11.08.2022
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Gemälde an der Wand des ehemaligen Frauenministeriums in Afghanistan. Aufschrift: Die Afghanischen Frauen werden nicht schweigen. Foto: picture alliance / abaca | Yaghobzadeh Alfred/ABACA

Bedrohungen, Mordanschläge, Flucht und Verluste. Die Frauenrechtlerinnen der afghanischen Gruppe »United Voice of Women for Peace« wurden, wie sie selbst sagen, aus der Hölle gerettet. Und im deutschen Exil vernetzen sie sich, kämpfen weiter für Menschenrechte, Frieden und ihre Träume – und richten dafür Forderungen an Deutschland und die Welt.

Die eine stellt sich vor, als Diplo­ma­tin ihr Land Afgha­ni­stan zu ver­tre­ten, die ande­re träumt davon, ihr Land als Bil­dungs­mi­nis­te­rin vor­an­zu­brin­gen. Und die Toch­ter der Drit­ten möch­te als Poli­zis­tin für Recht und Sicher­heit in Afgha­ni­stan sor­gen. Doch vor einem Jahr, als die Tali­ban nach ihrem wochen­lan­gen Marsch durch das Land auch die Haupt­stadt Kabul ein­nah­men, lös­ten sich die dama­li­gen Plä­ne der Frau­en in Luft auf: Sie muss­ten sich ver­ste­cken, alles auf­ge­ben, ihre Eltern zurück­las­sen, in frem­de Län­der fliehen.

PRO ASYL hilft bei der Vernetzung der Frauen

Doch ihre Träu­me, Hoff­nun­gen und vor allem ihr Wil­le, für ein frei­es, fried­li­ches und gerech­tes Afgha­ni­stan zu kämp­fen, sind geblie­ben. Par­mi­la* hat den Traum, Diplo­ma­tin zu wer­den, nicht auf­ge­ge­ben, Mina wirbt in Deutsch­land um Unter­stüt­zung für Frau­en, die trotz des Ver­bots wei­ter­hin Mäd­chen in Afgha­ni­stan unter­rich­ten. Und Simin* will wei­ter für Frau­en­rech­te kämp­fen – auch für die Zukunft ihrer Tochter.

Die drei Frau­en sind Teil der afgha­ni­schen Frau­en­grup­pe »United Voice of Women for Peace«, die ab 2019 das Frie­dens­mi­nis­te­ri­um in Afgha­ni­stan für die Frie­dens­ver­hand­lun­gen mit den Tali­ban beriet. Seit weni­gen Wochen, die ers­ten seit Mit­te Juni 2022, sind rund 30 von ihnen in Deutsch­land ange­kom­men oder auf dem Weg dahin. Ermög­licht wur­de das durch huma­ni­tä­re Visa. PRO ASYL for­der­te die­se für die Frau­en­recht­le­rin­nen von der Bun­des­re­gie­rung ein und unstütz­te sie so.

Bereits im Mai hat­ten wir über den lan­gen Weg raus aus Afgha­ni­stan in unse­rem Pod­cast berich­tet. Jetzt anhören:

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Zehntausende warten noch immer auf Rettung

Eini­ge der Frau­en war­ten noch auf Auf­nah­me­zu­sa­gen aus Deutsch­land. Wie auch Zehn­tau­sen­de wei­te­re Frau­en und Män­ner. »Wir wur­den aus der Höl­le geret­tet. Jetzt sind wir in Deutsch­land und in Frei­heit. Aber die grau­sa­men Taten der Tali­ban gegen­über Tau­sen­den wei­te­ren Frau­en und Män­nern, die Ähn­li­ches erlei­den wie wir, gehen uns nicht aus dem Kopf. Auch ein Jahr nach der Macht­über­nah­me der Tali­ban war­ten Zehn­tau­sen­de immer noch auf eine Auf­nah­me­zu­sa­ge und ihre Eva­ku­ie­rung. Der Pro­zess, bis eine Per­son end­lich aus Afgha­ni­stan aus­rei­sen darf, dau­ert viel zu lan­ge«, heißt es in dem Appell, den die Frau­en Anfang August verabschiedeten.

PRO ASYL hat­te sie zu einem ers­ten Tref­fen nach Frank­furt ein­ge­la­den, damit sie sich nach Mona­ten der Angst wie­der­se­hen, ver­net­zen und ihre Arbeit für die Men­schen­rech­te in Afgha­ni­stan im Exil fort­set­zen konn­ten. Schon zum 8. März, dem Inter­na­tio­na­len Frau­en­tag, hat­ten sich die Frau­en aus ihrer ver­zwei­fel­ten Situa­ti­on her­aus mit einem ers­ten Appell an die Bun­des­re­gie­rung gewandt: »Holt uns hier raus!«

Ein Jahr Taliban: Frauengruppe appelliert an Regierungen

Die Frau­en von »United Voice of Women for Peace« haben in Afgha­ni­stan für die Wer­te gestrit­ten, die die Tali­ban ver­ach­ten und bekämp­fen: glei­che Rech­te für Frau­en und Män­ner, eine demo­kra­ti­sche Ver­fas­sung, Bil­dung, Frie­den und Frei­heit. Und sie wol­len das auch wei­ter­hin tun, wie bei dem Tref­fen deut­lich wur­de. »In Deutsch­land ange­kom­men, enga­gie­ren wir uns für die­se Tau­sen­den Zurück­ge­las­se­nen, die für die demo­kra­ti­schen Wer­te ste­hen«, heißt es in dem Appell mit der Über­schrift »Ein Jahr Tali­ban in Afgha­ni­stan: Lebens­ge­fahr, Unter­drü­ckung, Hun­ger und Chaos«.

So wie Mina Sta­nik­zai. Die 28-Jäh­ri­ge ist über­zeugt: »Die Frau­en in Afgha­ni­stan sind die stärks­te Kraft, um das Land zu ver­än­dern. Sie erhe­ben ihre Stim­me, Frau­en sind muti­ger als Män­ner.« Nur Frau­en hät­ten sich nach der Macht­er­grei­fung der Tali­ban getraut, gegen die­se zu demons­trie­ren. Sie selbst konn­te nicht dabei sein, zu bekannt war sie durch ihr frü­he­res Enga­ge­ment im Bil­dungs­we­sen der Pro­vinz­re­gie­rung von Logar, einer klei­nen Pro­vinz im Osten des Lan­des: Sie rang Dorf­äl­tes­ten die Zustim­mung zu Mäd­chen­schu­len in ihren Dör­fern ab, erwei­ter­te bestehen­de Schu­len, sorg­te für Alpha­be­ti­sie­rungs-Kur­se für Frauen.

»Wenn Orga­ni­sa­tio­nen oder Staa­ten Geld für Schu­len in Afgha­ni­stan geben wol­len, sol­len sie ihre Geld­zah­lun­gen an die Bedin­gung knüp­fen, dass Mäd­chen auch nach der sechs­ten Klas­se den vol­len Bil­dungs­weg beschrei­ten können«

For­de­rung der »United Voice of Women for Peace«

Todes­dro­hun­gen und Hand­gra­na­ten gegen poli­tisch Aktive

Und wur­de schon damals, als die Tali­ban noch nicht offi­zi­ell die Herr­schaft hat­ten, mit dem Tode bedroht – genau wie ihr Mann, der Vor­sit­zen­der des Pro­vinz­ra­tes und Mit­glied im Mili­tär­rat war. Hand­gra­na­ten und Stei­ne flo­gen auf das Dach ihres Hau­ses, das Auto wur­de beschä­digt, Droh­brie­fe lagen im Post­kas­ten – und sogar von einem Selbst­mord­at­ten­tä­ter spricht sie. »Ich habe den Tali­ban ins Gesicht geschaut, aber ich habe mei­ne Arbeit nicht gestoppt«, sagt die jun­ge Frau.

Doch nach der Macht­er­grei­fung der Tali­ban – in Logar waren sie schon frü­her als in der Haupt­stadt, muss­ten sie und ihr Mann alles zurück­las­sen, flie­hen, sich mona­te­lang ver­ste­cken, immer wie­der an neu­en Orten. Heu­te lebe der Pro­vinz­chef der Tali­ban in ihrem Haus, erzählt sie. Und alle Mäd­chen­schu­len, für die sie gekämpft hat­te, sind geschlos­sen, die Mäd­chen, die hoff­nungs­voll mit ihren Ran­zen und Schul­uni­for­men kamen, stan­den vor ver­schlos­se­nen Toren.

Frauen fordern Bildung für Mädchen

Den­noch gibt Mina Sta­nik­zai nicht auf. Sie hält die Ver­bin­dung zu ihren ehe­ma­li­gen Kol­le­gin­nen in Afgha­ni­stan, ver­netzt sich in Deutsch­land, wirbt um Unter­stüt­zung für die Bil­dung von Mäd­chen und für die Frau­en, die trotz dra­ko­ni­scher Straf­an­dro­hun­gen wei­ter­hin Mäd­chen in gehei­men Schu­len unterrichten.

So lau­tet auch eine der zwölf For­de­run­gen aus dem Appel der »United Voice of Women for Peace«: »Auch älte­re Mäd­chen müs­sen in Afgha­ni­stan wie­der zur Schu­le gehen kön­nen. Wenn Orga­ni­sa­tio­nen oder Staa­ten Geld für Schu­len in Afgha­ni­stan geben wol­len, sol­len sie ihre Geld­zah­lun­gen an die Bedin­gung knüp­fen, dass Mäd­chen auch nach der sechs­ten Klas­se den vol­len Bil­dungs­weg beschrei­ten können.«

Schock über schnellen Vormarsch

Auch Simin will wei­ter­kämp­fen für die Sache in Afgha­ni­stan, auch wenn die 33-Jäh­ri­ge noch immer geschockt ist, dass die Tali­ban selbst die Haupt­stadt Kabul so schnell erobern konn­ten. Nach so vie­len Jah­ren, in denen der afgha­ni­sche Staat zivi­le und mili­tä­ri­sche Struk­tu­ren auf­ge­baut hat­te, das Mili­tär mit Hil­fe aus dem Wes­ten aus­ge­bil­det wor­den war, eine demo­kra­ti­sche Ver­fas­sung ver­ab­schie­det wor­den war, »da hat­te ich erwar­tet, dass Armee und Poli­zei unse­re Haupt­stadt ver­tei­di­gen könn­ten«, sagt sie. Doch auch sie muss­te, wie vie­le ande­re, am 15. August 2021, als die Tali­ban ein­mar­schier­ten, über­stürzt mit Mann und Toch­ter fliehen.

Afghaninnen fordern Umsetzung des Koalitionsvertrags

Doch ihre Eltern sind noch immer in Gefahr und bit­ten sie, sich in Deutsch­land nicht öffent­lich poli­tisch zu äußern, wes­halb sie ihren Namen geän­dert hat. Drei For­de­run­gen aus dem Appell sind der Frau, die Inter­na­tio­na­le Bezie­hun­gen stu­dier­te und an meh­re­ren Unis lehr­te, beson­ders wich­tig. Eine For­de­rung geht an die deut­sche Bundesregierung:

Set­zen Sie den Koali­ti­ons­ver­trag sofort um. Dort wur­de ver­spro­chen, die­je­ni­gen beson­ders zu schüt­zen, »die Deutsch­land als Part­ner zur Sei­te stan­den und sich für Demo­kra­tie und gesell­schaft­li­che Wei­ter­ent­wick­lung ein­ge­setzt haben«. Die Koali­ti­on ver­ab­re­de­te unter ande­rem »huma­ni­tä­re Visa für gefähr­de­te Per­so­nen«, eine Reform des Orts­kräf­te­ver­fah­rens, ein Bun­des­auf­nah­me­pro­gramm sowie eine Beschleu­ni­gung des Familiennachzugs.

Zwei der For­de­run­gen gehen an die Weltgemeinschaft:

1. Die Welt­ge­mein­schaft darf die De-fac­to-Regie­rung der Tali­ban nicht anerkennen. 

2. Die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft muss die Aus­ga­ben für huma­ni­tä­re Hil­fe für die afgha­ni­sche Bevöl­ke­rung trans­pa­rent machen. Der­zeit ist unklar, wohin sol­che Gel­der fließen.

Obwohl Par­mi­la nun in Deutsch­land in Sicher­heit lebt, kann sie noch immer nicht öffent­lich Kri­tik an den Tali­ban üben. Denn enge Ver­wand­te leben noch in Gefahr in Afghanistan.

Menschen in Afghanistan leben in »dunklen Zeiten«

Auch Par­mi­la, die eben­falls nach mona­te­lan­ger Flucht mit ihrem Ehe­mann Anfang Juli nach Deutsch­land kam, will nicht auf­ge­ben. Die 27-Jäh­ri­ge hat begon­nen, mit Online-Kur­sen Deutsch zu ler­nen und sich zu IT-The­men fort­zu­bil­den. Doch sie hat auch den Appell von ihren Cou­si­nen und Schwes­tern im Ohr, die sag­ten: »Wir sind froh, dass eine von uns Afgha­ni­stan ver­las­sen konn­te. Aber bit­te, erhe­be dort dei­ne Stim­me für uns und für alle Frau­en in Afgha­ni­stan.« Das hat sie frü­her schon getan, vor dem Sturz der Regie­rung war sie lei­ten­de Ange­stell­te in der Abtei­lung für Gleich­stel­lungs­fra­gen im Frie­dens­mi­nis­te­ri­um und eine hör­ba­re Stim­me für Frau­en- und Men­schen­rech­te, gera­de auch in den sozia­len Medien.

Das wäre Par­mi­la gern wei­ter­hin, doch zwei Umstän­de erschwe­ren es ihr: Enge Ver­wand­te leben noch in Gefahr in Afgha­ni­stan, des­halb kann sie Miss­stän­de und Kri­tik an den Tali­ban nicht frei und offen über die sozia­len Medi­en kom­mu­ni­zie­ren. Und es sei sehr schwer, auf die dra­ma­ti­sche Lage in ihrer Hei­mat, auf Unter­drü­ckung, Hun­ger und Mor­de, auf­merk­sam zu machen, sagt Par­mi­la, die Inter­na­tio­na­le Bezie­hun­gen stu­dier­te: »Die Men­schen in Afgha­ni­stan durch­le­ben dunk­le Zei­ten, doch die Welt schaut nur zu und igno­riert Afgha­ni­stan.« Der­zeit dre­he sich alles nur um den Krieg in der Ukraine.

Den­noch will auch Par­mi­la die Hoff­nung nicht auf­ge­ben. Sie will, wie die ande­ren Frau­en von »United Voice of Women for Peace« auch, wei­ter für ihr Land kämp­fen, für Frie­den, Gerech­tig­keit, Demo­kra­tie und Men­schen­rech­te – damit Frau­en dort wie­der als Diplo­ma­tin­nen, Poli­zis­tin­nen und Minis­te­rin­nen arbei­ten können.

(wr)