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Maya Alkhechen sagt: »Ich verteidige Dein Grundgesetz!« Wie es ist, wenn man diese garantierten Rechte nicht mehr hat, hat sie auf ihrer Flucht selbst erfahren. Foto: Tim Wegner

Die Syrerin Maya Alkhechen (31 Jahre alt) ist in Deutschland aufgewachsen. Nach dem Abitur ging sie zurück nach Syrien, um dort zu studieren. Sie heiratete und bekam zwei Kinder. 2013 musste sie mit ihrer Familie aus Damaskus fliehen.

PRO ASYL: Maya, dei­ne Fami­lie kommt aus Syri­en, du bist aber in Deutsch­land auf­ge­wach­sen und zur Schu­le gegan­gen. War­um bist du nach dei­nem Abitur zurück nach Syri­en gegangen?

Maya Alk­he­chen: Ich habe vie­le Jah­re hier gelebt, Deutsch­land war mein Zuhau­se. Trotz­dem hat­te ich immer nur eine Dul­dung. Nach mei­nem Abitur ging ich zur Aus­län­der­be­hör­de, um über mei­ne Zukunft in Deutsch­land zu spre­chen. Der Sach­be­ar­bei­ter erklär­te mir, dass ich weder stu­die­ren noch eine Aus­bil­dung machen dür­fe, weil ich ja nur gedul­det sei. Ich frag­te den Sach­be­ar­bei­ter, ob ich sei­ner Mei­nung nach ein­fach zu Hau­se sit­zen sol­le. Ich war 21 Jah­re alt und woll­te die Welt ver­än­dern. Der Mann ant­wor­te­te mir, dass das schließ­lich nicht sein Pro­blem sei.

Dann dach­test du: Ok, dann ver­än­de­re ich die Welt in Syrien.

Genau! Ich woll­te in Syri­en Medi­zin stu­die­ren und dann schau­en, was ich aus mei­ner Zukunft machen kann. In Syri­en muss­te ich mit dem Uni­be­such dann jedoch war­ten, weil ich zunächst mei­ne Papie­re beglau­bi­gen las­sen muss­te. Als die Papie­re dann end­lich kamen, muss­te ich noch­mals war­ten. In der Zwi­schen­zeit lern­te ich mei­nen Mann ken­nen und wir hei­ra­te­ten. Ich wur­de ziem­lich schnell schwanger.

Als mein ers­ter Sohn zwei Jah­re alt wur­de, dach­te ich: So, jetzt kann ich ihn bei der Oma las­sen und stu­die­ren. Das Kind wur­de jedoch sehr krank und es wur­de wie­der nichts aus dem Stu­di­um. Spä­ter bekam ich dann mein zwei­tes Kind – ja und dann ist der Bür­ger­krieg aus­ge­bro­chen und ich muss­te mit bei­den Jungs flie­hen. Ich woll­te unbe­dingt zurück nach Deutsch­land. Mei­ne Eltern leben ja hier, mei­ne Geschwis­ter. Mein Bru­der hat­te eine Ver­pflich­tungs­er­klä­rung für mich unter­schrie­ben. Das bedeu­te­te, dass er für alle Kos­ten auf­kom­men wür­de. Trotz­dem durf­te ich nicht zurück.

Der direk­te Weg nach Deutsch­land war also ver­sperrt. Was hast du dann unternommen?

Ich bin von Syri­en nach Ägyp­ten geflo­hen und nahm dort Kon­takt zur deut­schen Bot­schaft auf. Ich ver­such­te, dort mei­nen Fall zu erklä­ren. Ich wuss­te, ich brau­che Hil­fe – ohne Visum und ohne deut­sche Staats­bür­ger­schaft. Ich habe dar­um gebe­ten, den Bot­schaf­ter spre­chen zu dür­fen, aber auch das war nicht mög­lich. Statt­des­sen hat man mir gera­ten, eine Email zu schreiben.

»Ich habe mei­ne Lage aus­führ­lich geschil­dert, aber bekam nicht ein­mal eine rich­ti­ge Ant­wort von der deut­schen Bot­schaft. Uns blieb nur noch der Weg über das Mittelmeer.«

Ich habe also mei­ne Lage aus­führ­lich per Email geschil­dert, aber ich bekam nicht ein­mal eine rich­ti­ge Ant­wort. Statt­des­sen erhielt ich eine stan­dar­di­sier­te Mit­tei­lung, unter wel­chen Bedin­gun­gen man ein Visum bekom­men kön­ne. Das war alles. Kein Anruf, nichts. Zwi­schen­zeit­lich ging uns das Geld aus, wir durf­ten ja nicht arbei­ten. Dar­auf­hin blieb uns nur noch der Weg über das Mittelmeer.

Du bist zusam­men mit dei­nem Mann und dei­nen zwei Kin­dern in ein Boot gestiegen?

Ich mag nicht wirk­lich dar­über spre­chen. Es blieb uns kei­ne ande­re Wahl. Wir bezahl­ten 2500 Dol­lar pro Per­son und waren sie­ben Tage auf dem Meer. Wir fuh­ren in einem klei­ne­ren Fischer­boot mit Platz für unge­fähr 30 Leu­te, aber wir waren über 300. Du sitzt da und kannst dich kaum bewe­gen. Eigent­lich soll­te die Fahrt drei Tage dau­ern, aber der Motor war defekt und wir muss­ten immer wie­der anhalten.

Immer wenn der Motor ste­hen blieb, hat­te ich Angst: Du spürst die Wel­len und merkst, wie gefähr­lich die Situa­ti­on ist. Am vier­ten Tag dach­te ich, dass wir ster­ben müs­sen. Ich hat­te mei­ne Kin­der auf dem Schoß und frag­te mich immer wie­der, wie ich sie über Was­ser hal­ten kann, damit sie nicht ertrinken.

Es muss sehr hart für euch gewe­sen sein. Ich fra­ge da jetzt auch nicht wei­ter nach. Wie war es denn, als du end­lich zurück in Deutsch­land warst?

Am Anfang ging es hin und her. Zuerst war ich in Essen bei einer Flücht­lings­in­itia­ti­ve, weil ich da frü­her gear­bei­tet hat­te. Dann muss­ten wir nach Dort­mund in die Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung, dort haben wir den Asyl­an­trag gestellt. Danach wur­de ich mit den Kin­dern wie­der nach Essen geschickt, weil da bereits Akten von mei­nem frü­he­ren Asyl­an­trag lagen. Mein Mann und ich wur­den getrennt, er muss­te nach Aachen. Drei Mona­te spä­ter durf­te er zu uns und wir haben eine Woh­nung in Essen bezo­gen. Wir hat­ten unse­re Anhö­rung und wur­den aner­kannt. Vor fünf Tagen habe ich die unbe­fris­te­te Auf­ent­halts­er­laub­nis erhal­ten. Momen­tan geht es bergauf!

»Als ich auf die­sem Boot war, habe ich mich nur noch gefragt: War­um, war­um, war­um? War­um darf ich nicht zurück nach Hause?«

Da fehlt jetzt ja eigent­lich nur noch die deut­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit. Wür­dest du die über­haupt haben wollen?

Ja! Ab 2019 kann ich die deut­sche Staats­bür­ger­schaft bean­tra­gen. Das mache ich auch. Wie gesagt, Deutsch­land ist mein Zuhau­se, mal abge­se­hen von der Poli­tik. Und wer ist schon immer mit der jewei­li­gen Poli­tik eines Lan­des zufrieden?

Damit wären wir beim The­ma der PRO ASYL-Kam­pa­gne, wo du mit dem Motiv »Ich ver­tei­di­ge Dein Grund­ge­setz« zu sehen bist. Zur Staats­bür­ger­schaft gehört ja auch das Bekennt­nis zum Grundgesetz.

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Foto: Tim Wegner

Frei­heit, Demo­kra­tie, Mensch­lich­keit, Gerech­tig­keit – im Grund­ge­setz sind Wer­te und Rech­te ver­an­kert. Aber du musst dich in Deutsch­land befin­den, um Anspruch dar­auf zu haben. Damals, als ich in Ägyp­ten an die deut­sche Bot­schaft appel­liert habe, galt die­ser Anspruch lei­der für mich nicht. Ich war drau­ßen, obwohl ich hier auf­ge­wach­sen bin. Obwohl mein Bru­der, der ja in Deutsch­land leb­te, nach­ge­wie­sen hat­te, dass ich aus Deutsch­land bin.

Sie gaben mir damals zu ver­ste­hen: Du gehörst nicht zu uns, nicht zu die­ser Wer­te­ge­mein­schaft. Und als ich dann auf die­sem Boot war, habe ich mich nur noch gefragt: War­um, war­um, war­um? War­um darf ich nicht zurück nach Hau­se? Erst als ich in Deutsch­land ankam und der Poli­zist bei der Ein­rei­se­kon­trol­le in Rosen­heim zu mir sag­te: »Ich habe Sie im Com­pu­ter gefun­den. Ihre Eltern leben noch in Essen. Sie dür­fen wei­ter­fah­ren!« – da waren sie plötz­lich wie­der da: die Men­schen­rech­te. Aber ich hät­te sie eigent­lich ganz drin­gend auch außer­halb gebraucht, in Ägypten.

»Frei­heit, Demo­kra­tie, Mensch­lich­keit, Gerech­tig­keit – im Grund­ge­setz sind Wer­te und Rech­te ver­an­kert. Aber du musst dich in Deutsch­land befin­den, um Anspruch dar­auf zu haben.«

Nach­dem du hier ange­kom­men warst, hast du die­se Wer­te am Ende also wie­der­ge­fun­den. Gab es neben die­ser posi­ti­ven Erfah­rung auch Ein­schrän­kun­gen für dich, seit­dem du zurück bist? Bist du hier mit Res­sen­ti­ments konfrontiert?

Ein­schrän­kun­gen erle­be ich, weil ich ein Kopf­tuch tra­ge. Egal, wie offen ich bin. Egal, wie gut ich Deutsch spre­che. Ich tra­ge Kopf­tuch, ich bin Mus­li­ma, ob das jeman­dem passt oder nicht. Jetzt wer­den Mus­li­mas und Mus­li­me mit ter­ro­ris­ti­schen Anschlä­gen – wie zum Bei­spiel in Ber­lin – iden­ti­fi­ziert. Dabei bin ich genau vor sol­chen Gewalt­ta­ten aus Syri­en geflohen.

Wenn du ein Kopf­tuch trägst, gibt man dir oft das Gefühl, dass du nicht dazu gehörst. Das war auch in mei­nem Job hier in Deutsch­land so. Ich war für ein Jahr bei der Bezirks­re­gie­rung als Bin­de­glied zwi­schen Flücht­lin­gen und der Ver­wal­tung ange­stellt. Man hat mich dort spü­ren las­sen, dass ich fremd bin. Für die deut­schen Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter in der Behör­de war ich ein Flücht­ling. Und für die Flücht­lin­ge war ich eine Deutsche.

Dein Ver­mitt­lungs­job war also eher schwierig?

Die Ange­stell­ten in der Behör­de dür­fen und wol­len auch oft nicht über den Tel­ler­rand schau­en, sie behar­ren auf ihren Vor­schrif­ten und Regeln. Ein syri­scher Vater zum Bei­spiel ver­steht nicht, dass die Behör­de sei­ne 18jährige Toch­ter von ihm tren­nen und ihr eine ande­re Unter­kunft zuwei­sen kann. Dass sie in Deutsch­land also ohne ihre Fami­lie leben kann – sie ist ja voll­jäh­rig. In Syri­en ist das unvor­stell­bar. So etwas musst du dann immer wie­der erklä­ren. Ich fin­de aber, dass die Behör­den gene­rell Rück­sicht neh­men und Fami­li­en nicht aus büro­kra­ti­schen Grün­den tren­nen soll­ten. Ich möch­te das auch nicht durch­ma­chen müs­sen. Die Kern­fa­mi­lie soll­te zusam­men­blei­ben dürfen.

Die jah­re­lan­ge Tren­nung von Flücht­lings­fa­mi­li­en ist der­zeit ein gro­ßes The­ma. Wie erlebst du die aktu­el­len gesetz­li­chen Ein­schrän­kun­gen, laut denen selbst schutz­be­rech­tig­te Men­schen ihre Fami­li­en oft lan­ge Zeit nicht nach Deutsch­land zu sich holen kön­nen? Immer­hin ist der Schutz der Fami­lie auch im Grund­ge­setz verankert.

Es hin­dert die Men­schen dar­an, sich zu inte­grie­ren. Ein Schwa­ger von mir, der seit einem Jahr hier ist, ist sub­si­di­är geschützt. Damit darf er sei­ne Fami­lie nicht zu sich kom­men las­sen. In die­sem unge­wis­sen Zustand zu leben ist schlim­mer, als auf der Flucht zu sein. Wenn du auf der Flucht bist, hast du ein Ziel. Wenn du hier bist und dei­ne Fami­lie darf nicht zu dir, lebst du statt­des­sen in völ­li­ger Ungewissheit.

»Men­schen, die den­ken, Flücht­lin­ge woll­ten nur ihr Geld, soll­ten in Gedan­ken erle­ben, wie man sich als Flücht­ling fühlt. Das wür­de viel ver­än­dern. Das gilt auch für die poli­tisch Verantwortlichen.«

Mein Schwa­ger ist immer wie­der kurz davor auf­zu­ge­ben und wie­der zurück zu sei­ner Fami­lie zu gehen. Manch­mal sitzt er ein­fach nur bei uns am Küchen­tisch und weint. Ich kann nichts tun außer zu sagen: War­te noch etwas ab. Aber die Situa­ti­on ist schwie­rig und, ehr­lich gesagt, ver­traue ich momen­tan auch nicht dar­auf, dass die Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung spä­ter mög­lich wird. Die Frau mei­nes Schwa­gers ist mit ihren vier Kin­dern jetzt in Ägyp­ten. Das Leben dort ist extrem schwierig.

Manch­mal wün­sche ich mir, dass die Men­schen hier in Deutsch­land sich ein­mal kurz vor­stel­len, dass »die Welt sich dreht«, wie man im Ara­bi­schen sagt: Dass sie sich nur mal kurz über­le­gen wie es wäre, wenn sie ohne ihre Fami­lie in ein ande­res Land flie­hen müss­ten. Und dort sagt man ihnen: »Du bekommst jetzt sub­si­diä­ren Schutz, aber Dei­ne Fami­lie kann erst­mal nicht nach­kom­men, weil wir haben hier schon so vie­le Deut­sche«. Was wür­den sie dann machen? Wie wür­den sie sich fühlen?

Und du per­sön­lich, was wünschst du dir für die Zukunft?

Ich hof­fe von Her­zen, dass ich nicht noch ein­mal so etwas wie mei­ne Flucht durch­ma­chen muss. Und für die Zukunft wün­sche ich mir, dass die deut­schen Bür­ge­rin­nen und Bür­ger sich für einen Moment in die Lage der Flücht­lin­ge ver­set­zen. Men­schen, die den­ken, Flücht­lin­ge woll­ten nur ihr Geld und ihre Steu­ern, soll­ten in Gedan­ken erle­ben, wie man sich als Flücht­ling fühlt. Das wür­de viel ver­än­dern. Das gilt auch für die poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen. Denn manch­mal habe ich den Ein­druck: Die sind nicht von die­ser Welt.

Inter­view: Kers­tin Böffgen