News
Asylzahlen 2020 zeigen: Deutschland hat Platz!
Die Abschottungspolitik der EU zeigt ihre Spuren: Die Zahl der Erstasylanträge beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) war 2020 so niedrig wie seit 2012 nicht mehr. Statt die eigene Ablehnungspraxis zu überprüfen, die tausendfach fehlerhafte Entscheide produziert, hat das BAMF Hunderttausende Widerrufsverfahren eingeleitet.
In der jüngst veröffentlichten Asylstatistik für das Jahr 2020 fällt die Zahl der Erstanträge (102.581) ins Auge. Da diese auch die in Deutschland geborenen Kinder von Asylsuchenden und Schutzberechtigten enthält, ist die tatsächliche Zahl der neu eingereisten Asylsuchenden noch weit niedriger. Insgesamt 26.520 Asylanträge entfielen 2020 auf hier geborene Kinder, was mehr als einem Viertel (25,9%) entspricht. Die Zahl der »grenzüberschreitenden Asylanträge« (also der tatsächlich neu eingereisten Schutzsuchenden) lag demnach bei nur 76.061 – ein Rückgang um 31,5% im Vergleich zum Vorjahr.
Europa schottet sich ab, Asylzahlen sinken
Die geringen Zugangszahlen nach Deutschland sind eine Folge der rigorosen Abschottung Europas. Die griechisch-türkische Landgrenze, die ungarische und die kroatische EU-Außengrenzen sind systematisch abgeriegelt; Schutzsuchende sitzen in Bosnien im Elend und Winter unter Lebensgefahr fest, ohne die Perspektive auf Schutz. In ähnlicher Weise wird die Seegrenze von Griechenland zur Türkei abgeriegelt, auch hier sinken die Zugangszahlen dramatisch.
Die Zugangszahlen zeigen: Deutschland hat Platz und könnte viel mehr Menschen aufnehmen.
Dass Innenminister Seehofer bei der Vorstellung der Asylzahlen stolz behauptet, der Rückgang belege, dass »wir auf dem richtigen Weg« seien, ist angesichts der Entrechtung Geflüchteter an den europäischen Außengrenzen zynisch. Die Zugangszahlen zeigen: Deutschland hat Platz und könnte viel mehr Menschen aufnehmen.
Herkunftsländer unverändert Kriegs- und Krisengebiete
Die Hauptherkunftsländer waren Syrien (36.433 Erstanträge), Afghanistan (9.901) und der Irak (9.846). Allein diese drei Kriegs- und Krisenstaaten machten weit mehr als die Hälfte aller registrierten Asylerstanträge aus (54,7%); Syrien war für mehr als ein Drittel (35,5%) verantwortlich.
Mit der Türkei, dem Iran, Somalia, Nigeria und Eritrea sind weitere Staaten unter den Top 10 der Hauptherkunftsländer zu finden, in denen gravierende Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind.
Einreisen um Vielfaches niedriger als 2015 und 2016
Obwohl die Zahlen im Vergleich zu den Höchstständen der Jahre 2015 und 2016 erneut um ein Vielfaches gesunken sind und weit unter der im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Zahl von 180.000–220.000 pro Jahr liegen, beklagt BAMF-Präsident Sommer das weiterhin hohe Niveau der Zahlen und dass Deutschland zusammen mit Frankreich und Spanien zu den Hauptzielländern in der EU gehöre.
Angesichts der verzweifelten Lage von Menschen, die vor diktatorischen Regimes, Krieg, Bürgerkrieg und Menschenrechtsverletzungen fliehen, sind solche Aussagen des Chefs einer Asylbehörde, die zur neutralen Prüfung von Schutzgesuchen verpflichtet ist, nicht akzeptabel und geben die Realität nicht wieder.
Ausreisen und Abschiebungen nicht mitkalkuliert
Zwar kommen zu den rund 76.000 neu eingereisten Asylsuchenden noch Resettlement und humanitäre Aufnahmen (z.B. Geflüchtete von den griechischen Inseln) sowie der Nachzug von Familienangehörigen (hochgerechnet auf das Jahr 2020 ca. 9.000) hinzu, auf der Gegenseite müssen Abschiebungen (ca. 10.500) und sogenannte »freiwillige Ausreisen« (ca. 20.000) abgezogen werden (Hochrechnung basierend auf der Fragestunde im Deutschen Bundestag am 16. Dezember 2020, Frage 14 der Abgeordneten Ulla Jelpke).
Deutschland hat Platz!
Nach allen Abzügen käme man auf rund 55.000–60.000 Menschen – eine Zahl, die in der Realität aber noch deutlich niedriger sein dürfte, da viele »freiwillige Ausreisen« statistisch überhaupt nicht erfasst werden und unter den Asylsuchenden zudem mehrere tausend Menschen sind, die Im Wege des Familiennachzugs eingereist sind und zur Statusklärung Asyl beantragen, also doppelt gezählt werden.
Letztendlich liegt die Zahl der tatsächlich neu eingereisten Menschen also im Bereich von gerade mal einem Viertel des von der GroKo so bezeichneten »Zuwanderungskorridors«. Angesichts des Rekordwerts von über 80 Mio. Menschen gestiegenen Flüchtlingszahl weltweit und der unhaltbaren Zustände in griechischen oder bosnischen Elendslagern wäre es das menschenrechtliche Gebot der Stunde, die Kapazitäten hierzulande zu nutzen und endlich Menschen aufzunehmen.
Restriktive Entscheidungspraxis
Auch die flüchtlingspolitische Realität im Inland ist eine andere, als man angesichts der niedrigen Zugangszahlen erhoffen dürfte: Zwar ist die Schutzquote (bereinigt) mit 57,3% weiterhin auf dem Niveau von 2019 und klingt vergleichsweise hoch. Allerdings ist auch diese Zahl mit äußerster Vorsicht zu genießen und keinesfalls als Zeichen von Humanität zu werten. So ist ein Großteil der Flüchtlingsanerkennungen nicht Ergebnis von eigenständigen Asylverfahren, sondern abgeleitet von bereits anerkannten engen Familienangehörigen, etwa für hier geborene Kinder anerkannter Flüchtlinge.
Ein Großteil der Flüchtlingsanerkennungen ist allerdings abgeleitet von bereits anerkannten engen Familienangehörigen, etwa für hier geborene Kinder anerkannter Flüchtlinge.
Kaum noch Flüchtlingsanerkennungen bei neu Eingereisten
Zum Halbjahr waren rund 97% der Anerkennungen bei Syrer*innen abgeleiteter Familienschutz – insgesamt fast die Hälfte aller Flüchtlingsanerkennungen durch das BAMF überhaupt. Auch andere »große« Herkunftsländer wie Irak (94% abgeleitet), Eritrea (97%) oder Afghanistan (72%) sind in hohem Maße davon betroffen – diese Quoten dürften sich in der zweiten Jahreshälfte kaum verändert haben.
Somit gibt es also kaum noch Flüchtlingsanerkennungen für neu eingereiste Asylsuchende, sondern zumeist nur noch maximal den subsidiären Schutz. Das hat auch zur Konsequenz, dass die Betroffenen keinen Rechtsanspruch auf Familiennachzug haben. Stattdessen wird ihr Familiennachzug aus Kriegs- und Krisengebieten so verzögert oder gar verhindert. Auch so werden Zugangszahlen gedrückt.
Massenhaft falsche Asylbescheide
Und es kommt noch schlimmer: Nach wie vor ergehen beim BAMF unzählige falsche Entscheidungen. Zum Halbjahr 2020 mussten rund 30% der inhaltlich überprüften Bescheide durch Gerichte korrigiert und aufgehoben werden. Auch hier hat sich im Gesamtjahr wohl leider wenig zum Besseren gewendet, wie allein die Zahlen zu Afghanistan verdeutlichen: Lag hier die Quote der aufgehobenen Afghanistan-Bescheide Ende Mai noch bei 54,1%, stieg diese bis Ende September sogar noch weiter an und lag bei 59,1%. Dass beim BAMF die vom Innenminister behauptete »durchgehende Überprüfung der Qualität der Asylentscheidungen erfolgt« und die flächendeckenden Einführung der Asylverfahrensberatung ein Erfolgsmodell sei, lässt sich aus diesen Zahlen nicht ablesen.
Obwohl das BAMF mit 145.071 Entscheidungen über Asylverfahren im Vergleich zum Vorjahr 21,1% weniger Entscheidungen zu treffen hatte, führte dies nicht zu einer gestiegenen Qualität der Asylentscheidungen.
Widerrufsbehörde BAMF
Das BAMF könnte diese frei gewordenen Kapazitäten nutzen um die eigene Fehlerquote zu senken oder bereits ergangene Asylbescheide zumindest bei Ländern mit hoher Aufhebungsquote erneut zu überprüfen, um die nach wie vor überlasteten Gerichte etwas zu entlasten. Stattdessen steckt die Behörde ihre Kapazitäten aber in Widerrufsprüfungen. In diesen Verfahren wird geprüft, ob Schutzberechtigte noch schutzbedürftig sind, also ob sich beispielsweise die Situation in ihrem Herkunftsland gravierend geändert hat und sie zurückkehren könnten.
Insgesamt 252.940 Entscheidungen in diesen Verfahren bedeuten, dass mittlerweile fast zwei Drittel aller BAMF-Entscheidungen Entscheidungen über Widerrufsprüfungen sind und nur noch etwas mehr als ein Drittel Asylentscheidungen. Weitere 148.873 solcher Widerrufsprüfverfahren waren Ende 2020 anhängig.
Zehntausende Schutzberechtigte wurden im Rahmen von Widerrufsprüfungen zu persönlichen Befragungen vorgeladen, die unter den Betroffenen regelmäßig Angst und Schrecken verbreiten.
Keine Besserung in den Herkunftsländern
Im Hinblick darauf, dass fast 87% dieser Verfahren Menschen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und Eritrea betreffen, also Staaten, in denen in den vergangenen Jahren kaum relevante Veränderungen zu einer besseren menschenrechtlichen Lage festzustellen sind, ist dies ein unhaltbarer Zustand. Zehntausende Schutzberechtigte wurden im Rahmen dieser Widerrufsprüfungen vom BAMF zu persönlichen Befragungen vorgeladen, die unter den Betroffenen regelmäßig Angst und Schrecken verbreiten. Dementsprechend kommt es auch in fast 97% der Fälle nicht zu einem Widerruf.
Längere Asylverfahrensdauer
Auffallend für das vergangene Jahr ist die von 6,1 Monate auf 8,3 Monate gestiegene Dauer der Asylverfahren. In den zur Beschleunigung der Asylverfahren eingeführten AnkER-Zentren liegt die Dauer mit rund 8,5 Monaten sogar noch über dem Durchschnitt – auch dies ein Beleg für die gescheiterte Asylpolitik von Innenminister Seehofer, der noch zur AnkER-Jahresbilanz im August 2019 die »deutlich kürzeren Bearbeitungszeiten« durch die »enge Zusammenarbeit der Behörden unter einem Dach« beworben hatte.
Selbst bei den so genannten »Jahresverfahren«, welche alle Entscheidungen über Erst- und Folgeanträge mit Asylantragstellung in den vergangenen 12 Monaten umfasst, betrug die Verfahrensdauer 3,8 Monate und stieg damit an (2019: 3,1 Monate). Somit gelingt es dem BAMF selbst mit einem solchen Rechentrick nicht, die im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD angestrebte Dauer von 3 Monaten zu erreichen. Eine desaströse Bilanz, durch die einmal mehr nicht nachvollziehbar ist, warum das BAMF Personalkapazitäten in unsinnige Widerrufsverfahren steckt, statt die Dauer der Asylverfahren zu kürzen.
Trotz Corona viele Dublin-Verfahren
Auch die Zahl der so genannten Dublinverfahren bleibt hoch: Mit 30.135 Übernahmeersuchen wurde in nahezu einem Drittel aller Asylverfahren (29,4%) ein anderer europäischer Staat für zuständig erachtet. Diese Verfahren wurden über das Jahr hinweg mit gnadenloser Härte durch- und weitergeführt, obwohl zwischenzeitlich durch den ersten Corona-Lockdown die innereuropäischen Grenzen geschlossen und Dublin-Überstellungen überhaupt nicht möglich waren.
Auch eine solche rein der Abschreckung dienenden Praxis führt zu künstlich in die Länge gezogenen Asylverfahren; insbesondere die vielen Menschen, denen später Schutz gewährt werden muss, sind von dieser unsäglichen Praxis betroffen. Dementsprechend ist die Zahl der Überstellungen mit 2.953 zwar immer noch viel zu hoch, im Vergleich zu den gestellten Übernahmeersuchen aber sehr, sehr niedrig. Eine Überstellungsquote von weniger als 10% im Hinblick auf alle eingeleiteten Dublinverfahren lässt erahnen, dass angesichts weniger Überstellungen dennoch enormer Verfahrensaufwand betrieben wird. Zusätzlich finden im Gegenzug auch Dublin-Überstellungen nach Deutschland statt, die gegengerechnet werden müssen. Im Ergebnis werden Geflüchtete ohne Sinn zwischen den EU-Staaten hin- und hergeschoben, ohne dass Staaten Verantwortung für die Zuständigkeit übernehmen.
Es bedarf endlich einer zukunftsorientierten, menschenrechtsbasierten Flüchtlingspolitik!
Menschenrechte in den Vordergrund rücken!
Die hier lebenden Schutzberechtigten und die neu einreisenden Asylsuchenden mit allerlei gesetzlichen und administrativen Schikanen systematisch in ihren Rechten einzuschränken und sie in einem ständigen Status der Unsicherheit und des Nicht-Willkommen-Seins zu belassen, ist keine zukunftsorientierte Politik – zumal die meisten Menschen angesichts der Situation in den Flüchtlingsherkunftsländern dauerhaft hier bleiben werden. Es sollten endlich wieder menschenrechtliche Aspekte in den Vordergrund der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik rücken.
(dmo)