Image
Berichte über Sklavenhandel mit Flüchtlingen in Libyen sorgten weltweit für Empörung: Demonstration in London, Nov. 2017. Foto: picture alliance/ZUMA Press/PeterMarshall

Unerträgliches Elend in libyschen Haftzentren, Sklavenhandel mit Geflüchteten und die von Europa ausgebildete »libysche Küstenwache«, die Rettungsoperationen auf dem Meer torpediert: Europa schaut nicht mehr nur zu, sondern setzt alles daran, Fluchtmöglichkeiten zu beschneiden. Zivilgesellschaftliche Rettungsinitiativen werden indes kriminalisiert.

Berich­te über Skla­ven­auk­tio­nen in Liby­en, bei denen Schutz­su­chen­de wie Stück­gut ver­kauft wur­den, führ­ten im Novem­ber 2017 zu einem Auf­schrei in der afri­ka­ni­schen und euro­päi­schen Öffent­lich­keit und domi­nier­ten kurz dar­auf das Gip­fel­tref­fen der Afri­ka­ni­schen und Euro­päi­schen Uni­on. Eva­ku­ie­rungs­maß­nah­men wur­den beschlos­sen. Aller­dings nicht, um Geflüch­te­te nach Euro­pa zu brin­gen: Viel­mehr hat die Inter­na­tio­na­le Orga­ni­sa­ti­on für Migra­ti­on (IOM) seit­her 13.000 »frei­wil­li­ge Aus­rei­sen« aus Liby­en in afri­ka­ni­sche Her­kunfts­län­der unter­stützt. Beson­ders schutz­be­dürf­ti­ge Flücht­lin­ge soll UNHCR nach Niger eva­ku­ie­ren – in eines der ärms­ten Län­der welt­weit. Nur ein­zel­ne Flücht­lin­ge sol­len in Euro­pa Auf­nah­me finden.

UNHCR und IOM erhiel­ten Zugang zu den Lagern, die unter der Kon­trol­le der liby­schen Ein­heits­re­gie­rung ste­hen. Allein in den 42 Haft­zen­tren sit­zen ins­ge­samt rund 20.000 Schutz­su­chen­de fest. Bis Ende Febru­ar 2018 wur­den ledig­lich 897 Flücht­lin­ge über den »Not­trans­fer­me­cha­nis­mus« nach Niger, 312 nach Ita­li­en und zwei in ein UNHCR-Tran­sit­zen­trum in Rumä­ni­en aus­ge­flo­gen. Ins­ge­samt sol­len gera­de ein­mal 1.300 beson­ders schutz­be­dürf­ti­ge Per­so­nen, vor allem aus Eri­trea, Äthio­pi­en, Jemen und Soma­lia, nach Niger gebracht werden.

»Schwere Last auf dem Gewissen der Menschheit«

Die aus Liby­en eva­ku­ier­ten Flücht­lin­ge war­ten in Niger dar­auf, irgend­wann nach Euro­pa aus­rei­sen zu dür­fen. Der angeb­li­che »Tran­sit« droht für vie­le zur End­sta­ti­on zu wer­den, denn das Nadel­öhr Resett­le­ment wird nur sehr weni­gen den Weg nach Euro­pa ebnen: Für die welt­weit ange­mahn­ten 40.000 zusätz­li­chen Resett­le­ment-Plät­ze erhielt UNCHR bis Mit­te Febru­ar 2018 nur 13.000 Zusagen.

Zehn­tau­sen­de Men­schen wer­den wei­ter in Liby­en fest­ge­hal­ten. Das Lei­den der Flücht­lin­ge dort sei eine »schwe­re Last auf dem Gewis­sen der Mensch­heit«, mahn­te Seid Ra’ad al-Hus­sein im Novem­ber 2017. Der UN-Men­schen­rechts­kom­mis­sar kri­ti­sier­te damit auch die EU-Koope­ra­ti­on mit der soge­nann­ten »liby­schen Küs­ten­wa­che«. Die­se Poli­tik sei »unmensch­lich«, so al-Hussein.

Europas schändliche Allianzen

Die Zusam­men­ar­beit mit der zum Teil von bru­ta­len Mili­zen kon­trol­lier­ten »liby­schen Küs­ten­wa­che« steht inzwi­schen weit oben auf der euro­päi­schen Agen­da. Im Rah­men der EU-Mili­tär­ope­ra­ti­on EUNAVFOR Med/Sophia begann im Okto­ber 2016 ein Aus­bil­dungs­pro­gramm mit dem Ziel, die Kapa­zi­tä­ten der liby­schen Ein­satz­kräf­te zu erhö­hen, damit die­se deut­lich mehr Flücht­lin­ge auf­hal­ten und nach Liby­en zurück­bringen kön­nen. Anfang 2017 wur­de die Zu­sammenarbeit for­ciert: Einen Tag, nach­dem Ita­li­en und die liby­sche Ein­heits­re­gie­rung ein Memo­ran­dum of Under­stan­ding unter­zeich­net hat­ten, folg­te am 3. Febru­ar 2017 die Mal­ta-Erklä­rung der EU-Staats- und Regie­rungs­chefs. Die­se Koope­ra­ti­ons­ver­ein­ba­run­gen fir­mie­ren mitt­ler­wei­le unter dem Begriff »Liby­en-Deal«. Im EU-Treu­hand­fonds für Afri­ka sind außer­dem 46 Mil­lio­nen Euro zur »Unter­stüt­zung des inte­grier­ten Grenz­ma­nage­ments in Liby­en« vor­ge­se­hen, unter ande­rem für Aus­bil­dung und Aus­stat­tung der »liby­schen Küs­ten­wa­che«. Die­ser wer­den schwe­re Ver­ge­hen vor­ge­wor­fen: Mit­glieder hät­ten Schutz­su­chen­de miss­han­delt, Flücht­lings­boo­te atta­ckiert, ille­ga­le Rück­füh­run­gen vor­ge­nom­men, Ret­tungs­ein­sät­ze sabo­tiert und gan­ze Boots­be­sat­zun­gen in Lebens­ge­fahr gebracht, berich­ten Menschenrechtsorganisationen.

Am 6. Novem­ber 2017 wur­de ein Ret­tungs­ein­satz der »Sea-Watch« von einem Boot der »liby­schen Küs­ten­wa­che« mas­siv behin­dert. Etwa fünf­zig Men­schen kamen der ita­lie­ni­schen Poli­zei zufol­ge bei dem Manö­ver in inter­na­tio­na­len Gewäs­sern ums Leben. Beson­ders bri­sant: Die Bun­des­re­gie­rung bestä­tig­te, dass acht der drei­zehn liby­schen Besat­zungs­mit­glie­der im Rah­men von EUNAVFOR Med geschult wor­den waren. Ein Skan­dal, dem die Bun­des­re­gie­rung mit der nüch­ter­nen Fest­stel­lung begeg­ne­te, die Gescheh­nis­se bestä­tig­ten »die fort­ge­setz­te Not­wen­dig­keit der Aus­bil­dung der liby­schen Küs­ten­wa­che«: ein unsäg­li­cher Affront gegen die Seenotrettungs-NGOs!

Zivile Seenotretter*innen werden diffamiert

Seit Anfang 2015 sind ver­mehrt zivi­le Seenotretter*innen im Mit­tel­meer im Ein­satz, um Schutz­su­chen­de vor dem Ertrin­ken zu ret­ten. Sie tre­ten damit der Untä­tig­keit der EU und ihrer Mit­glied­staa­ten ent­ge­gen. Im Früh­jahr 2017 lag der Anteil der NGOs an den See­not-Ret­tungs­ein­sät­zen bei 40 Pro­zent. Wäh­rend sich die Ein­hei­ten von EUNAVFOR Med aus den Ein­satz­ge­bie­ten nahe der liby­schen Gewäs­ser zurück­zo­gen, blie­ben Orga­ni­sa­tio­nen wie Sea-Watch, Ärz­te ohne Gren­zen, SOS Médi­tera­née und Jugend Ret­tet vor Ort, um Men­schen­le­ben zu ret­ten. Anfang 2017 gerie­ten sie mas­siv unter Druck. See­not­ret­tung habe eine »Sog­wir­kung«, wür­de das Schlep­per­ge­schäft anhei­zen und für mehr Todes­fäl­le sor­gen, so die Vor­wür­fe von Fron­tex und dem dama­li­gen Bun­des­in­nen­mi­nis­ter de Mai­ziè­re. Kru­de The­sen, die wis­sen­schaft­lich wider­legt sind. Tat­säch­lich sind es die EU-Mili­tär­ope­ra­ti­on und die Fokus­sie­rung auf die Bekämp­fung von Schleu­ser­netz­wer­ken, die für einen Anstieg der Todes­fäl­le sor­gen, wie etwa das EU-Komi­tee des bri­ti­schen Par­la­ments im Juli 2017 in einem Bericht kri­ti­sier­te. Ins­ge­samt kamen im zen­tra­len Mit­tel­meer 2017 min­des­tens 3.119 Flücht­lin­ge ums Leben, bis Ende Febru­ar 2018 zähl­te UNHCR wei­te­re 398 Todesfälle.

Statt auf die Hil­fe­ru­fe der Seenotretter*innen zu reagie­ren, wur­de eine Dif­fa­mie­rungs- und Kri­mi­na­li­sie­rungs­kam­pa­gne los­ge­tre­ten. Im Juni 2017 leg­te die ita­lie­ni­sche Regie­rung den NGOs einen Ver­hal­tens­ko­dex vor, der deren Arbeit mas­siv ein­schrän­ken soll­te. Kurz dar­auf wur­de das Ein­satz­boot »Iuven­ta« der Initia­ti­ve »Jugend Ret­tet« von ita­lie­ni­schen Behör­den unter faden­schei­ni­gen Anschul­di­gun­gen beschlag­nahmt. Im August rief die liby­sche Ein­heits­re­gie­rung schließ­lich eine bis weit in inter­na­tio­na­le Gewäs­ser rei­chen­de Sicher­heits­zo­ne aus. Man wer­de gegen Boo­te, die in die Zone ein­drän­gen, gewalt­sam vor­ge­hen, so die kla­re Dro­hung an die zivi­len Seenotretter*innen. Zahl­rei­che NGOs zogen sich dar­auf­hin aus den Gewäs­sern zurück.

Im Novem­ber 2017 stell­te das ita­lie­ni­sche Innen­mi­nis­te­ri­um eige­ne und EU-Finanz­mit­tel von bis zu 285 Mil­lio­nen Euro für den Auf­bau einer liby­schen See­not­ret­tungs­leit­stel­le in Aus­sicht. Die ita­lie­ni­sche Küs­ten­wa­che wird sich indes bis auf 24 Mei­len vor der ita­lie­ni­schen Küs­te zurück­zie­hen. Es gilt: Geret­te­te sol­len in den nächst­ge­le­ge­nen Hafen ver­bracht wer­den, egal ob sie dort sicher sind oder nicht. Auch die am 1. Febru­ar 2018 gestar­te­te Fron­tex-Ope­ra­ti­on The­mis legt den Fokus nicht auf Ret­tung, son­dern auf Strafverfolgung.

Zynische Erfolgsmeldungen

UNHCR zufol­ge brach­te die »liby­sche Küs­ten­wa­che« bis Ende Febru­ar 2018 über 1.550 auf dem Meer auf­ge­grif­fe­ne Men­schen zurück nach Liby­en. Inter­views mit Schutz­su­chen­den, die es bis nach Sizi­li­en geschafft haben, zei­gen, dass sich in den liby­schen Lagern nichts ver­bes­sert hat. Den­noch ließ de Mai­ziè­re im Janu­ar 2018 ver­lau­ten, man habe nun »die Haupt­pro­ble­me im Griff«. Sein Erfolgs­maß­stab: die gesun­ke­nen Ankunfts­zah­len in Euro­pa. Schon im August 2017 erreich­ten 60 Pro­zent weni­ger Schutz­su­chen­de Ita­li­ens Küs­te als im Vor­jah­res­mo­nat. Zugleich mehr­ten sich Berich­te über obsku­re Koope­ra­tio­nen der ita­lie­ni­schen Regie­rung mit liby­schen Mili­zen, die Boo­te rabi­at am Aus­lau­fen hinderten.

Stop the Deals!

Ein Gut­ach­ten des wis­sen­schaft­li­chen Diens­tes des Bun­des­tags kam im Febru­ar zu dem Ergeb­nis, dass ein Ver­stoß gegen das Non-Refou­le­ment-Gebot und die Euro­päi­sche Menschenrechts­konvention vor­lie­gen könn­te, wenn die »liby­sche Küs­ten­wa­che« von euro­päi­schen Akteu­ren, etwa von der Ret­tungs­leit­stel­le in Rom, beauf­tragt wird, Ret­tungs­ein­sät­ze zu lei­ten und Geflüch­te­te zurück nach Liby­en zu brin­gen. Bis eine ent­spre­chen­de Klar­stel­lung durch den Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te erstrit­ten wer­den kann, muss poli­tisch alles dar­an gesetzt wer­den, dass die fata­le Koope­ra­ti­on mit der »liby­schen Küs­ten­wa­che« unver­züg­lich been­det wird.

Ange­sichts der Schre­ckens­nach­rich­ten aus Liby­en und den Todes­fäl­len an Euro­pas Gren­zen sind die selbst­ge­fäl­li­gen Erfolgs­mel­dun­gen aus Euro­pa men­schen­ver­ach­tend. An Wis­sen um die ekla­tan­ten Rechts­ver­let­zun­gen gegen Geflüch­te­te in Liby­en und die all­ge­mei­ne Gewalt­si­tua­ti­on im Land man­gelt es nicht. Es ist viel­mehr eine neue Dimen­sion der Skru­pel­lo­sig­keit, mit der die EU und ihre Mit­glied­staa­ten die Flucht- und Migra­ti­ons­kon­trol­le in Tran­sit- und Her­kunfts­län­der ver­la­gern: Sehen­den Auges wird mensch­li­ches Leid in Kauf genom­men. Euro­pa ver­sucht, sich von men­schen­recht­li­chen und soli­da­ri­schen Grund­sät­zen freizukaufen.

Der Ruf nach einem ande­ren Euro­pa ist aktu­el­ler denn je: einem Euro­pa, das die erkämpf­ten Rech­te von Schutz­su­chen­den stärkt, statt sie wei­ter aus­zu­höh­len und das im Bewusst­sein sei­ner his­to­ri­schen und aktu­el­len Ver­ant­wor­tung Ankom­men ermög­licht und Schutz und Teil­ha­be bietet.

Judith Kopp

Die­ser Text erschien erst­mals im Heft zum Tag des Flücht­lings 2018.


Alle Hintergründe