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Der Zaun in Melilla: Hier kommt es immer wieder zu brutalen Push-Backs durch die spanische Polizei. Der EGMR verhandelt nun eine Klage gegen diese Praxis. Foto: José Palazon / Prodein

Die Grenzzäune an den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla stehen seit langem für das Bild der „Festung Europa“. Über die Abschiebepraxis der spanischen und marokkanischen Behörden muss nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg entscheiden. Das Urteil könnte zu einem bedeutenden Präzedenzfall über das EU-Grenzregime werden.

An der spa­nisch-marok­ka­ni­schen Gren­ze sto­ßen Flücht­lin­ge auf eine fast undurch­dring­li­che Wall­an­la­ge aus Zäu­nen, Anti­klet­ter-Git­tern und Über­wa­chungs­ka­me­ras. Immer wie­der fin­den dort Abschie­bun­gen von Flücht­lin­gen statt – ohne rechts­staat­li­ches Ver­fah­ren, ohne Prü­fung ihrer Asyl­grün­de. „Hei­ße Abschie­bun­gen“ nen­nen die spa­ni­schen Grenz­po­li­zis­ten die­se Pra­xis. Denn schaf­fen es Flücht­lin­ge den­noch die Zäu­ne zu über­que­ren, die­nen Tore in der Wall­an­la­ge dazu die Men­schen sofort auf die marok­ka­ni­sche Sei­te zurückzudrängen.

Die recht­li­che Fik­ti­on dahin­ter: Zwar betre­ten die Flücht­lin­ge spa­ni­sches Ter­ri­to­ri­um, jedoch sei das spa­ni­sche Flücht­lings­recht erst anwend­bar, wenn die hin­ter den Zäu­nen ste­hen­den Poli­zei­ket­ten über­wun­den wer­den. Die spa­ni­sche Gren­ze ist in die­sem Sin­ne nicht sta­tisch, son­dern dyna­misch und hängt von dem Gus­to der ein­ge­setz­ten Poli­zis­tIn­nen ab. Die­ses recht­li­che Nie­mands­land wur­de jüngst durch den spa­ni­schen Gesetz­ge­ber mit der „Ley de pro­tección de lasegu­ri­dad ciu­da­da­na“ (Gesetz zum Schutz der bür­ger­li­chen Sicher­heit) verrechtlicht.

Kla­ge gegen die Abschie­be­pra­xis in Melilla

Die­se men­schen­recht­lich höchst frag­wür­di­ge Pra­xis wur­de schon sehr lan­ge durch Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen kri­ti­siert. Auch PRO ASYL hat im Rah­men sei­ner Rechts­hil­fe schon eini­ge Flücht­lin­ge unter­stützt, die Opfer von Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen an der spa­ni­schen Gren­ze gewor­den sind. Dank dem Euro­pean Cen­ter for Con­sti­tu­tio­nal and Human Rights (ECCHR), einer juris­ti­schen Orga­ni­sa­ti­on aus Ber­lin, wur­de nun ein Ver­fah­ren vor dem Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR) eröff­net (N.D. und N.T. gg Spa­ni­en, Az.: 8675/15 und 8697/15). Der spa­ni­sche Staat muss bis zum 21. Dezem­ber 2015 Stel­lung neh­men, ob die Abschie­be­pra­xis in Mel­il­la mit der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on ver­ein­bar ist. Geklagt haben zwei Flücht­lin­ge aus Mali und der Elfen­bein­küs­te. Sie wer­fen dem spa­ni­schen Staat vor am 13. August 2014 von Mel­il­la nach Marok­ko abge­scho­ben wor­den zu sein.

Immer wie­der Miss­hand­lun­gen in Marokko

Das Ver­fah­ren wirft in vie­ler­lei Hin­sicht die Fra­ge auf, ob die spa­ni­sche Grenz­po­li­tik gegen die Men­schen­rech­te ver­stößt. Zu beach­ten hat der EGMR sein Urteil Hir­si Jamaa u.a. gegen Ita­li­en, das im Jahr 2012 die Abschie­be­pra­xis Ita­li­en auf der Hohen See deut­lich ver­ur­teil­te. Vie­le Erwä­gun­gen aus die­sem Ver­fah­ren sind auch für den Mel­il­la-Fall relevant.

Die Ver­trags­staa­ten der EMRK dür­fen bei­spiels­wei­se nach Art. 3 EMRK nie­man­den in einen Staat zurück­wei­sen, in dem ihm/ihr Fol­ter oder unmensch­li­che oder ernied­ri­gen­der Behand­lung droht. Gera­de für zurück­ge­scho­be­ne Flücht­lin­ge aus sub­sa­ha­ri­schen Staa­ten ist die Situa­ti­on in Marok­ko men­schen­un­wür­dig. Sie leben dort in pro­vi­so­ri­schen Camps nahe der Gren­ze, die oft von der Poli­zei zer­stört wer­den. Auch wider­fah­ren ihnen immer wie­der Miss­hand­lun­gen durch marok­ka­ni­sche Sicher­heits­kräf­te. In den Fäl­len, die der Beschwer­de zugrun­de lie­gen, hat der EGMR aller­dings kei­ne Rüge von Art. 3 EMRK als zuläs­sig erach­tet, da an den Beschwer­de­füh­rern kei­ne kon­kre­ten Miss­hand­lun­gen ver­übt wur­den. Dabei schützt Art. 3 EMRK auch vor einer real mög­li­chen Gefahr der unmensch­li­chen Behand­lung. Zudem wur­den ande­re Flücht­lin­ge an die­sem Tag durch marok­ka­ni­sche Sicher­heits­kräf­te miss­han­delt – teils unter den Augen der spa­ni­schen PolizistInnen.

Unzu­läs­si­ge Kol­lek­tiv­ab­schie­bun­gen ohne Einzelfallprüfung

Der EGMR hat die Beschwer­de aber hin­sicht­lich einer mög­li­chen Ver­let­zung von Art. 13 EMRK und Art. 4 Zusatz­pro­to­koll 4 (Ver­bot der Kol­lek­tiv­aus­wei­sung) zuge­las­sen. Art. 13 EMRK garan­tiert Beschwer­de­füh­rern den effek­ti­ven Zugang zum Rechts­schutz. Eine Über­prü­fung der Flucht­grün­de fand jedoch nicht statt, genau­so wenig konn­ten Beschwer­den gegen die Abschie­bun­gen erho­ben wer­den. Im vor­lie­gen­den Fall ist zudem eine Ver­let­zung des Ver­bots der Kol­lek­tiv­aus­wei­sung sehr wahr­schein­lich. Abschie­bun­gen sind dem­nach unzu­läs­sig, sofern Betrof­fe­nen kei­ne indi­vi­du­el­le Berück­sich­ti­gung ihrer Flucht­grün­de ermög­licht wird. Bei den Abschie­bun­gen in Mel­il­la wer­den Men­schen gera­de unge­ach­tet ihrer per­sön­li­chen Hin­ter­grün­de in Mas­sen abgeschoben.

Das spa­ni­sche Grenz­re­gime als Blau­pau­se der EU

Die Grenz­an­la­gen in Ceu­ta und Mel­il­la sind Teil eines äußerst effek­ti­ven Grenz­re­gimes. Bis Mit­te der 2000er Jah­re war Spa­ni­en noch eines der Haupt­ziel­län­der für Flücht­lin­ge und Migran­tIn­nen. Doch spä­tes­tens mit der Cayu­co-Kri­se 2006 setz­te der spa­ni­sche Staat voll­stän­dig auf Abschot­tung. Die Grenz­kon­trol­len wur­den aus­ge­la­gert, nun über­neh­men west­afri­ka­ni­sche Staa­ten wie Mau­re­ta­ni­en oder Sene­gal die Auf­ga­ben. Flücht­lin­ge wer­den bereits in west­afri­ka­ni­schen Gewäs­sern davon abge­hal­ten nach Euro­pa zu gelan­gen. Immer dabei: Spa­ni­sche Grenz­schüt­zer, die die afri­ka­ni­schen Behör­den vor Ort bera­ten oder sich sogar direkt am Auf­brin­gen von Flücht­lings­boo­ten betei­li­gen. Auch die EU ist mit der Grenz­agen­tur Fron­tex ver­tre­ten und effek­ti­viert die Koor­di­na­ti­on der ver­schie­de­nen Poli­zei­ein­hei­ten. Ein juris­ti­sches Posi­ti­ons­pa­pier des Forums Men­schen­rech­te zeigt auf, inwie­fern die­se Koope­ra­tio­nen und Aus­la­ge­run­gen mit inter­na­tio­na­lem Recht nicht ver­ein­bar sind.

Der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Sebas­ti­an Wolff benennt die mit der Aus­la­ge­rung ein­her­ge­hen­den Pro­ble­me: „Auf­grund der Aus- bezie­hungs­wei­se Vor­ver­la­ge­rung des Grenz­schut­zes weit vor die Tore Euro­pas, in die Her­kunfts- und Tran­sit­län­der der Migrant_innen, wird die­ser zudem heu­te in Euro­pa kaum noch wahr­ge­nom­men. […] Gera­de das Schwei­gen um die spa­ni­sche Migra­ti­ons­po­li­tik soll­te ver­däch­tig erschei­nen und kri­ti­sche Nach­fra­gen pro­du­zie­ren.“ Denn die Maxi­me der spa­ni­schen Poli­tik lau­tet: Aus dem Auge, aus dem Sinn. Die aktu­el­len Ver­su­che der EU, mit der Tür­kei Koope­ra­tio­nen in der Flücht­lings­fra­ge ein­zu­ge­hen, fol­gen dem spa­ni­schen Vor­bild – mit der Fol­ge, dass die Men­schen­rech­te von Flücht­lin­gen ver­letzt wer­den und sie kaum Mög­lich­kei­ten haben, Schutz in Euro­pa zu finden.

Prä­ze­denz­fall für das EU-Grenzregime

Das EGMR-Ver­fah­ren hat des­halb nicht nur Aus­wir­kun­gen auf die spa­ni­sche Abschie­be­pra­xis. Auch zukünf­ti­ge Koope­ra­tio­nen zwi­schen der EU und ande­ren Tran­sit­staa­ten von Flücht­lin­gen könn­ten von der Judi­ka­tur des EGMR erfasst wer­den, so er den Klä­gern Recht zuspricht. Bereits in die­sem Jahr konn­te man auch inner­halb Euro­pas mit anse­hen, wel­che Fol­gen die Eta­blie­rung eines recht­li­chen Nie­mands­lan­des haben kann.

An der unga­ri­schen Gren­ze wur­de im Sep­tem­ber eine Tran­sit­zo­ne ein­ge­rich­tet, tau­sen­de Flücht­lin­ge muss­ten unter unwür­di­gen Zustän­den vor den Grenz­an­la­gen aus­har­ren, teil­wei­se wur­den sie durch Was­ser­wer­fer und Poli­zei­schlä­ge zurück­ge­drängt. Unse­re Part­ner vom Hel­sin­ki Komi­tee doku­men­tier­ten die Vor­fäl­le. Auch in Nor­we­gen kommt es aktu­ell zu offen­sicht­lich völ­ker­rechts­wid­ri­gen Rück­schie­bun­gen von Flücht­lin­gen in das kur­zer­hand als „sicher“ erklär­te Russ­land.

Es bleibt zu hof­fen, dass der Straß­bur­ger Gerichts­hof die­ser Pra­xis eine kla­re Absa­ge erteilt.

Ceu­ta, Mel­il­la, Ungarn: Tran­sit­zo­nen an den Gren­zen in der Pra­xis (14.10.15)

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