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Aufnahme von Flüchtlingskindern: Kein Gnadenakt, sondern rechtliche Verpflichtung
Am Wochenende haben der Parteivorsitzende von Bündnis 90 / Die Grünen, Robert Habeck, und die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler, eine Debatte zur Aufnahme von Flüchtlingskindern aus Griechenland angestoßen. Tausende sitzen dort fest – ohne Perspektive.
Eine Vielzahl der dort festsitzenden Flüchtlingskinder hat Angehörige, die bereits in Deutschland leben und hier im Asylverfahren sind. Ihre Aufnahme ist dabei kein Gnadenakt sondern beruht auf einem Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung. Er folgt aus der Dublin-Verordnung. Nach Artikel 21 muss dabei innerhalb von drei Monaten von Griechenland aus ein sogenanntes Aufnahmegesuch an Deutschland gestellt werden.
An dieser Frist scheitern aktuell jedoch viele Asylsuchenden. Wer in Dreck und Morast von Moria und anderen Hotspots festsitzt, hat kaum Zugang zu rechtlichen Strukturen. Und Deutschland lehnt Übernahmeersuche von Familienangehörigen aus Griechenland mittlerweile systematisch mit der Begründung, die Fristen seien bereits abgelaufen, ab.
Auch im Rahmen des Dublin-Verfahrens müssen die Mitgliedstaaten den Schutz der familiären Einheit wahren. Dies ergibt sich schon aus dem Recht auf Achtung des Familienlebens aus Art. 7 EU Grundrechtecharta und Artikel 8 EMRK. Aufgrund dessen finden sich auch in der Dublin-III-Verordnung besondere Regelungen, die gewährleisten, dass Asylsuchende zur Durchführung ihres Asylverfahrens mit ihren Familienangehörigen zusammengeführt werden.
So ist etwa bei unbegleiteten Minderjährigen immer der Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, in dem sich ein Familienmitglied rechtmäßig aufhält, sofern dies dem Wohl des Kindes dient (siehe Art. 8 Dublin-III-VO). Oder falls eine Person im Dublin-Verfahren ein Familienmitglied hat, welches in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz erhalten hat, so ist dieses Land für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig (siehe Art. 9 Dublin-III-VO). Auch wenn sich das Familienmitglied noch im laufenden Asylverfahren in einem Mitgliedstaat befindet wird ebendieser Staat für das Asylverfahren der betroffenen Person zuständig (siehe Art. 10 Dublin III-VO). Der Wunsch auf Familienzusammenführung ist von den Familienangehörigen schriftlich zu bekunden.
Wenn die Voraussetzungen der Dublin-Verordnung erfüllt sind, haben die Familienangehörigen einen Rechtsanspruch auf Zusammenführung. Da es bei Überstellungen von Angehörigen aus Griechenland nach Deutschland seit einiger Zeit zu gravierenden Verzögerungen kommt, sind deutsche Verwaltungsgerichte inzwischen vielfach mit der Frage der rechtzeitigen Durchsetzung des Anspruchs auf Zusammenführung beschäftigt (siehe Meldung vom 28.12.2017).
Neben den Normen, die einen Anspruch auf Zusammenführung vorsehen, enthält die Dublin-Verordnung auch Ermessensregelungen. So sollen Familienmitglieder auch über die Kernfamilie hinaus zusammengeführt werden, wenn sie voneinander abhängig sind (siehe Art. 16 Dublin-III-VO). Zudem kann ein Mitgliedstaat zur Wahrung der Familieneinheit sein Selbsteintrittsrecht ausüben und die Zuständigkeit für Angehörige übernehmen (siehe Art. 17 Dublin-III-VO).
(Zusammenfassung vom Informationsverbund Asyl, Stand: November 2019)
Drastischer Rückgang bei Übernahme-Zustimmungen
2017 wurde noch 5.310 von 5.807 Übernahmeersuchen aus Griechenland von Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zugestimmt. Seither ist eine deutlich rigidere Haltung feststellbar. 2018 lehnte Deutschland 1.496 von 2.482 bearbeiteten Übernahmegesuchen aufgrund familiärer Bindungen von Griechenland ab – fast 60 Prozent aller Anträge. 2019 wurden von Januar bis Mai sogar 75 Prozent aller Anträge auf Familienzusammenführung zurückgewiesen. Gleichzeitig ist auch die Zahl der Anträge drastisch gesunken. Von nur noch 626 Übernahmeersuchen wurden 472 abgelehnt.
Azad* – jetzt 18 Jahre alt – kam im Herbst 2016, also mit 15 Jahren ohne Eltern in Griechenland an. Zwei Jahre lang musste er im Insel-Hotspot leben. Gewalttätigen Auseinandersetzungen und sexuellem Missbrauch war er schutzlos ausgeliefert. Danach lebte er zunächst obdachlos in Athen und in kam in Haft, bevor er einen Platz in einer Einrichtung für Minderjährige bekam.
Azad wurde in Afghanistan geboren. Kurz nach seiner Geburt floh Azads Familie jedoch in den Iran, wo er aufwuchs. Um Zwangsarbeit, Ausbeutung und Verfolgung aufgrund seiner religiösen Überzeugungen zu entkommen, floh Azad weiter nach Griechenland. Einige Monate nach Inkrafttreten des EU-Türkei »Deals« erreichte er eine der griechischen Inseln.
Azad beantrage Asyl und stellte einen Antrag auf Familienzusammenführung mit seinen Geschwistern in Deutschland – seinen einzigen Angehörigen in Europa. Die deutschen Behörden lehnten jedoch seinen Antrag auf Familienzusammenführung mit der knappen Begründung ab, dass der Antrag verspätet eingereicht wurde und keine »erkennbaren« humanitären Gründe vorliegen. Ein weiterer detaillierter Antrag des griechischen Dubliner Büros, in dem auf die besondere Gefährdung des Kindes, seinen traumatischen Erfahrungen und die Bedeutung des familiären Umfelds für sein Wohlergehen und seine Entwicklung hingewiesen wurde, wurde ebenfalls lakonisch abgelehnt.
In seiner Verzweiflung versuchte Azad Deutschland ohne Hilfe zu erreichen. Er wurde von der griechischen Polizei verhaftet und einen Monat unter unmenschlichen Bedingungen in Nordgriechenland festgehalten. Nach seiner Entlassung im Sommer 2018 war er ohne Obdach.
Als RSA/PRO ASYL sich mit Azad traf, kam er trotz der sinkenden Temperaturen mit Sommer-Flip-Flops zum Treffen. Er litt unter starken Magenschmerzen. Die Mitarbeiter von RSA/PRO ASYL begleiteten ihn zunächst ins Krankenhaus und informierte die Staatsanwaltschaft um einen Vormund für ihn zu ernennen. Auch beim Nationalen Zentrum für Soziale Solidarität (EKKA) wurde ein Antrag auf Unterbringung gestellt. Die griechischen Behörden gaben jedoch zu verstehen, dass in Ermangelung von Plätzen die einzige Option die »Schutzhaft« sei. Es dauerte mehrere Monate, bis Azad in einer altersentsprechenden Unterkunft untergebracht wurde.
Trotz der Lebensumstände in Griechenland weigert sich Deutschland hartnäckig, Verantwortung zu übernehmen und ihn mit seinem Bruder wieder zu vereinen.
Azad wurde kürzlich 18 Jahre alt. Gegen die Weigerung Deutschlands, die Verantwortung für die Prüfung seines Antrags zu übernehmen, ist noch ein Berufungsverfahren vor einem deutschen Verwaltungsgericht anhängig.
Der Fall Azad zeigt nicht nur, dass es den griechischen Behörden nicht gelungen ist, unbegleitete Kinder zu schützen, sondern auch dass Deutschland sich seiner Verantwortung entzieht, indem es die Dubliner Regeln sehr eng anwendet. Die Ablehnung Deutschlands und die Bedingungen, unter denen er als Obdachloser auf der Straße lebte, haben sich nachteilig auf den jungen und traumatisierten Jungen ausgewirkt.
*Name zum Schutz der Anonymität geändert
Im Bericht »Refugee Families Torn Apart« von PRO ASYL und RSA wird diese systematische Aushebelung des Familiennachzugs dokumentiert.
Trotzdem gibt es rechtliche Möglichkeiten, die im Unterschied zu früher bei Fristüberschreitung nicht mehr ausreichend angewandt werden. Nach Artikel 17 der Dublin-Verordnung kann jeder Mitgliedstaat vom sogenannten Selbsteintrittsrecht Gebrauch machen. Auf dieser Rechtsgrundlage können Deutschland und andere EU-Staaten auch Flüchtlingskindern die Möglichkeit der Ausreise aus Griechenland gewähren – auch wenn in Deutschland (oder anderen EU-Staaten) keine Angehörigen leben.
Eine solche Aufnahme ist dabei nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit. Kinder müssen zu ihren Eltern – das garantiert auch die UN-Kinderrechtskonvention. Aktuell wird das in Deutschland durch die gnadenlose Ausübung der Gesetze sabotiert. Angesichts der in den griechischen Lagern vorherrschenden Zustände auf die genaue Einhaltung von Fristen zu pochen, ist zynisch.
Sowohl Kinder mit Angehörigen in europäischen Staaten, als auch unbegleitete Minderjährige müssen aus humanitären Gründen aus den elenden Zuständen in den griechischen Lagern herausgeholt werden.
Die humanitäre Notsituation in Griechenland ist also weder neu, noch kommt sie überraschend: Sie ist hausgemacht und politisch offenbar gewollt.
Die Reaktionen von FDP und Union mit der abermaligen Forderung nach gesamteuropäischen Lösungen lenken dabei von der Realität ab. Eine solche Lösung ist nicht in Sicht, die Zustände in den griechischen Lagern aber nun seit über vier Jahren unverändert katastrophal. Zudem gibt es offensichtlich die Anweisung aus dem Bundesinnenministerium (BMI) an das BAMF, die gestellten Übernahmeersuchen zunehmend restriktiv zu prüfen. Die humanitäre Notsituation in Griechenland ist also weder neu, noch kommt sie überraschend: Sie ist hausgemacht und politisch offenbar gewollt.
(gb)