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Schon im Oktober 2015 reiste Merkel nach Istanbul, um den türkischen Präsidenten Erdogan dazu zu bewegen, Flüchtlinge von der Überfahrt nach Griechenland abzuhalten - mitten in Erdogans Wahlkampf. Foto: REUTERS/Tolga Bozoglu/Pool

Auf der Konferenz von Evian 1938 konnten sich die versammelten Nationen nicht auf eine erleichterte Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen aus NS-Deutschland einigen. In der »Flüchtlingskrise« heute können sich die Europäer nicht auf eine Aufnahme von Flüchtlingen einigen und engagieren sich sogar für ihre Abwehr - die »Schande von Brüssel« 2016.

Die Euro­päi­sche Uni­on hat sich in Brüs­sel am 17. März 2016 auf ein Ange­bot zu einem Flücht­lings­deal mit der Tür­kei geei­nigt, in das die Tür­kei am 18. März ein­ge­schla­gen hat: Von der Tür­kei aus über die Ägä­is nach Grie­chen­land Geflüch­te­te sol­len, zu „ille­ga­len Migran­ten” umde­fi­niert, in die Tür­kei depor­tiert („rück­ge­führt“) wer­den. Für jeden aus­ge­wie­se­nen „ille­ga­len“ Syrer soll ein wegen ord­nungs­ge­mä­ßer Mel­dung „lega­ler“ Syrer nach Euro­pa gebracht wer­den, zunächst bis zu einer Grö­ßen­ord­nung von 72.000 Menschen.

Die Auf­nah­me in Euro­pa ist frei­wil­lig, sonst hät­ten die Flücht­lings­ver­wei­ge­rer unter den EU-Staa­ten das Abkom­men nicht akzep­tiert. Nach der Schlie­ßung der Bal­kan­rou­te soll auch die Flucht­rou­te über die Ägä­is blo­ckiert wer­den, was in den Kon­text der „Exter­na­li­sie­rung” genann­ten Vor­feld­ver­tei­di­gung der Schen­gen­gren­zen gehört.

Ver­schäm­te rechts­äs­the­ti­sche Nach­bes­se­run­gen sol­len das mög­lich machen. Dazu wird ein Ver­fah­ren mit einer gro­ben indi­vi­du­el­len „Prü­fung“ der Flucht­grün­de jener „ille­ga­len Migran­ten“ eben­so gehö­ren wie die Aner­ken­nung der Tür­kei durch Grie­chen­land als siche­rer Dritt­staat; denn ohne Ver­fah­ren wären „Rück­schie­bun­gen“ von  ille­ga­li­sier­ten Geflüch­te­ten sel­ber ille­gal. Als angeb­lich siche­ren Dritt­staat hei­ligt man so die aus ihrer sowie­so defi­zi­tä­ren Rechts- und Ver­fas­sungs­kul­tur ins Boden­lo­se stür­zen­de auto­ri­tä­re Erdo­gan-Tür­kei mit ihrem Zer­tram­peln von Presse‑, Mei­nungs- und Wis­sen­schafts­frei­heit, mit ihrer Unter­drü­ckung von Min­der­hei­ten und der Beant­wor­tung von Mili­zen­ter­ror mit Staats­ter­ror inner­halb und außer­halb ihrer Gren­zen. Das wird demons­tra­tiv über­se­hen, der Zweck hei­ligt die Mittel.

Die wei­ner­li­che Begrün­dung mit dem mari­ti­men Kampf gegen das „Schlep­per­un­we­sen“ ist erbärm­lich schein­hei­lig; denn die Schlep­per ver­die­nen ihr gro­ßes Geld nicht auf dem klei­nen Kat­zen­sprung über ein paar See­mei­len von der Tür­kei zu den vor­ge­la­ger­ten grie­chi­schen Inseln, son­dern auf der viel ris­kan­te­ren Hoch­see­rou­te von Liby­en nach Ita­li­en und beson­ders nach Lam­pe­du­sa. Die Flucht­be­we­gun­gen auf die­ser höchst gefähr­li­chen Rou­te neh­men 2016 bereits stark zu.

Menschliche Kollateralschäden

Seit der Erschwe­rung des Fami­li­en­nach­zugs im Haupt­zi­el­land Deutsch­land wer­den sich umso mehr Fami­li­en­mit­glie­der, beson­ders Frau­en und Kin­der, den vor­aus­ge­wan­der­ten Män­nern anzu­schlie­ßen suchen. Die Opfer wer­den also weib­li­cher und jün­ger wer­den. Mensch­li­che Kol­la­te­ral­schä­den des Kamp­fes gegen Flüchtlinge.

Das erin­nert an die „Schan­de von Evi­an“: Im Juli 1938 ver­han­del­ten auf Initia­ti­ve des ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten Roo­se­velt Ver­tre­ter von 32 Staa­ten und von vie­len, auch jüdi­schen Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen im fran­zö­si­schen Evi­an am Gen­fer See über eine Erleich­te­rung der Ein­rei­se der vom NS-Staat ter­ro­ri­sier­ten Juden aus Deutsch­land. Die Dele­gier­ten sahen sich aber fast durch­weg außer­stan­de, den Ver­folg­ten groß­zü­gig die Auf­nah­me in ihren Staa­ten zu erleichtern.

Der öster­rei­chi­sche Schrift­stel­ler Alfred Pol­gar schrieb unter dem Ein­druck der Kon­fe­renz von Evi­an 1938:
Inter­na­tio­na­le Ver­hand­lun­gen, die zur Erör­te­rung der Frage
»Wie schützt man die Flücht­lin­ge?« ein­be­ru­fen würden,
beschäf­tig­ten sich in Wahr­heit vor allem mit der Frage:
»Wie schüt­zen wir uns vor ihnen?«

Die einen stell­ten einem sol­chen Ansin­nen schlicht anti­se­mi­ti­sche Argu­men­te ent­ge­gen; ande­re begrün­de­ten ihre Abwehr­hal­tung mit der Gefahr, dass rechts­extre­me Kräf­te im Land durch juden­freund­li­che Hal­tun­gen gereizt wer­den könn­ten; wie­der ande­re rede­ten sogar vom „Miss­brauch des Asyl­rechts“. Ein­zi­ges Kon­fe­renz­er­geb­nis war die Eini­gung auf ein stän­di­ges Flücht­lings­ko­mi­tee, das ver­su­chen soll­te, bei der deut­schen Regie­rung eine huma­ni­tär geord­ne­te Aus­wan­de­rung von Juden zu erwirken.

Die Flüchtlingskrise ist eine Weltkrise

Vie­les ist unver­gleich­bar zwi­schen Evi­an 1938 und Brüs­sel 2016: 1938 ging es „nur“ um eine ver­folg­te Grup­pe aus einem Ter­ror­land. Die Juden­ver­fol­gung war 1938 aber schon eine Vor­stu­fe zum Geno­zid als orga­ni­sier­tem Staats­ver­bre­chen von welt­ge­schicht­lich kata­stro­pha­ler Ein­zig­ar­tig­keit. Heu­te geht es um Flüch­ten­de aus den ver­schie­dens­ten Kriegs-und Kri­sen­ge­bie­ten der Welt. Im Unter­schied zu 1938 sind hier tat­säch­lich auch als „Wirt­schafts­flücht­lin­ge“ geschmäh­te Flücht­lin­ge aus exis­ten­zi­el­ler Not dabei.

Denn die soge­nann­te „Flücht­lings­kri­se“ ist in Wahr­heit eine Welt­kri­se, die Flücht­lin­ge auch vor die Tore der Fes­tung Euro­pa treibt; und zwar aus Grün­den, an denen der Wes­ten nicht unbe­tei­ligt war und ist:

Das reicht von den Fol­gen der euro­päi­schen Kolo­ni­al­ge­schich­te über die will­kür­li­chen Grenz­zie­hun­gen im ara­bisch-nord­afri­ka­ni­schen Raum nach dem Ers­ten Welt­krieg bis hin zu den mili­tä­ri­schen Inter­ven­tio­nen des Wes­tens von Afgha­ni­stan über den Iran bis zum Irak. Sie haben die Pro­ble­me, die sie angeb­lich ein­däm­men soll­ten, nur noch ver­grö­ßert und zur Ent­ste­hung von welt­weit ope­rie­ren­den Ter­ror­mi­li­zen beigetragen.

Das bewuss­te Weg­se­hen macht Evi­an 1938 und Brüs­sel 2016 – trotz aller Unter­schie­de – vergleichbar.

Der öster­rei­chi­sche Schrift­stel­ler Alfred Pol­gar schrieb unter dem Ein­druck der Kon­fe­renz von Evi­an 1938: Inter­na­tio­na­le Ver­hand­lun­gen, die zur Erör­te­rung der Fra­ge „Wie schützt man die Flücht­lin­ge?“ ein­be­ru­fen wür­den, beschäf­tig­ten sich in Wahr­heit vor allem mit der Fra­ge: „Wie schüt­zen wir uns vor ihnen?“

Und die­ses bewuss­te Weg­se­hen macht Evi­an 1938 und Brüs­sel 2016 ver­gleich­bar: Weil sich die Euro­pä­er nicht eini­gen kön­nen, wie und in wel­chem Umfang sie den an die Tore ihrer Fes­tung klop­fen­den Flücht­lin­gen hel­fen wol­len, drän­gen sie das Pro­blem vor ihren Gren­zen zurück, statt sich um die Bekämp­fung sei­ner Ursa­chen zu kümmern.

Wir müssen teilen lernen

Die meis­ten aber ahnen, dass mit der soge­nann­ten „Flücht­lings­kri­se“ die Gret­chen­fra­ge des welt­wei­ten „Raub­tier­ka­pi­ta­lis­mus“ (Hel­mut Schmidt) gestellt ist. Das hat auch der klu­ge und muti­ge, aus der nicht­mar­xis­ti­schen süd­ame­ri­ka­ni­schen Befrei­ungs­theo­lo­gie stam­men­de Papst Fran­zis­kus oft genug und zuletzt wie­der in sei­ner Enzy­kli­ka „Lau­da­to si“ klar ausgesprochen.

Um sich die­ser Her­aus­for­de­rung nicht stel­len zu müs­sen, pak­tie­ren die Euro­pä­er selbst mit den flucht­trei­ben­den Regi­men in Eri­trea und im Sudan, die gegen Inves­ti­tio­nen, beson­ders im soge­nann­ten Sicher­heits­be­reich, Flücht­lin­ge aus ihrem Land und durch ihr Land an der Flucht nach Euro­pa hin­dern sol­len. Der tote Flücht­lings­händ­ler Gad­da­fi lässt grü­ßen. Er wuss­te als ers­ter Migra­ti­on in gro­ßem Stil als Waf­fe ein­zu­set­zen und war damit auf furcht­ba­re Wei­se sei­ner Zeit voraus.

Die Ant­wort auf die Gret­chen­fra­ge des „Raub­tier­ka­pi­ta­lis­mus“ kann nur glo­ba­le Fair­ness sein: Wir müs­sen tei­len ler­nen. Spen­den hat mit Tei­len so viel zu tun wie Barm­her­zig­keit mit Gerechtigkeit.

Klaus J. Bade

(Die­ser Bei­trag erschien im Juni 2016 im Heft zum Tag des Flücht­lings 2016.)


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