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Abschiebungen im Niemandsland – EGMR-Verfahren zum span. Grenzzaun
Die Grenzzäune an den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla stehen seit langem für das Bild der „Festung Europa“. Über die Abschiebepraxis der spanischen und marokkanischen Behörden muss nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg entscheiden. Das Urteil könnte zu einem bedeutenden Präzedenzfall über das EU-Grenzregime werden.
An der spanisch-marokkanischen Grenze stoßen Flüchtlinge auf eine fast undurchdringliche Wallanlage aus Zäunen, Antikletter-Gittern und Überwachungskameras. Immer wieder finden dort Abschiebungen von Flüchtlingen statt – ohne rechtsstaatliches Verfahren, ohne Prüfung ihrer Asylgründe. „Heiße Abschiebungen“ nennen die spanischen Grenzpolizisten diese Praxis. Denn schaffen es Flüchtlinge dennoch die Zäune zu überqueren, dienen Tore in der Wallanlage dazu die Menschen sofort auf die marokkanische Seite zurückzudrängen.
Die rechtliche Fiktion dahinter: Zwar betreten die Flüchtlinge spanisches Territorium, jedoch sei das spanische Flüchtlingsrecht erst anwendbar, wenn die hinter den Zäunen stehenden Polizeiketten überwunden werden. Die spanische Grenze ist in diesem Sinne nicht statisch, sondern dynamisch und hängt von dem Gusto der eingesetzten PolizistInnen ab. Dieses rechtliche Niemandsland wurde jüngst durch den spanischen Gesetzgeber mit der „Ley de protección de laseguridad ciudadana“ (Gesetz zum Schutz der bürgerlichen Sicherheit) verrechtlicht.
Klage gegen die Abschiebepraxis in Melilla
Diese menschenrechtlich höchst fragwürdige Praxis wurde schon sehr lange durch Menschenrechtsorganisationen kritisiert. Auch PRO ASYL hat im Rahmen seiner Rechtshilfe schon einige Flüchtlinge unterstützt, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen an der spanischen Grenze geworden sind. Dank dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), einer juristischen Organisation aus Berlin, wurde nun ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eröffnet (N.D. und N.T. gg Spanien, Az.: 8675/15 und 8697/15). Der spanische Staat muss bis zum 21. Dezember 2015 Stellung nehmen, ob die Abschiebepraxis in Melilla mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar ist. Geklagt haben zwei Flüchtlinge aus Mali und der Elfenbeinküste. Sie werfen dem spanischen Staat vor am 13. August 2014 von Melilla nach Marokko abgeschoben worden zu sein.
Immer wieder Misshandlungen in Marokko
Das Verfahren wirft in vielerlei Hinsicht die Frage auf, ob die spanische Grenzpolitik gegen die Menschenrechte verstößt. Zu beachten hat der EGMR sein Urteil Hirsi Jamaa u.a. gegen Italien, das im Jahr 2012 die Abschiebepraxis Italien auf der Hohen See deutlich verurteilte. Viele Erwägungen aus diesem Verfahren sind auch für den Melilla-Fall relevant.
Die Vertragsstaaten der EMRK dürfen beispielsweise nach Art. 3 EMRK niemanden in einen Staat zurückweisen, in dem ihm/ihr Folter oder unmenschliche oder erniedrigender Behandlung droht. Gerade für zurückgeschobene Flüchtlinge aus subsaharischen Staaten ist die Situation in Marokko menschenunwürdig. Sie leben dort in provisorischen Camps nahe der Grenze, die oft von der Polizei zerstört werden. Auch widerfahren ihnen immer wieder Misshandlungen durch marokkanische Sicherheitskräfte. In den Fällen, die der Beschwerde zugrunde liegen, hat der EGMR allerdings keine Rüge von Art. 3 EMRK als zulässig erachtet, da an den Beschwerdeführern keine konkreten Misshandlungen verübt wurden. Dabei schützt Art. 3 EMRK auch vor einer real möglichen Gefahr der unmenschlichen Behandlung. Zudem wurden andere Flüchtlinge an diesem Tag durch marokkanische Sicherheitskräfte misshandelt – teils unter den Augen der spanischen PolizistInnen.
Unzulässige Kollektivabschiebungen ohne Einzelfallprüfung
Der EGMR hat die Beschwerde aber hinsichtlich einer möglichen Verletzung von Art. 13 EMRK und Art. 4 Zusatzprotokoll 4 (Verbot der Kollektivausweisung) zugelassen. Art. 13 EMRK garantiert Beschwerdeführern den effektiven Zugang zum Rechtsschutz. Eine Überprüfung der Fluchtgründe fand jedoch nicht statt, genauso wenig konnten Beschwerden gegen die Abschiebungen erhoben werden. Im vorliegenden Fall ist zudem eine Verletzung des Verbots der Kollektivausweisung sehr wahrscheinlich. Abschiebungen sind demnach unzulässig, sofern Betroffenen keine individuelle Berücksichtigung ihrer Fluchtgründe ermöglicht wird. Bei den Abschiebungen in Melilla werden Menschen gerade ungeachtet ihrer persönlichen Hintergründe in Massen abgeschoben.
Das spanische Grenzregime als Blaupause der EU
Die Grenzanlagen in Ceuta und Melilla sind Teil eines äußerst effektiven Grenzregimes. Bis Mitte der 2000er Jahre war Spanien noch eines der Hauptzielländer für Flüchtlinge und MigrantInnen. Doch spätestens mit der Cayuco-Krise 2006 setzte der spanische Staat vollständig auf Abschottung. Die Grenzkontrollen wurden ausgelagert, nun übernehmen westafrikanische Staaten wie Mauretanien oder Senegal die Aufgaben. Flüchtlinge werden bereits in westafrikanischen Gewässern davon abgehalten nach Europa zu gelangen. Immer dabei: Spanische Grenzschützer, die die afrikanischen Behörden vor Ort beraten oder sich sogar direkt am Aufbringen von Flüchtlingsbooten beteiligen. Auch die EU ist mit der Grenzagentur Frontex vertreten und effektiviert die Koordination der verschiedenen Polizeieinheiten. Ein juristisches Positionspapier des Forums Menschenrechte zeigt auf, inwiefern diese Kooperationen und Auslagerungen mit internationalem Recht nicht vereinbar sind.
Der Politikwissenschaftler Sebastian Wolff benennt die mit der Auslagerung einhergehenden Probleme: „Aufgrund der Aus- beziehungsweise Vorverlagerung des Grenzschutzes weit vor die Tore Europas, in die Herkunfts- und Transitländer der Migrant_innen, wird dieser zudem heute in Europa kaum noch wahrgenommen. […] Gerade das Schweigen um die spanische Migrationspolitik sollte verdächtig erscheinen und kritische Nachfragen produzieren.“ Denn die Maxime der spanischen Politik lautet: Aus dem Auge, aus dem Sinn. Die aktuellen Versuche der EU, mit der Türkei Kooperationen in der Flüchtlingsfrage einzugehen, folgen dem spanischen Vorbild – mit der Folge, dass die Menschenrechte von Flüchtlingen verletzt werden und sie kaum Möglichkeiten haben, Schutz in Europa zu finden.
Präzedenzfall für das EU-Grenzregime
Das EGMR-Verfahren hat deshalb nicht nur Auswirkungen auf die spanische Abschiebepraxis. Auch zukünftige Kooperationen zwischen der EU und anderen Transitstaaten von Flüchtlingen könnten von der Judikatur des EGMR erfasst werden, so er den Klägern Recht zuspricht. Bereits in diesem Jahr konnte man auch innerhalb Europas mit ansehen, welche Folgen die Etablierung eines rechtlichen Niemandslandes haben kann.
An der ungarischen Grenze wurde im September eine Transitzone eingerichtet, tausende Flüchtlinge mussten unter unwürdigen Zuständen vor den Grenzanlagen ausharren, teilweise wurden sie durch Wasserwerfer und Polizeischläge zurückgedrängt. Unsere Partner vom Helsinki Komitee dokumentierten die Vorfälle. Auch in Norwegen kommt es aktuell zu offensichtlich völkerrechtswidrigen Rückschiebungen von Flüchtlingen in das kurzerhand als „sicher“ erklärte Russland.
Es bleibt zu hoffen, dass der Straßburger Gerichtshof dieser Praxis eine klare Absage erteilt.
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