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„Wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt“ – die ganze Welt ein „sicherer Herkunftsstaat“?
Erst im Oktober 2015 hat der Gesetzgeber nunmehr sechs Westbalkanstaaten auf die Liste sicherer Herkunftsstaaten gesetzt. Nach den erschreckenden Vorfällen in Köln sollen jetzt diverse nordafrikanische Staaten auf die Liste genommen werden. Die Folge: Das individuelle Recht auf Asyl wird für weitere Flüchtlingsgruppen ausgehöhlt.
Die CSU möchte u.a Algerien, Marokko und Tunesien auf die Liste sicherer Herkunftsstaaten setzen. Das Konzept „sicherer Herkunftsstaat“ ist vollends zum Spielball politischen Gutdünkens fernab rechtsstaatlicher Erwägungen mutiert. Die Debatte orientiert sich nur noch an den aktuellen Zugangszahlen von Flüchtlingen. Kommen mehr Menschen vom Balkan, flugs erfolgt die Einstufung der dortigen Staaten als sicher. Steigen danach die Zahlen aus nordafrikanischen Staaten, sich sich Politiker verschiedener Couleur nicht zu schade, mit erneuten Gesetzesverschärfungen zu reagieren.
In der Debatte geht vollkommen verloren, dass die Einstufung eines Staates als „sicher“ im Sinne des Asylrechts das Ergebnis eines aufwendigen rechtsstaatlichen Verfahrens sein muss und von menschenrechtsrelevanten Faktoren abhängt.
Zulässigkeit „sicherer Herkunftsstaaten“ nach Europa- und Verfassungsrecht
Bereits im September 2014 hat der Asylrechtsanwalt Reinhard Marx ein Gutachten für PRO ASYL vorgelegt, in dem die europa- und verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Einstufung von Herkunftsstaaten als „sicher“ aufgeführt werden (PDF Link zum Gutachten).
Er stellt fest, dass der Gesetzgeber bei dem Gesetzgebungsverfahren nicht nur den staatsfixierten Verfolgungsbegriff des Grundgesetzes zu beachten hat, sondern der unionsrechtliche Begriff der Verfolgungshandlung auch Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung umfasst. Nach Art. 9 Abs. 1 b) der EU-Qualifikationsrichtlinie fällt unter den Verfolgungsbegriff zudem die Kumulation von Menschenrechtsverletzungen, die für sich allein genommen nicht schwerwiegend sein müssen. Nach Reinhard Marx verbietet sich die Aufnahme eines Staates in die Liste sicherer Herkunftsstaaten, „wenn Einzelfälle politischer Verfolgung und menschenrechtswidriger Praktiken bekannt sind“ (S. 29).
In seinem Urteil von 1996 hat das Bundesverfassungsgericht die rechtlichen Voraussetzungen für „sichere Herkunftsstaaten“ festgelegt. Demnach muss der Gesetzgeber eine „antizipierte Tatsachen- und Beweiswürdigung vornehmen“, wobei das Grundgesetz bestimmte Prüfkriterien vorgibt, mithin die Rechtslage, die Rechtsanwendung und die allgemeinen politischen Verhältnisse in diesem Staat. Dabei hat er verschiedene Informationsquellen zu würdigen, bspw. UNHCR oder die Berichte des Menschenrechtszentrums der Vereinten Nationen.
Das Bundesverfassungsgericht resümiert: „Schafft der Gesetzgeber für eine solche Behandlung von Asylanträgen die Grundlage, so muß diese so beschaffen sein, daß sich die Zurückweisung von Asylanträgen als offensichtlich unbegründet einschließlich des Verlustes des vorläufigen Bleiberechts mit guten Gründen auf sie stützen kann. Das bedingt ein bestimmtes Maß an Sorgfalt bei der Erhebung und Aufbereitung von Tatsachen […].“
Gerade den letzten Satz sollten sich die jede Woche erneut nach „sicheren Herkunftsstaaten“ rufenden politisch Verantwortlichen ins Stammbuch schreiben – denn von „Sorgfalt aus guten Gründen“ ist die Debatte schon lange weit entfernt.
Informationen zur Menschenrechtssituation in Nordafrika
Ein kursorischer Blick auf die Situation in den angeblich „sicheren Herkunftsstaaten“ zeigt, dass das politisch Gewollte, rechtlich nicht einfach zu haben ist.
Menschenrechtslage in der Monarchie Marokko
Marokko ist keine Demokratie, sondern eine konstitutionelle Monarchie, in der König Mohammed VI. weitreichende Kompetenzen innehat. Im Jahr 2014/2015 beurteilte Amnesty International die Menschenrechtslage in Marokko wie folgt:
„Die Behörden schränkten die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit weiterhin ein. Kritik an der Regierung wurde unterdrückt, Journalisten riskierten strafrechtliche Verfolgung, Aktivisten wurden festgenommen. Menschenrechtsorganisationen und andere Vereinigungen konnten nur unter Auflagen arbeiten. Friedliche Demonstrationen und Protestaktionen wurden gewaltsam aufgelöst. Es gab erneut Berichte über Folter und andere Misshandlungen während der Haft aufgrund von unzureichenden Sicherheitsmaßnahmen und mangelnder Rechenschaftspflicht.“
Nach wie vor seien unter Folter erpresste „Geständnisse“ vor Gericht zugelassen worden. „Zwar schloss ein neues Gesetz eine Lücke, die es Vergewaltigern ermöglicht hatte, ihrer Strafe zu entgehen, wenn sie das Opfer heirateten, doch waren Frauen nach wie vor nicht ausreichend vor sexueller Gewalt geschützt. Die Behörden beteiligten sich an rechtswidrigen Ausweisungen von Migranten und Asylsuchenden von Spanien nach Marokko. Die Todesstrafe blieb in Kraft. Die Regierung hielt jedoch an dem Moratorium für Hinrichtungen fest.“
Besonders schlimm ist im Übrigen die Situation von Flüchtlingen in Marokko. Es kommt regelmäßig zu völkerrechtswidrigen Push-Backs von Flüchtlingen an der marokkanisch-spanischen Grenze. Bei den Rückschiebungen am Zaun von Melilla kommt es immer wieder zu Folter und sogar Misshandlungen. Dabei hat es auch Todesfälle gegeben. Unter anderem wegen dieser Praktiken, läuft derzeit ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Algerien: Straffreiheit für Folterer
Für Algerien hält Amnesty fest: „Die Behörden schränkten vor allem unmittelbar vor den Präsidentschaftswahlen im April 2014 die Rechte auf Meinungs‑, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit ein, lösten Demonstrationen auf und schikanierten Menschenrechtsverteidiger. Frauen wurden vor dem Gesetz und im täglichen Leben diskriminiert und waren trotz angekündigter Gesetzesreformen weiterhin nur unzureichend gegen Gewalt geschützt. Die Verantwortlichen für schwere Menschenrechtsverletzungen während der 1990er Jahre sowie Personen, die sich der Folter und Misshandlung von Häftlingen in den Jahren danach schuldig gemacht hatten, gingen nach wie vor straffrei aus. Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus wurden diskriminiert, misshandelt und willkürlich ausgewiesen. Bewaffnete Gruppierungen verübten Anschläge, bei denen Menschen ums Leben kamen. Todesurteile wurden verhängt, Hinrichtungen gab es jedoch nicht.“
Anerkennungsquoten für marokkanische und algerische Asylsuchende
Im vergangenen Jahr betrug die Schutzquote für Personen aus Marokko 3,7 Prozent, für Algerier 1,7 Prozent. Dies zeigt: Durch das BAMF erfolgt zumindest keine vollständige Ablehnung der Asylanträge, weswegen die Beibehaltung eines fairen Verfahrens erforderlich ist.
Außerdem: PRO ASYL hat immer wieder auf die Manipulierbarkeit von Quoten durch politische Vorgaben hingewiesen. Die niedrigen Anerkennungszahlen für bestimmte Staaten, die politisch als „sicher“ verhandelt werden, ergeben sich auch daraus, dass die Anträge dieser Schutzsuchenden nicht zur Genüge geprüft werden – über ihrem Antrag schwebt beständig das Damoklesschwert des „offensichtlich unbegründeten“ Antrags.
Menschenrechtslage in Tunesien
Tunesien ist ein etwas anders gelagerter Fall. Der Staat gilt als letzte Hoffnung des Arabischen Frühlings, hat es aber nicht geschafft sich gegen die Herausforderungen des Terrorismus durchzusetzen. Außerdem gibt es kein Rechtssystem, das die grundlegenden Rechte von Flüchtlingen garantieren kann. Seit 2011 wird an einer Asylgesetzgebung gearbeitet, deren Umsetzung nach wie vor nicht in Sicht ist.
Durch die anhaltenden Kämpfe in Libyen haben die Fluchtbewegungen sowohl von subsaharischen Flüchtlingen als auch von Libyerinnen und Libyern nach Tunesien stark zugenommen. Schutzsuchende in Tunesien leiden unter Rassismus gegenüber Menschen aus Ländern südlich der Sahara.
Insgesamt zeigt die Lage in den drei Ländern, dass dort Menschenrechtsverletzungen stattfinden und der Staat zuweilen keinen Schutz bietet oder sogar selbst der Verursacher von Menschenrechtsverletzungen ist.
Sollte Deutschland die drei Staaten in die Liste sicherer Herkunftsstaaten aufnehmen, dürfte dies auch außenpolitische Konsequenzen haben: Deutschland würde den Staaten einen Persilschein ausstellen, obschon grundlegende Menschenrechte verletzt werden. Für die dortigen demokratischen Oppositionskräfte wäre dies ein Schlag ins Gesicht.
Konzept sichere Herkunftsstaaten widerspricht individuellem Recht auf Asyl
Mit dem Konzept der „sicheren Herkunftsstaaten“ wird Schutzsuchenden aus den entsprechenden Ländern pauschal unterstellt, keine Schutzgründe zu haben. Dem Grundprinzip des Asylverfahrens – einer individuellen, sorgfältigen Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz – läuft eine solche Annahme diametral entgegen. Den Schutzsuchenden wird eine kaum zu bewältigende Beweislast aufgebürdet – nach dem Prinzip „im Zweifel gegen den Schutzsuchenden“. PRO ASYL hat sich deswegen bei vorherigen Gesetzgebungsverfahren grundsätzlich gegen das Konzept „sicherer Herkunftsstaat“ gewandt.
Der Europäische Flüchtlingsrat ECRE kritisiert ebenfalls deutlich: Das Konzept „sicherer Herkunftsstaaten“ laufe der Genfer Flüchtlingskonvention entgegen, wonach die darin festgehaltenen Bestimmungen ohne unterschiedliche Behandlung aufgrund des Herkunftslandes anzuwenden sind (Artikel 3, GFK).
Listen „sicherer Herkunftsländer“ „tragen weiter zur Praxis der Stereotypisierung bestimmter Anträge auf Grundlage der Nationalität bei und erhöhen das Risiko, dass solche Anträge keiner eingehenden Prüfung der Furcht einer Person vor individueller Verfolgung oder ernsthaftem Schaden unterzogen werden“, so ECRE.
Beim Schießbefehl angekommen: Der Überbietungswettbewerb in der Flüchtlingsdebatte (01.02.16)