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In Unterweissach brennt am 24.08.2015 eine geplante Flüchtlingsunterkunft - wie fast jeden dritten Tag in diesem Jahr in Deutschland. Oft sind die Gebäude bereits bewohnt. Foto: picture alliance / Benjamin Beytekin

Mitunter fühlte man sich 2015 an die schrecklichen Ereignisse in den Jahren 1990 – 1993 erinnert: Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Angriffe auf Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte rasant gestiegen. Die Täter werden häufig nicht ermittelt.

Jeden drit­ten Tag brennt in Deutsch­land eine Flüchtlingsunterkunft

528 Über­grif­fe auf Unter­künf­te im Jahr 2015 – das ist die trau­ri­ge Bilanz der Chro­nik, die die Ama­deu Anto­nio-Stif­tung und PRO ASYL füh­ren. In 126 Fäl­len han­del­te es sich dabei um Brand­an­schlä­ge: Im Durch­schnitt brennt also in Deutsch­land jeden drit­ten Tag eine Flücht­lings­un­ter­kunft – vie­le davon waren bereits bewohnt. Und auch außer­halb der Unter­künf­te kommt es ver­mehrt zu Atta­cken: In der Chro­nik sind 141 tät­li­che Angrif­fe auf Flücht­lin­ge ver­merkt, dabei kam es zu ins­ge­samt 205 Kör­per­ver­let­zun­gen durch rech­te Gewalttäter.

BKA: Zahl der Straf­ta­ten gegen Flücht­lings­un­ter­künf­te hat sich mehr als vervierfacht

Das Bun­des­kri­mi­nal­amt zähl­te sogar ins­ge­samt 924 Straf­ta­ten gegen Flücht­lings­un­ter­künf­te – mehr als vier­mal so vie­le wie die 199 erfass­ten Straf­ta­ten in 2014, bis dato in die­sem Jahr­tau­send das Jahr mit den meis­ten frem­den­feind­li­chen Angrif­fen in Deutsch­land. Sta­tis­tisch ergibt sich ein Anstieg der Anschlä­ge von ins­ge­samt 364 Pro­zent – die  Bun­des­re­gie­rung führt die­se Zahl auch auf die zuneh­men­de Ver­wen­dung aus­län­der­feind­li­cher Paro­len und die mas­si­ve Agi­ta­ti­on gegen Flücht­lin­ge zurück, wie aus der Ant­wort auf eine Klei­ne Anfra­ge im Bun­des­tag her­vor­geht (S.21).

Trög­litz, Frei­tal, Hei­den­au: Mitt­ler­wei­le All­tag in Deutschland

Anfang April sorg­te die Brand­stif­tung an einer geplan­ten Flücht­lings­un­ter­kunft in Trög­litz noch für ein gro­ßes media­les Echo, im Juni waren die Demons­tra­tio­nen im säch­si­schen Frei­tal ein bestim­men­des The­ma und auch die Vor­fäl­le in Hei­den­au im August haben auf­grund ihrer Dimen­si­on noch für grö­ße­re öffent­li­che Auf­merk­sam­keit gesorgt.

Mitt­ler­wei­le sind der­ar­ti­ge Vor­komm­nis­se aber häu­fig nur noch eine Rand­no­tiz – obwohl sie ste­tig zuneh­men. Denn Ein­zel­fäl­le sind weder die Anschlä­ge, noch Kund­ge­bun­gen sol­cher Art: In der Chro­nik der Ama­deu Anto­nio – Stif­tung wer­den ins­ge­samt 283 flücht­lings­feind­li­che Demons­tra­tio­nen gezählt. In Deutsch­land hat man sich offen­bar dar­an gewöhnt, dass Flücht­lings­un­ter­künf­te bren­nen, Men­schen ange­grif­fen wer­den und an vie­len Orten offe­ne rech­te Het­ze stattfindet.

Schwe­re Ver­let­zun­gen wer­den bil­li­gend in Kauf genommen

Dass anders als bei den schreck­li­chen frem­den­feind­li­chen Anschlä­gen in Mölln 1992 und Solin­gen 1993 bis­lang kei­ne Men­schen ums Leben gekom­men sind, ist pures Glück.

In einer aus­führ­li­chen Recher­che hat die ZEIT die vom BKA erfass­ten Vor­fäl­le aus­ge­wer­tet und fest­ge­stellt: Bei 222 der Anschlä­ge auf Flücht­lings­un­ter­künf­te bestand eine direk­te Gefahr für Men­schen, ins­ge­samt gab es dabei 104 Ver­letz­te (Stand: 30.11.2015). Die Täter neh­men häu­fig bewusst in Kauf, dass bei ihren Anschlä­gen Men­schen zu Scha­den kom­men – das zeigt auch die Zunah­me der unmit­tel­ba­ren tät­li­chen Angrif­fe auf Asyl­be­wer­ber oder Men­schen mit Migrationshintergrund.

Erschre­ckend gerin­ge Aufklärungsquote

Beson­ders erschre­ckend: In nicht ein­mal 25 Pro­zent der Fäl­le wur­den die Täter über­haupt gefasst, bis­lang gab es erst vier Ver­ur­tei­lun­gen (Stand 30.11.2015) – die Auf­klä­rungs­quo­te bei sons­ti­gen Brand­stif­tun­gen liegt deut­lich höher, wie die ZEIT-Recher­che ergab. Ein kon­se­quen­tes Vor­ge­hen mit der »gesam­ten Här­te des Rechts­staats«, wie es Innen­mi­nis­ter de Mai­ziè­re nach den Aus­schrei­tun­gen von Hei­den­au ankün­dig­te, sieht anders aus.

Rech­te Gewalt darf nicht schul­ter­zu­ckend hin­ge­nom­men werden!

Schon im Janu­ar 2015 hat­ten die Ama­deu Anto­nio – Stif­tung und PRO ASYL vor einem ent­ste­hen­den »Kli­ma der Angst« gewarnt. Im Sep­tem­ber gab es den gemein­sa­men, ein­dring­li­chen Appell von vie­len nam­haf­ten deut­schen Künst­lern, PRO ASYL und »Kein Bock auf Nazis«: Es ist Zeit zu han­deln! Dar­in wur­de die Poli­tik auf­ge­for­dert, rech­ten Straf­ta­ten ent­schlos­se­ner ent­ge­gen­zu­tre­ten. Pas­siert ist bis­lang wenig, wie die unver­min­der­te Zahl von Anschlä­gen und Angrif­fen – selbst über die Weih­nachts­fei­er­ta­ge hin­weg – zeigt.

Für 2016 for­dert PRO ASYL daher: Es ist drin­gend not­wen­dig, dass rech­te Het­ze und Gewalt nicht wei­ter klein­ge­re­det, ver­harm­lost oder mit popu­lis­ti­schen Kam­pa­gnen gar noch befeu­ert wird. Die Men­schen müs­sen bes­ser geschützt, Straf­ta­ten gegen Flücht­lin­ge und Flücht­lings­un­ter­künf­te kon­se­quen­ter ver­folgt wer­den. Poli­tik und Zivil­ge­sell­schaft dür­fen nicht zulas­sen, dass wir einen Rück­fall in die dunk­len Tage anfangs der 1990er-Jah­re erleben!

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