Hintergrund
Libyen: die neue Skrupellosigkeit. Abgründe europäischer Flüchtlingspolitik
Unerträgliches Elend in libyschen Haftzentren, Sklavenhandel mit Geflüchteten und die von Europa ausgebildete »libysche Küstenwache«, die Rettungsoperationen auf dem Meer torpediert: Europa schaut nicht mehr nur zu, sondern setzt alles daran, Fluchtmöglichkeiten zu beschneiden. Zivilgesellschaftliche Rettungsinitiativen werden indes kriminalisiert.
Berichte über Sklavenauktionen in Libyen, bei denen Schutzsuchende wie Stückgut verkauft wurden, führten im November 2017 zu einem Aufschrei in der afrikanischen und europäischen Öffentlichkeit und dominierten kurz darauf das Gipfeltreffen der Afrikanischen und Europäischen Union. Evakuierungsmaßnahmen wurden beschlossen. Allerdings nicht, um Geflüchtete nach Europa zu bringen: Vielmehr hat die Internationale Organisation für Migration (IOM) seither 13.000 »freiwillige Ausreisen« aus Libyen in afrikanische Herkunftsländer unterstützt. Besonders schutzbedürftige Flüchtlinge soll UNHCR nach Niger evakuieren – in eines der ärmsten Länder weltweit. Nur einzelne Flüchtlinge sollen in Europa Aufnahme finden.
UNHCR und IOM erhielten Zugang zu den Lagern, die unter der Kontrolle der libyschen Einheitsregierung stehen. Allein in den 42 Haftzentren sitzen insgesamt rund 20.000 Schutzsuchende fest. Bis Ende Februar 2018 wurden lediglich 897 Flüchtlinge über den »Nottransfermechanismus« nach Niger, 312 nach Italien und zwei in ein UNHCR-Transitzentrum in Rumänien ausgeflogen. Insgesamt sollen gerade einmal 1.300 besonders schutzbedürftige Personen, vor allem aus Eritrea, Äthiopien, Jemen und Somalia, nach Niger gebracht werden.
»Schwere Last auf dem Gewissen der Menschheit«
Die aus Libyen evakuierten Flüchtlinge warten in Niger darauf, irgendwann nach Europa ausreisen zu dürfen. Der angebliche »Transit« droht für viele zur Endstation zu werden, denn das Nadelöhr Resettlement wird nur sehr wenigen den Weg nach Europa ebnen: Für die weltweit angemahnten 40.000 zusätzlichen Resettlement-Plätze erhielt UNCHR bis Mitte Februar 2018 nur 13.000 Zusagen.
Zehntausende Menschen werden weiter in Libyen festgehalten. Das Leiden der Flüchtlinge dort sei eine »schwere Last auf dem Gewissen der Menschheit«, mahnte Seid Ra’ad al-Hussein im November 2017. Der UN-Menschenrechtskommissar kritisierte damit auch die EU-Kooperation mit der sogenannten »libyschen Küstenwache«. Diese Politik sei »unmenschlich«, so al-Hussein.
Europas schändliche Allianzen
Die Zusammenarbeit mit der zum Teil von brutalen Milizen kontrollierten »libyschen Küstenwache« steht inzwischen weit oben auf der europäischen Agenda. Im Rahmen der EU-Militäroperation EUNAVFOR Med/Sophia begann im Oktober 2016 ein Ausbildungsprogramm mit dem Ziel, die Kapazitäten der libyschen Einsatzkräfte zu erhöhen, damit diese deutlich mehr Flüchtlinge aufhalten und nach Libyen zurückbringen können. Anfang 2017 wurde die Zusammenarbeit forciert: Einen Tag, nachdem Italien und die libysche Einheitsregierung ein Memorandum of Understanding unterzeichnet hatten, folgte am 3. Februar 2017 die Malta-Erklärung der EU-Staats- und Regierungschefs. Diese Kooperationsvereinbarungen firmieren mittlerweile unter dem Begriff »Libyen-Deal«. Im EU-Treuhandfonds für Afrika sind außerdem 46 Millionen Euro zur »Unterstützung des integrierten Grenzmanagements in Libyen« vorgesehen, unter anderem für Ausbildung und Ausstattung der »libyschen Küstenwache«. Dieser werden schwere Vergehen vorgeworfen: Mitglieder hätten Schutzsuchende misshandelt, Flüchtlingsboote attackiert, illegale Rückführungen vorgenommen, Rettungseinsätze sabotiert und ganze Bootsbesatzungen in Lebensgefahr gebracht, berichten Menschenrechtsorganisationen.
Am 6. November 2017 wurde ein Rettungseinsatz der »Sea-Watch« von einem Boot der »libyschen Küstenwache« massiv behindert. Etwa fünfzig Menschen kamen der italienischen Polizei zufolge bei dem Manöver in internationalen Gewässern ums Leben. Besonders brisant: Die Bundesregierung bestätigte, dass acht der dreizehn libyschen Besatzungsmitglieder im Rahmen von EUNAVFOR Med geschult worden waren. Ein Skandal, dem die Bundesregierung mit der nüchternen Feststellung begegnete, die Geschehnisse bestätigten »die fortgesetzte Notwendigkeit der Ausbildung der libyschen Küstenwache«: ein unsäglicher Affront gegen die Seenotrettungs-NGOs!
Zivile Seenotretter*innen werden diffamiert
Seit Anfang 2015 sind vermehrt zivile Seenotretter*innen im Mittelmeer im Einsatz, um Schutzsuchende vor dem Ertrinken zu retten. Sie treten damit der Untätigkeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten entgegen. Im Frühjahr 2017 lag der Anteil der NGOs an den Seenot-Rettungseinsätzen bei 40 Prozent. Während sich die Einheiten von EUNAVFOR Med aus den Einsatzgebieten nahe der libyschen Gewässer zurückzogen, blieben Organisationen wie Sea-Watch, Ärzte ohne Grenzen, SOS Méditeranée und Jugend Rettet vor Ort, um Menschenleben zu retten. Anfang 2017 gerieten sie massiv unter Druck. Seenotrettung habe eine »Sogwirkung«, würde das Schleppergeschäft anheizen und für mehr Todesfälle sorgen, so die Vorwürfe von Frontex und dem damaligen Bundesinnenminister de Maizière. Krude Thesen, die wissenschaftlich widerlegt sind. Tatsächlich sind es die EU-Militäroperation und die Fokussierung auf die Bekämpfung von Schleusernetzwerken, die für einen Anstieg der Todesfälle sorgen, wie etwa das EU-Komitee des britischen Parlaments im Juli 2017 in einem Bericht kritisierte. Insgesamt kamen im zentralen Mittelmeer 2017 mindestens 3.119 Flüchtlinge ums Leben, bis Ende Februar 2018 zählte UNHCR weitere 398 Todesfälle.
Statt auf die Hilferufe der Seenotretter*innen zu reagieren, wurde eine Diffamierungs- und Kriminalisierungskampagne losgetreten. Im Juni 2017 legte die italienische Regierung den NGOs einen Verhaltenskodex vor, der deren Arbeit massiv einschränken sollte. Kurz darauf wurde das Einsatzboot »Iuventa« der Initiative »Jugend Rettet« von italienischen Behörden unter fadenscheinigen Anschuldigungen beschlagnahmt. Im August rief die libysche Einheitsregierung schließlich eine bis weit in internationale Gewässer reichende Sicherheitszone aus. Man werde gegen Boote, die in die Zone eindrängen, gewaltsam vorgehen, so die klare Drohung an die zivilen Seenotretter*innen. Zahlreiche NGOs zogen sich daraufhin aus den Gewässern zurück.
Im November 2017 stellte das italienische Innenministerium eigene und EU-Finanzmittel von bis zu 285 Millionen Euro für den Aufbau einer libyschen Seenotrettungsleitstelle in Aussicht. Die italienische Küstenwache wird sich indes bis auf 24 Meilen vor der italienischen Küste zurückziehen. Es gilt: Gerettete sollen in den nächstgelegenen Hafen verbracht werden, egal ob sie dort sicher sind oder nicht. Auch die am 1. Februar 2018 gestartete Frontex-Operation Themis legt den Fokus nicht auf Rettung, sondern auf Strafverfolgung.
Zynische Erfolgsmeldungen
UNHCR zufolge brachte die »libysche Küstenwache« bis Ende Februar 2018 über 1.550 auf dem Meer aufgegriffene Menschen zurück nach Libyen. Interviews mit Schutzsuchenden, die es bis nach Sizilien geschafft haben, zeigen, dass sich in den libyschen Lagern nichts verbessert hat. Dennoch ließ de Maizière im Januar 2018 verlauten, man habe nun »die Hauptprobleme im Griff«. Sein Erfolgsmaßstab: die gesunkenen Ankunftszahlen in Europa. Schon im August 2017 erreichten 60 Prozent weniger Schutzsuchende Italiens Küste als im Vorjahresmonat. Zugleich mehrten sich Berichte über obskure Kooperationen der italienischen Regierung mit libyschen Milizen, die Boote rabiat am Auslaufen hinderten.
Stop the Deals!
Ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags kam im Februar zu dem Ergebnis, dass ein Verstoß gegen das Non-Refoulement-Gebot und die Europäische Menschenrechtskonvention vorliegen könnte, wenn die »libysche Küstenwache« von europäischen Akteuren, etwa von der Rettungsleitstelle in Rom, beauftragt wird, Rettungseinsätze zu leiten und Geflüchtete zurück nach Libyen zu bringen. Bis eine entsprechende Klarstellung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erstritten werden kann, muss politisch alles daran gesetzt werden, dass die fatale Kooperation mit der »libyschen Küstenwache« unverzüglich beendet wird.
Angesichts der Schreckensnachrichten aus Libyen und den Todesfällen an Europas Grenzen sind die selbstgefälligen Erfolgsmeldungen aus Europa menschenverachtend. An Wissen um die eklatanten Rechtsverletzungen gegen Geflüchtete in Libyen und die allgemeine Gewaltsituation im Land mangelt es nicht. Es ist vielmehr eine neue Dimension der Skrupellosigkeit, mit der die EU und ihre Mitgliedstaaten die Flucht- und Migrationskontrolle in Transit- und Herkunftsländer verlagern: Sehenden Auges wird menschliches Leid in Kauf genommen. Europa versucht, sich von menschenrechtlichen und solidarischen Grundsätzen freizukaufen.
Der Ruf nach einem anderen Europa ist aktueller denn je: einem Europa, das die erkämpften Rechte von Schutzsuchenden stärkt, statt sie weiter auszuhöhlen und das im Bewusstsein seiner historischen und aktuellen Verantwortung Ankommen ermöglicht und Schutz und Teilhabe bietet.
Judith Kopp
Dieser Text erschien erstmals im Heft zum Tag des Flüchtlings 2018.