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Griechenland: Selbst anerkannten Flüchtlingen droht Verelendung

Viele anerkannte Flüchtlinge, die die Insel-Hotspots verlassen dürfen, landen in Athen auf der Straße. Gesetzesänderungen haben ihre Lebensbedingungen weiter verschlechtert. Für Schutzsuchende gibt es auch auf dem griechischen Festland keine Perspektive - das geht aus Berichten von PRO ASYL und Refugee Support Aegean (RSA) hervor.
Anfang Juli 2020 liegen hunderte anerkannte Flüchtlinge auf grauen Decken auf dem Victoria Square in Athen. Viele haben gerade erst das Asylverfahren auf der Insel Lesbos durchlaufen. Zwar konnten sie Moria nach der Gewährung eines Schutzstatus verlassen, Schutz und Sicherheit erfahren Flüchtlinge nach dem Verfahren allerdings nicht. Wie zuvor sind sie auch in Athen auf sich alleine gestellt.
Und die griechische Regierung regiert auf die obdachlosen Geflüchteten mit weiteren Repressionen, anstatt für angemessene Unterbringung zu sorgen: Sie entfernt Bänke, die zuvor auf dem Platz gewesen sind. Immer wieder kommt es zu gewaltsamen Räumungen.
Die Betroffenen werden erneut in volle Lager gebracht, die sie eigentlich verlassen sollten. Erneut haben sie nur einen temporären und prekären Unterschlupf. Mit den nächsten anerkannten Flüchtlingen, die die Insel-Hotspots verlassen, wiederholt sich die Situation. Alternativlos landen viele erneut auf dem Victoria Square.
Die Situation von Flüchtlingen auf dem Victoria Square
Der Bericht »Recognised but unprotected: The situation of refugees in Victoria Square« (August 2020) von PRO ASYL / Refugee Support Aegean dokumentiert die Situation mehrerer vulnerabler afghanischer Familien, die im Sommer 2020 begleitet wurden. Die meisten erreichten die griechische Insel Lesbos im Frühjahr 2020. Ihre Asylanträge wurden – auch vor dem Hintergrund der Covid-19 Pandemie – beschleunigt akzeptiert und sie wurden aufgefordert, das Lager zu verlassen.
»Ich habe in Mytilini [der Inselhauptstadt von Lesbos] mein Kind zur Welt gebracht und kehrte mit meinem Baby ins Zelt zurück. Es leidet seitdem unter häufigem Fieber … wir wurden darüber informiert, dass die Geldzahlungen eingestellt werden und wir mussten das Lager Moria verlassen und nach Athen gehen. Jetzt sind wir seit über einer Woche obdachlos.«
Der Bericht zeigt, dass selbst Familien mit kleinen oder kranken Kindern keine Hilfe erfahren und stattdessen Opfer von Polizeigewalt werden. Aber auch auf dem griechischen Festland gibt es für Flüchtlinge kaum eine Perspektive. Diese aussichtlose Situation bringt viele Schutzberechtigte dazu, Griechenland verlassen zu wollen. Sie versuchen, in andere EU-Staaten weiterzufliehen, um dort ein Leben in Würde führen zu können.
Szenenwechsel: Die Angst vor der Abschiebung zurück ins griechische Elend
Der Fall Darwesh gegen Griechenland und Niederlande vor dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist exemplarisch für viele Fälle: Eine vierköpfige syrische Familie mit Anerkennung in Griechenland fürchtet die Abschiebung aus den Niederlanden dorthin zurück. Sie mussten bereits Obdachlosigkeit und Perspektivlosigkeit in Griechenland erfahren und befürchten, erneut mit ihren zwei Kleinkindern ohne Unterbringung, ohne Krankenversicherung, ohne Einkommen in Armut zu landen. Die Mutter der Familie ist durch eine Erkrankung auf regelmäßige fachärztliche Behandlung angewiesen. Sie fürchtet, keinen Zugang zur lebenswichtigen Versorgung zu erhalten, sollte sie und ihre Familie nach Griechenland abgeschoben werden.
Gemeinsam mit unserer griechischen Partnerorganisation Refugee Support Aegean (RSA) haben wir mit einer Third Party Intervention in dem Fall interveniert.
Bei Verfahren vor dem EGMR haben NGOs und andere Dritte, die selbst nicht Streitparteien sind, die Möglichkeit, Stellungnahmen in Form von sogenannten Drittinterventionen (»Third Party Intervention«) abzugeben. Von dieser Möglichkeit macht unsere griechische Partnerorganisation Refugee Support Aegean (RSA) gemeinsam mit der Stiftung PRO ASYL im Fall der syrischen Familie Gebrauch.
Mit der am 4. Juni 2020 beim EGMR eingereichten Stellungnahme gehen unsere Rechtsexpert*innen auf die aktuelle Situation von Personen mit internationalem Schutzstatus in Griechenland in den Bereichen Wohnen, Beschäftigung, Sozialhilfe, Gesundheitsversorgung und Rechtsschutz ein. Auf Grundlage der Analyse bekräftigen wir die Befürchtungen der Familie. Innerhalb kurzer Zeit droht Menschen, die nach Griechenland abgeschoben wurden, unabhängig von ihrem persönlichen Engagement die Verelendung.
Bereits 2017 und 2018 haben wir, gemeinsam mit unserer Partnerorganisation Refugee Support Aegean die Lebenssituation international Schutzberechtigter in Griechenland dokumentiert. Die Third Party Intervention aktualisiert diese Stellungnahmen.
Seit dem Regierungswechsel in Griechenland im Juli 2019 haben sich die Lebensbedingungen für Menschen mit internationalem Schutz weiter verschlechtert. Im April 2020 erklärte der neue Minister für Migration und Asyl, Notis Mitarakis, dass Personen, die einen Schutzstatus erhalten, »von diesem Zeitpunkt an verpflichtet sind, für sich selbst zu sorgen, so wie es jeder Bürger tut«.
Diese Leitlinie wird in den jüngsten Gesetzesänderungen deutlich. Der Zugang zur staatlichen Hilfe bleibt für anerkannte Flüchtlinge mangelhaft, ein umfassendes Integrationsprogramm ist weiterhin nicht vorhanden. Durch hohe Voraussetzungsketten sind elementare Leistungen wie die medizinische Versorgung für viele nicht zugänglich.
Gesetzesnovelle setzt Anerkannte auf die Straße
Bisher wurden international Schutzberechtigte in Griechenland, die während des Asylverfahrens in einer temporären Aufnahmeeinrichtung gelebt hatten, nach positivem Abschluss des Asylverfahrens weitere 6 Monate in den Unterkünften geduldet. Ab 1. Mai sind nun alle Personen verpflichtet, 30 Tage nach Bekanntgabe des Schutzstatus die temporären Wohnungen und Lager zu verlassen. Lediglich in besonderen Härtefällen ist eine Verlängerung möglich.
Der Zugang zur staatlichen Hilfe bleibt für anerkannte Flüchtlinge mangelhaft, ein umfassendes Integrationsprogramm ist weiterhin nicht vorhanden. Für viele sind elementare Leistungen wie die medizinische Versorgung oft nicht zugänglich.
Trotz zahlreicher Warnungen der griechischen Zivilgesellschaft und des UNHCR wurden somit 11.237 Menschen aufgefordert, ihre Unterkünfte am 01. Juni zu verlassen. Viele sind der Aufforderung nachgekommen. Hinzu kommen Tausende international Schutzberechtigte, die bereits obdachlos sind, inoffiziell in Camps oder unter anderen unzumutbaren Wohnungsbedingungen leben, weil sie nie in Aufnahmeeinrichtungen leben konnten, oder diese bereits verlassen mussten. Und die Zahl der Betroffenen steigt mit jeder Person, die einen Schutzstatus erhält.
Abgeschobene aus anderen europäischen Ländern erhalten weiterhin keine Unterbringung. Auch von vielen Unterstützungsprogrammen sind sie ausgeschlossen. In der Regel kommen sie am Flughafen von Athen in Griechenland an und sind auf sich allein gestellt. Informationen über Unterbringungsmöglichkeiten werden ihnen nicht ausgehändigt.

Der Irrlauf durch die Behörden
Theoretisch sollten Schutzberechtigten soziale Rechte wie Sozialleistungen, Leistungen des Gesundheitssystems und die Unterbringung in Obdachloseneinrichtungen offen stehen. Dafür wird eine Vielzahl von Dokumenten benötigt. Die Ausstellung dieser Dokumente ist problematisch, da sie an Voraussetzungen geknüpft sind, die viele international Schutzberechtigten nicht erfüllen und teils wechselseitig vom Vorhandensein weiterer Dokumente abhängig sind. Das führt dazu, dass die wenigsten international Schutzberechtigten in der Lage sind, sie zu beschaffen und von den begrenzten Hilfsangeboten ausgeschlossen bleiben.
Keine Steuer-ID = Keine Sozialversicherungsnummer, keine Wohnung, kein Zugang zum Arbeitsmarkt, keine medizinische Versorgung.
Ein Beispiel dieser endlosen Schleife ist die griechische Steuer-Identifikationsnummer (AFM) – sie wird benötigt um eine Wohnung zu mieten, eine Sozialversicherungsnummer (AMKA) zu beantragen und Zugang zum Arbeitsmarkt und zur Sozialhilfe zu erhalten und ein Bankkonto zu eröffnen. Um sich für die Ausstellung der AFM beim Finanzamt zu registrieren, ist ein Nachweis über den Wohnsitz notwendig. Menschen, die obdachlos sind oder einen entsprechenden Nachweis nicht vorlegen können, erhalten keine Steuer-Identifikationsnummer. Zwar würde auch ein Nachweis über die Wohnungslosigkeit zur Ausstellung genügen, der allerdings ist für viele fast unmöglich zu bekommen. Der Nachweis ist an die Bedingung geknüpft, dass Streetworker*innen der Stadt Athen Obdachlose persönlich auf der Straße antreffen.
Scheitern betroffene Personen mit internationalem Schutz an der Ausstellung einer Steuer-ID, erhalten sie auch keine Sozialversicherungsnummer (AMKA), die allerdings Grundvoraussetzung ist, um Zugang zum schwer gebeutelten Gesundheitssystem und Arbeitsmarkt zu erhalten. Wer keine Sozialversicherungsnummer hat, muss die Kosten für medizinische Behandlung selbst tragen. Nicht nur in Fällen, in denen eine regelmäßige fachärztliche Behandlung notwendig ist, können sich Betroffene eine medizinische Behandlung daher nicht leisten.
EU Staaten halten an Abschiebungen fest
Trotz der sich verschärfenden Missstände halten EU Staaten an Abschiebungen nach Griechenland fest. Von Januar 2019 bis April 2020 wurde Griechenland laut griechischer Polizei in 2.299 Fällen ersucht, Anerkannte zurück zunehmen – die meisten solcher Anfragen kamen aus Deutschland (56%). Im gleichen Zeitraum wurden 328 Personen mit internationalem Schutz nach Griechenland abgeschoben, 69 davon aus Deutschland. Von insgesamt 28 Familien, die in dem genannten Zeitraum nach Griechenland abgeschoben wurden, wurden fünf Familien aus Deutschland abgeschoben.
Die Zahl der Abschiebungen von anerkannten Schutzberechtigten übersteigt somit die Zahl der Abschiebungen von Asylsuchenden unter der Dublin-Verordnung. Zum Vergleich: Zwischen Januar 2019 und Februar 2020 wurden 39 Schutzsuchende unter Anwendung der Dublin-Verordnung nach Griechenland abgeschoben.
Anerkannten Flüchtlingen droht Verelendung
Es ist Aufgabe des Staates, international Schutzberechtigten Zugang zu sozialen Rechten nicht nur theoretisch, sondern in der Praxis zu garantieren und alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um sie vor Obdachlosigkeit und existentieller Not zu schützen. Europa- und menschenrechtlich verbieten sich deshalb Abschiebungen nach Griechenland.
Und der Bericht zeigt: Auch für die Schutzsuchenden auf den ägäischen Inseln ist eine Überstellung aufs Festland keine Option. Sie brauchen eine dauerhafte Lösung, die nur die Evakuierung in andere EU-Staaten sein kann.