Hintergrund
Flüchtlinge in Europa: Repression statt Menschenrechte?
Sowohl Merkel als auch Seehofer wollen Flüchtlinge mit rigider Gewalt daran hindern, in Deutschland Asyl zu beantragen. Nicht im Ziel, sondern in den Mitteln unterscheiden sich die Kontrahent*innen. Eine dezidiert menschenrechtliche Position hat in diesem Streit kaum noch Chancen, Gehör zu finden.
Die politische Auseinandersetzung um nationale Grenzkontrollen und die Zurückweisung von Asylsuchenden in andere EU-Staaten weist in vieler Hinsicht irrationale Züge auf: Trotz der niedrigen Zahl der ankommenden Flüchtlinge (44.000 Menschen flohen nach Angaben des UNHCR dieses Jahr bislang über das Mittelmeer, 2015 war es eine Million) stellt die CSU ultimative Forderungen zur Durchsetzung nationaler Grenzkontrollen, die selbst konservative Verfassungsrechtler wie Daniel Thym für europarechtswidrig halten, und bricht so eine Regierungskrise vom Zaun.
Die unter Druck gesetzte Bundeskanzlerin Angela Merkel beschreibt kein Gegenprogramm: Sie bemüht sich, die CSU-Forderungen nicht im nationalen Alleingang, sondern im Rahmen europäischer Vereinbarungen zur Verhinderung unerwünschter Weiterwanderungen von Geflüchteten zwischen den EU-Staaten umzusetzen: Asylsuchende sollen durch Kontrollen und Strafen dazu gebracht werden, im Land zu bleiben, in dem sie registriert wurden. Ein entsprechendes Kommuniqué scheiterte auf dem Asyl-Gipfel am vergangenen Sonntag allein am Protest von Italiens Ministerpräsident Conte, der die Dublin III ‑Verordnung für untauglich hält und einen neuen Verteilungsmechanismus für Flüchtlinge unter den EU-Staaten fordert.
Kaum jemand stellt im öffentlichen Drama noch die Frage, warum diese Wanderungen stattfinden, und wie diesen Gründen auf eine andere als repressive Weise begegnet werden könnte.
Die Zielsetzung aber scheint klar: Flüchtlinge sollen daran gehindert werden, sich selbst auf die Suche nach einem Ort in Europa zu begeben, in dem sie menschenwürdig leben können. Kaum jemand stellt im öffentlichen Drama noch die Frage, warum diese Wanderungen stattfinden, und wie diesen Gründen auf eine andere als repressive Weise begegnet werden könnte. Hier eine kurze Problembeschreibung der Gründe dafür, warum Flüchtlinge – im manchen Fällen jahrelang – in Europa auf der Flucht sind, um einen Ort zum Leben zu finden.
Keine gemeinsamen Kriterien für die Schutzgewährung
Die Unterschiede hinsichtlich der Bewertung der Schutzbedürftigkeit von verschiedenen Flüchtlingsgruppen innerhalb der EU sind so groß, dass die Asylgewährung in Europa eher einer Lotterie gleicht als einer gewissenhaften Prüfung von Verfolgungsgründen. 2016 etwa erhielten AIDA zufolge in Italien 97 Prozent aller afghanischen Flüchtlinge Schutz, in Bulgarien waren es nur 2,5 Prozent. In Spanien und Polen wurden irakische Flüchtlinge zu 100 Prozent anerkannt, in Großbritannien nur zu 12,5 Prozent.
In vielen europäischen Staaten erhalten Flüchtlinge in Not kaum Hilfen
Unter anderem in Bulgarien oder Italien werden Asylsuchende nicht angemessen untergebracht und versorgt. Selbst anerkannte Flüchtlinge können auf eine staatliche Unterstützung oftmals nicht bauen. »Das Schlimmste, was ihnen heute passieren könnte, wäre, anerkannter Flüchtling in Italien zu werden«, erklärte der ehemalige Präsident des BAMF, Schmidt, bereits 2015. Da es in Italien auf Netzwerke, Beziehungen und Familienverbünde ankomme, habe der Fremde, und sei er ein hoch qualifizierter Bauingenieur, kaum eine Chance. Bis heute dürfen Familien mit kleinen Kindern nicht nach Italien abgeschoben werden.
Regierungsamtliche Hetze treibt Flüchtlinge zur Weiterflucht
Die ungarische Regierung unter Führung von Victor Orban betrachtet Flüchtlinge als Instrumente einer Weltverschwörung, die das christlich-abendländische Ungarn durch »muslimische Invasoren« zerstören wolle, und betreibt regierungsamtlich Hetze gegen Geflüchtete, wie auch ihre Unterstützer*innen. Systematisch werden in Ungarn Asylsuchende, wenn sie nicht schon an den Grenzen zurückgeschoben werden, in stacheldrahtumwehrte Lager gesperrt. Wegen offenkundiger Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) werden derzeit aus Deutschland keine Abschiebungen nach Ungarn durchgeführt, auch wenn offiziell kein Abschiebungsstopp verhängt wurde.
Solange dies so bleibt, wird es auch weiterhin Wanderungsbewegungen innerhalb Europas geben. Menschenrechtsverletzungen in anderen EU-Staaten lassen sich nicht mit Grenzkontrollen und Repression bekämpfen.
Familien wollen zusammen leben
Derzeit haben nur minderjährige Flüchtlinge und ihre Eltern das Recht zusammenzuleben. Das ist weltfremd und unangemessen. Es liegt zum Beispiel auf der Hand, dass Familien, die des vom IS entfachte Inferno im Irak und Syrien überlebt haben, alles daran setzen werden, dass ihre 18-jährige Tochter oder die Großmutter gemeinsam mit ihnen leben kann und nicht zu einer Asylantragstellung in einem anderen europäischen Land genötigt wird.
Fazit: Es fehlt an einer europaweiten Gewährleistung der Menschenrechte
Die lautstarke Klage der südeuropäischen Staaten über die »Ungerechtigkeit« der Dublin III – Verordnung ist berechtigt, beleuchtet aber nur einen Teil des Versagens der EU im Umgang mit Asylsuchenden. Es fehlt bislang an einer europaweiten Gewährleistung der Menschenrechte und der Schutzansprüche, die sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention ergeben. Die in der Aufnahme- und der Qualifikationsrichtlinie formulierten Standards reichen nicht aus, um eine annähernd gleiche Rechtsanwendung und ähnliche Aufnahmebedingungen zu gewährleisten, zumal Verstöße in der Regel ungesühnt bleiben.
Solange dies so bleibt, wird es auch weiterhin Wanderungsbewegungen innerhalb Europas geben. Menschenrechtsverletzungen in anderen EU-Staaten lassen sich nicht mit Grenzkontrollen und Repression bekämpfen. Der Flüchtlingsrat Niedersachsen und PRO ASYL werden sich auch weiterhin dafür einsetzen, dass Flüchtlinge, die in anderen europäischen Ländern kein faires Verfahren und keine Gewährleistung menschenwürdiger Lebensbedingungen erwarten können, in Deutschland Schutz erhalten und nicht abgeschoben werden.
Kai Weber, Flüchtlingsrat Niedersachsen