Hintergrund
Die »Schande von Evian« 1938 und die »Schande von Brüssel« 2016
Auf der Konferenz von Evian 1938 konnten sich die versammelten Nationen nicht auf eine erleichterte Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen aus NS-Deutschland einigen. In der »Flüchtlingskrise« heute können sich die Europäer nicht auf eine Aufnahme von Flüchtlingen einigen und engagieren sich sogar für ihre Abwehr - die »Schande von Brüssel« 2016.
Die Europäische Union hat sich in Brüssel am 17. März 2016 auf ein Angebot zu einem Flüchtlingsdeal mit der Türkei geeinigt, in das die Türkei am 18. März eingeschlagen hat: Von der Türkei aus über die Ägäis nach Griechenland Geflüchtete sollen, zu „illegalen Migranten” umdefiniert, in die Türkei deportiert („rückgeführt“) werden. Für jeden ausgewiesenen „illegalen“ Syrer soll ein wegen ordnungsgemäßer Meldung „legaler“ Syrer nach Europa gebracht werden, zunächst bis zu einer Größenordnung von 72.000 Menschen.
Die Aufnahme in Europa ist freiwillig, sonst hätten die Flüchtlingsverweigerer unter den EU-Staaten das Abkommen nicht akzeptiert. Nach der Schließung der Balkanroute soll auch die Fluchtroute über die Ägäis blockiert werden, was in den Kontext der „Externalisierung” genannten Vorfeldverteidigung der Schengengrenzen gehört.
Verschämte rechtsästhetische Nachbesserungen sollen das möglich machen. Dazu wird ein Verfahren mit einer groben individuellen „Prüfung“ der Fluchtgründe jener „illegalen Migranten“ ebenso gehören wie die Anerkennung der Türkei durch Griechenland als sicherer Drittstaat; denn ohne Verfahren wären „Rückschiebungen“ von illegalisierten Geflüchteten selber illegal. Als angeblich sicheren Drittstaat heiligt man so die aus ihrer sowieso defizitären Rechts- und Verfassungskultur ins Bodenlose stürzende autoritäre Erdogan-Türkei mit ihrem Zertrampeln von Presse‑, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit, mit ihrer Unterdrückung von Minderheiten und der Beantwortung von Milizenterror mit Staatsterror innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen. Das wird demonstrativ übersehen, der Zweck heiligt die Mittel.
Die weinerliche Begründung mit dem maritimen Kampf gegen das „Schlepperunwesen“ ist erbärmlich scheinheilig; denn die Schlepper verdienen ihr großes Geld nicht auf dem kleinen Katzensprung über ein paar Seemeilen von der Türkei zu den vorgelagerten griechischen Inseln, sondern auf der viel riskanteren Hochseeroute von Libyen nach Italien und besonders nach Lampedusa. Die Fluchtbewegungen auf dieser höchst gefährlichen Route nehmen 2016 bereits stark zu.
Menschliche Kollateralschäden
Seit der Erschwerung des Familiennachzugs im Hauptzielland Deutschland werden sich umso mehr Familienmitglieder, besonders Frauen und Kinder, den vorausgewanderten Männern anzuschließen suchen. Die Opfer werden also weiblicher und jünger werden. Menschliche Kollateralschäden des Kampfes gegen Flüchtlinge.
Das erinnert an die „Schande von Evian“: Im Juli 1938 verhandelten auf Initiative des amerikanischen Präsidenten Roosevelt Vertreter von 32 Staaten und von vielen, auch jüdischen Hilfsorganisationen im französischen Evian am Genfer See über eine Erleichterung der Einreise der vom NS-Staat terrorisierten Juden aus Deutschland. Die Delegierten sahen sich aber fast durchweg außerstande, den Verfolgten großzügig die Aufnahme in ihren Staaten zu erleichtern.
Der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar schrieb unter dem Eindruck der Konferenz von Evian 1938:
Internationale Verhandlungen, die zur Erörterung der Frage
»Wie schützt man die Flüchtlinge?« einberufen würden,
beschäftigten sich in Wahrheit vor allem mit der Frage:
»Wie schützen wir uns vor ihnen?«
Die einen stellten einem solchen Ansinnen schlicht antisemitische Argumente entgegen; andere begründeten ihre Abwehrhaltung mit der Gefahr, dass rechtsextreme Kräfte im Land durch judenfreundliche Haltungen gereizt werden könnten; wieder andere redeten sogar vom „Missbrauch des Asylrechts“. Einziges Konferenzergebnis war die Einigung auf ein ständiges Flüchtlingskomitee, das versuchen sollte, bei der deutschen Regierung eine humanitär geordnete Auswanderung von Juden zu erwirken.
Die Flüchtlingskrise ist eine Weltkrise
Vieles ist unvergleichbar zwischen Evian 1938 und Brüssel 2016: 1938 ging es „nur“ um eine verfolgte Gruppe aus einem Terrorland. Die Judenverfolgung war 1938 aber schon eine Vorstufe zum Genozid als organisiertem Staatsverbrechen von weltgeschichtlich katastrophaler Einzigartigkeit. Heute geht es um Flüchtende aus den verschiedensten Kriegs-und Krisengebieten der Welt. Im Unterschied zu 1938 sind hier tatsächlich auch als „Wirtschaftsflüchtlinge“ geschmähte Flüchtlinge aus existenzieller Not dabei.
Denn die sogenannte „Flüchtlingskrise“ ist in Wahrheit eine Weltkrise, die Flüchtlinge auch vor die Tore der Festung Europa treibt; und zwar aus Gründen, an denen der Westen nicht unbeteiligt war und ist:
Das reicht von den Folgen der europäischen Kolonialgeschichte über die willkürlichen Grenzziehungen im arabisch-nordafrikanischen Raum nach dem Ersten Weltkrieg bis hin zu den militärischen Interventionen des Westens von Afghanistan über den Iran bis zum Irak. Sie haben die Probleme, die sie angeblich eindämmen sollten, nur noch vergrößert und zur Entstehung von weltweit operierenden Terrormilizen beigetragen.
Das bewusste Wegsehen macht Evian 1938 und Brüssel 2016 – trotz aller Unterschiede – vergleichbar.
Der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar schrieb unter dem Eindruck der Konferenz von Evian 1938: Internationale Verhandlungen, die zur Erörterung der Frage „Wie schützt man die Flüchtlinge?“ einberufen würden, beschäftigten sich in Wahrheit vor allem mit der Frage: „Wie schützen wir uns vor ihnen?“
Und dieses bewusste Wegsehen macht Evian 1938 und Brüssel 2016 vergleichbar: Weil sich die Europäer nicht einigen können, wie und in welchem Umfang sie den an die Tore ihrer Festung klopfenden Flüchtlingen helfen wollen, drängen sie das Problem vor ihren Grenzen zurück, statt sich um die Bekämpfung seiner Ursachen zu kümmern.
Wir müssen teilen lernen
Die meisten aber ahnen, dass mit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ die Gretchenfrage des weltweiten „Raubtierkapitalismus“ (Helmut Schmidt) gestellt ist. Das hat auch der kluge und mutige, aus der nichtmarxistischen südamerikanischen Befreiungstheologie stammende Papst Franziskus oft genug und zuletzt wieder in seiner Enzyklika „Laudato si“ klar ausgesprochen.
Um sich dieser Herausforderung nicht stellen zu müssen, paktieren die Europäer selbst mit den fluchttreibenden Regimen in Eritrea und im Sudan, die gegen Investitionen, besonders im sogenannten Sicherheitsbereich, Flüchtlinge aus ihrem Land und durch ihr Land an der Flucht nach Europa hindern sollen. Der tote Flüchtlingshändler Gaddafi lässt grüßen. Er wusste als erster Migration in großem Stil als Waffe einzusetzen und war damit auf furchtbare Weise seiner Zeit voraus.
Die Antwort auf die Gretchenfrage des „Raubtierkapitalismus“ kann nur globale Fairness sein: Wir müssen teilen lernen. Spenden hat mit Teilen so viel zu tun wie Barmherzigkeit mit Gerechtigkeit.
Klaus J. Bade
(Dieser Beitrag erschien im Juni 2016 im Heft zum Tag des Flüchtlings 2016.)