches in einem ande­ren Mit­glied­staat inter­na­tio­na­len Schutz erhal­ten hat, so ist die­ses Land für die Durch­füh­rung des Asyl­ver­fah­rens zustän­dig (sie­he Art. 9 Dub­lin-III-VO). Auch wenn sich das Fami­li­en­mit­glied noch im lau­fen­den Asyl­ver­fah­ren in einem Mit­glied­staat befin­det wird eben­die­ser Staat für das Asyl­ver­fah­ren der betrof­fe­nen Per­son zustän­dig (sie­he Art. 10 Dub­lin III-VO). Der Wunsch auf Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung ist von den Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen schrift­lich zu bekunden.

Wenn die Vor­aus­set­zun­gen der Dub­lin-Ver­ord­nung erfüllt sind, haben die Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen einen Rechts­an­spruch auf Zusam­men­füh­rung. Da es bei Über­stel­lun­gen von Ange­hö­ri­gen aus Grie­chen­land nach Deutsch­land seit eini­ger Zeit zu gra­vie­ren­den Ver­zö­ge­run­gen kommt, sind deut­sche Ver­wal­tungs­ge­rich­te inzwi­schen viel­fach mit der Fra­ge der recht­zei­ti­gen Durch­set­zung des Anspruchs auf Zusam­men­füh­rung beschäf­tigt (sie­he Mel­dung vom 28.12.2017).

Neben den Nor­men, die einen Anspruch auf Zusam­men­füh­rung vor­se­hen, ent­hält die Dub­lin-Ver­ord­nung auch Ermes­sens­re­ge­lun­gen. So sol­len Fami­li­en­mit­glie­der auch über die Kern­fa­mi­lie hin­aus zusam­men­ge­führt wer­den, wenn sie von­ein­an­der abhän­gig sind (sie­he Art. 16 Dub­lin-III-VO). Zudem kann ein Mit­glied­staat zur Wah­rung der Fami­li­en­ein­heit sein Selbst­ein­tritts­recht aus­üben und die Zustän­dig­keit für Ange­hö­ri­ge über­neh­men (sie­he Art. 17 Dublin-III-VO).

(Zusam­men­fas­sung vom Infor­ma­ti­ons­ver­bund Asyl, Stand: Novem­ber 2019)

75%

aller Anträ­ge auf Dub­lin-Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung aus Grie­chen­land wer­den mitt­ler­wei­le abgelehnt.

Drastischer Rückgang bei Übernahme-Zustimmungen

2017 wur­de noch 5.310 von 5.807 Über­nah­me­ersu­chen aus Grie­chen­land von Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) zuge­stimmt. Seit­her ist eine deut­lich rigi­de­re Hal­tung fest­stell­bar. 2018 lehn­te Deutsch­land 1.496 von 2.482 bear­bei­te­ten Über­nah­me­ge­su­chen auf­grund fami­liä­rer Bin­dun­gen von Grie­chen­land ab – fast 60 Pro­zent aller Anträ­ge. 2019 wur­den von Janu­ar bis Mai sogar 75 Pro­zent aller Anträ­ge auf Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung zurück­ge­wie­sen. Gleich­zei­tig ist auch die Zahl der Anträ­ge dras­tisch gesun­ken. Von nur noch 626 Über­nah­me­ersu­chen wur­den 472 abgelehnt.

Azad* – jetzt 18 Jah­re alt – kam im Herbst 2016, also mit 15 Jah­ren ohne Eltern in Grie­chen­land an.  Zwei Jah­re lang muss­te er im Insel-Hot­spot leben. Gewalt­tä­ti­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen und sexu­el­lem Miss­brauch war er schutz­los aus­ge­lie­fert. Danach leb­te er zunächst obdach­los in Athen und in kam in Haft, bevor er einen Platz in einer Ein­rich­tung für Min­der­jäh­ri­ge bekam.

Azad wur­de in Afgha­ni­stan gebo­ren. Kurz nach sei­ner Geburt floh Azads Fami­lie jedoch in den Iran, wo er auf­wuchs. Um Zwangs­ar­beit, Aus­beu­tung und Ver­fol­gung auf­grund sei­ner reli­giö­sen Über­zeu­gun­gen zu ent­kom­men, floh Azad wei­ter nach Grie­chen­land. Eini­ge Mona­te nach Inkraft­tre­ten des EU-Tür­kei »Deals« erreich­te er eine der grie­chi­schen Inseln.

Azad bean­tra­ge Asyl und stell­te einen Antrag auf Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung mit sei­nen Geschwis­tern in Deutsch­land –  sei­nen ein­zi­gen Ange­hö­ri­gen in Euro­pa. Die deut­schen Behör­den lehn­ten jedoch sei­nen Antrag auf Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung mit der knap­pen Begrün­dung ab, dass der Antrag ver­spä­tet ein­ge­reicht wur­de und kei­ne »erkenn­ba­ren« huma­ni­tä­ren Grün­de vor­lie­gen. Ein wei­te­rer detail­lier­ter Antrag des grie­chi­schen Dub­li­ner Büros, in dem auf die beson­de­re Gefähr­dung des Kin­des, sei­nen trau­ma­ti­schen Erfah­run­gen und die Bedeu­tung des fami­liä­ren Umfelds für sein Wohl­erge­hen und sei­ne Ent­wick­lung hin­ge­wie­sen wur­de, wur­de eben­falls lako­nisch abgelehnt.

In sei­ner Ver­zweif­lung ver­such­te Azad Deutsch­land ohne Hil­fe zu errei­chen. Er wur­de von der grie­chi­schen Poli­zei ver­haf­tet und einen Monat unter unmensch­li­chen Bedin­gun­gen in Nord­grie­chen­land fest­ge­hal­ten. Nach sei­ner Ent­las­sung im Som­mer 2018 war er ohne Obdach.

Als RSA/PRO ASYL sich mit Azad traf, kam er trotz der sin­ken­den Tem­pe­ra­tu­ren mit Som­mer-Flip-Flops zum Tref­fen. Er litt unter star­ken Magen­schmer­zen. Die Mit­ar­bei­ter von RSA/PRO ASYL beglei­te­ten ihn zunächst ins Kran­ken­haus und infor­mier­te die Staats­an­walt­schaft um einen Vor­mund für ihn zu ernen­nen. Auch beim Natio­na­len Zen­trum für Sozia­le Soli­da­ri­tät (EKKA) wur­de ein Antrag auf Unter­brin­gung gestellt. Die grie­chi­schen Behör­den gaben jedoch zu ver­ste­hen, dass in Erman­ge­lung von Plät­zen die ein­zi­ge Opti­on die »Schutz­haft« sei. Es dau­er­te meh­re­re Mona­te, bis Azad in einer alters­ent­spre­chen­den Unter­kunft unter­ge­bracht wurde.

Trotz der Lebens­um­stän­de in Grie­chen­land wei­gert sich Deutsch­land hart­nä­ckig, Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men und ihn mit sei­nem Bru­der wie­der zu vereinen.

Azad wur­de kürz­lich 18 Jah­re alt. Gegen die Wei­ge­rung Deutsch­lands, die Ver­ant­wor­tung für die Prü­fung sei­nes Antrags zu über­neh­men, ist noch ein Beru­fungs­ver­fah­ren vor einem deut­schen Ver­wal­tungs­ge­richt anhängig.

Der Fall Azad zeigt nicht nur, dass es den grie­chi­schen Behör­den nicht gelun­gen ist, unbe­glei­te­te Kin­der zu schüt­zen, son­dern auch dass Deutsch­land sich sei­ner Ver­ant­wor­tung ent­zieht, indem es die Dub­li­ner Regeln sehr eng anwen­det. Die Ableh­nung Deutsch­lands und die Bedin­gun­gen, unter denen er als Obdach­lo­ser auf der Stra­ße leb­te, haben sich nach­tei­lig auf den jun­gen und trau­ma­ti­sier­ten Jun­gen ausgewirkt.

*Name zum Schutz der Anony­mi­tät geändert

Im Bericht »Refu­gee Fami­lies Torn Apart« von PRO ASYL und RSA wird die­se sys­te­ma­ti­sche Aus­he­be­lung des Fami­li­en­nach­zugs dokumentiert.

Trotz­dem gibt es recht­li­che Mög­lich­kei­ten, die im Unter­schied zu frü­her bei Frist­über­schrei­tung nicht mehr aus­rei­chend ange­wandt wer­den. Nach Arti­kel 17 der Dub­lin-Ver­ord­nung kann jeder Mit­glied­staat vom soge­nann­ten Selbst­ein­tritts­recht Gebrauch machen. Auf die­ser Rechts­grund­la­ge kön­nen Deutsch­land und ande­re EU-Staa­ten auch Flücht­lings­kin­dern die Mög­lich­keit der Aus­rei­se aus Grie­chen­land gewäh­ren – auch wenn in Deutsch­land (oder ande­ren EU-Staa­ten) kei­ne Ange­hö­ri­gen leben.

Eine sol­che Auf­nah­me ist dabei nicht nur ein Gebot der Mensch­lich­keit. Kin­der müs­sen zu ihren Eltern – das garan­tiert auch die UN-Kin­der­rechts­kon­ven­ti­on. Aktu­ell wird das in Deutsch­land durch die gna­den­lo­se Aus­übung der Geset­ze sabo­tiert. Ange­sichts der in den grie­chi­schen Lagern vor­herr­schen­den Zustän­de auf die genaue Ein­hal­tung von Fris­ten zu pochen, ist zynisch.

Sowohl Kin­der mit Ange­hö­ri­gen in euro­päi­schen Staa­ten, als auch unbe­glei­te­te Min­der­jäh­ri­ge müs­sen aus huma­ni­tä­ren Grün­den aus den elen­den Zustän­den in den grie­chi­schen Lagern her­aus­ge­holt werden.

Die huma­ni­tä­re Not­si­tua­ti­on in Grie­chen­land ist also weder neu, noch kommt sie über­ra­schend: Sie ist haus­ge­macht und poli­tisch offen­bar gewollt.

Die Reak­tio­nen von FDP und Uni­on mit der aber­ma­li­gen For­de­rung nach gesamt­eu­ro­päi­schen Lösun­gen len­ken dabei von der Rea­li­tät ab. Eine sol­che Lösung ist nicht in Sicht, die Zustän­de in den grie­chi­schen Lagern aber nun seit über vier Jah­ren unver­än­dert kata­stro­phal. Zudem gibt es offen­sicht­lich die Anwei­sung aus dem Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um (BMI) an das BAMF, die gestell­ten Über­nah­me­ersu­chen zuneh­mend restrik­tiv zu prü­fen. Die huma­ni­tä­re Not­si­tua­ti­on in Grie­chen­land ist also weder neu, noch kommt sie über­ra­schend: Sie ist haus­ge­macht und poli­tisch offen­bar gewollt.

(gb)