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Im Mai 2015 dokumentierte Amnesty International unter dem Titel “Shadow of Impunity: Torture in Morocco and Western Sahara” 173 Fälle mutmaßlicher Folter durch marokkanische Sicherheitskräfte. Foto: Amnesty International

Erst im Oktober 2015 hat der Gesetzgeber nunmehr sechs Westbalkanstaaten auf die Liste sicherer Herkunftsstaaten gesetzt. Nach den erschreckenden Vorfällen in Köln sollen jetzt diverse nordafrikanische Staaten auf die Liste genommen werden. Die Folge: Das individuelle Recht auf Asyl wird für weitere Flüchtlingsgruppen ausgehöhlt.

Die CSU möch­te u.a Alge­ri­en, Marok­ko und Tune­si­en auf die Lis­te siche­rer Her­kunfts­staa­ten set­zen. Das Kon­zept „siche­rer Her­kunfts­staat“ ist voll­ends zum Spiel­ball poli­ti­schen Gut­dün­kens fern­ab rechts­staat­li­cher Erwä­gun­gen mutiert. Die Debat­te ori­en­tiert sich nur noch an den aktu­el­len Zugangs­zah­len von Flücht­lin­gen. Kom­men mehr Men­schen vom Bal­kan, flugs erfolgt die Ein­stu­fung der dor­ti­gen Staa­ten als sicher. Stei­gen danach die Zah­len aus nord­afri­ka­ni­schen Staa­ten, sich sich Poli­ti­ker ver­schie­de­ner Cou­leur nicht zu scha­de, mit erneu­ten Geset­zes­ver­schär­fun­gen zu reagieren.

In der Debat­te geht voll­kom­men ver­lo­ren, dass die Ein­stu­fung eines Staa­tes als „sicher“ im Sin­ne des Asyl­rechts das Ergeb­nis eines auf­wen­di­gen rechts­staat­li­chen Ver­fah­rens sein muss und von men­schen­rechts­re­le­van­ten Fak­to­ren abhängt.

Zuläs­sig­keit „siche­rer Her­kunfts­staa­ten“ nach Euro­pa- und Verfassungsrecht

Bereits im Sep­tem­ber 2014 hat der Asyl­rechts­an­walt Rein­hard Marx ein Gut­ach­ten für PRO ASYL vor­ge­legt, in dem die euro­pa- und ver­fas­sungs­recht­li­chen Anfor­de­run­gen an die Ein­stu­fung von Her­kunfts­staa­ten als „sicher“ auf­ge­führt wer­den (PDF Link zum Gut­ach­ten).

Er stellt fest, dass der Gesetz­ge­ber bei dem Gesetz­ge­bungs­ver­fah­ren nicht nur den staats­fi­xier­ten Ver­fol­gungs­be­griff des Grund­ge­set­zes zu beach­ten hat, son­dern der uni­ons­recht­li­che Begriff der Ver­fol­gungs­hand­lung auch Fol­ter sowie unmensch­li­che oder ernied­ri­gen­de Behand­lung umfasst. Nach Art. 9 Abs. 1 b) der EU-Qua­li­fi­ka­ti­ons­richt­li­nie fällt unter den Ver­fol­gungs­be­griff zudem die Kumu­la­ti­on von Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen, die für sich allein genom­men nicht schwer­wie­gend sein müs­sen. Nach Rein­hard Marx ver­bie­tet sich die Auf­nah­me eines Staa­tes in die Lis­te siche­rer Her­kunfts­staa­ten, „wenn Ein­zel­fäl­le poli­ti­scher Ver­fol­gung und men­schen­rechts­wid­ri­ger Prak­ti­ken bekannt sind“ (S. 29).

In sei­nem Urteil von 1996 hat das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt die recht­li­chen Vor­aus­set­zun­gen für „siche­re Her­kunfts­staa­ten“ fest­ge­legt. Dem­nach muss der Gesetz­ge­ber eine „anti­zi­pier­te Tat­sa­chen- und Beweis­wür­di­gung vor­neh­men“, wobei das Grund­ge­setz bestimm­te Prüf­kri­te­ri­en vor­gibt, mit­hin die Rechts­la­ge, die Rechts­an­wen­dung und die all­ge­mei­nen poli­ti­schen Ver­hält­nis­se in die­sem Staat. Dabei hat er ver­schie­de­ne Infor­ma­ti­ons­quel­len zu wür­di­gen, bspw. UNHCR oder die Berich­te des Men­schen­rechts­zen­trums der Ver­ein­ten Nationen.

Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt resü­miert: „Schafft der Gesetz­ge­ber für eine sol­che Behand­lung von Asyl­an­trä­gen die Grund­la­ge, so muß die­se so beschaf­fen sein, daß sich die Zurück­wei­sung von Asyl­an­trä­gen als offen­sicht­lich unbe­grün­det ein­schließ­lich des Ver­lus­tes des vor­läu­fi­gen Blei­be­rechts mit guten Grün­den auf sie stüt­zen kann. Das bedingt ein bestimm­tes Maß an Sorg­falt bei der Erhe­bung und Auf­be­rei­tung von Tatsachen […].“

Gera­de den letz­ten Satz soll­ten sich die jede Woche erneut nach „siche­ren Her­kunfts­staa­ten“ rufen­den poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen ins Stamm­buch schrei­ben – denn von „Sorg­falt aus guten Grün­den“ ist die Debat­te schon lan­ge weit entfernt.

Infor­ma­tio­nen zur Men­schen­rechts­si­tua­ti­on in Nordafrika

Ein kur­so­ri­scher Blick auf die Situa­ti­on in den angeb­lich „siche­ren Her­kunfts­staa­ten“ zeigt, dass das poli­tisch Gewoll­te, recht­lich nicht ein­fach zu haben ist.

Men­schen­rechts­la­ge in der Mon­ar­chie Marokko

Marok­ko ist kei­ne Demo­kra­tie, son­dern eine kon­sti­tu­tio­nel­le Mon­ar­chie, in der König Moham­med VI. weit­rei­chen­de Kom­pe­ten­zen inne­hat. Im Jahr 2014/2015 beur­teil­te Amnes­ty Inter­na­tio­nal die Men­schen­rechts­la­ge in Marok­ko wie folgt:

Die Behör­den schränk­ten die Rech­te auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung, Ver­ei­ni­gungs- und Ver­samm­lungs­frei­heit wei­ter­hin ein. Kri­tik an der Regie­rung wur­de unter­drückt, Jour­na­lis­ten ris­kier­ten straf­recht­li­che Ver­fol­gung, Akti­vis­ten wur­den fest­ge­nom­men. Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen und ande­re Ver­ei­ni­gun­gen konn­ten nur unter Auf­la­gen arbei­ten. Fried­li­che Demons­tra­tio­nen und Pro­test­ak­tio­nen wur­den gewalt­sam auf­ge­löst. Es gab erneut Berich­te über Fol­ter und ande­re Miss­hand­lun­gen wäh­rend der Haft auf­grund von unzu­rei­chen­den Sicher­heits­maß­nah­men und man­geln­der Rechenschaftspflicht.“ 

Nach wie vor sei­en unter Fol­ter erpress­te „Geständ­nis­se“ vor Gericht zuge­las­sen wor­den. „Zwar schloss ein neu­es Gesetz eine Lücke, die es Ver­ge­wal­ti­gern ermög­licht hat­te, ihrer Stra­fe zu ent­ge­hen, wenn sie das Opfer hei­ra­te­ten, doch waren Frau­en nach wie vor nicht aus­rei­chend vor sexu­el­ler Gewalt geschützt. Die Behör­den betei­lig­ten sich an rechts­wid­ri­gen Aus­wei­sun­gen von Migran­ten und Asyl­su­chen­den von Spa­ni­en nach Marok­ko. Die Todes­stra­fe blieb in Kraft. Die Regie­rung hielt jedoch an dem Mora­to­ri­um für Hin­rich­tun­gen fest.“

Beson­ders schlimm ist im Übri­gen die Situa­ti­on von Flücht­lin­gen in Marok­ko. Es kommt regel­mä­ßig zu völ­ker­rechts­wid­ri­gen Push-Backs von Flücht­lin­gen an der marok­ka­nisch-spa­ni­schen Gren­ze. Bei den Rück­schie­bun­gen am Zaun von Mel­il­la kommt es immer wie­der zu Fol­ter und sogar Miss­hand­lun­gen. Dabei hat es auch Todes­fäl­le gege­ben. Unter ande­rem wegen die­ser Prak­ti­ken, läuft der­zeit ein Ver­fah­ren vor dem Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te.

Alge­ri­en: Straf­frei­heit für Folterer

Für Alge­ri­en hält Amnes­ty fest: „Die Behör­den schränk­ten vor allem unmit­tel­bar vor den Prä­si­dent­schafts­wah­len im April 2014 die Rech­te auf Meinungs‑, Ver­ei­ni­gungs- und Ver­samm­lungs­frei­heit ein, lös­ten Demons­tra­tio­nen auf und schi­ka­nier­ten Men­schen­rechts­ver­tei­di­ger. Frau­en wur­den vor dem Gesetz und im täg­li­chen Leben dis­kri­mi­niert und waren trotz ange­kün­dig­ter Geset­zes­re­for­men wei­ter­hin nur unzu­rei­chend gegen Gewalt geschützt. Die Ver­ant­wort­li­chen für schwe­re Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen wäh­rend der 1990er Jah­re sowie Per­so­nen, die sich der Fol­ter und Miss­hand­lung von Häft­lin­gen in den Jah­ren danach schul­dig gemacht hat­ten, gin­gen nach wie vor straf­frei aus. Migran­ten ohne regu­lä­ren Auf­ent­halts­sta­tus wur­den dis­kri­mi­niert, miss­han­delt und will­kür­lich aus­ge­wie­sen. Bewaff­ne­te Grup­pie­run­gen ver­üb­ten Anschlä­ge, bei denen Men­schen ums Leben kamen. Todes­ur­tei­le wur­den ver­hängt, Hin­rich­tun­gen gab es jedoch nicht.“

Aner­ken­nungs­quo­ten für marok­ka­ni­sche und alge­ri­sche Asylsuchende

Im ver­gan­ge­nen Jahr betrug die Schutz­quo­te für Per­so­nen aus Marok­ko 3,7 Pro­zent, für Alge­ri­er 1,7 Pro­zent. Dies zeigt: Durch das BAMF erfolgt zumin­dest kei­ne voll­stän­di­ge Ableh­nung der Asyl­an­trä­ge, wes­we­gen die Bei­be­hal­tung eines fai­ren Ver­fah­rens erfor­der­lich ist.

Außer­dem: PRO ASYL hat immer wie­der auf die Mani­pu­lier­bar­keit von Quo­ten durch poli­ti­sche Vor­ga­ben hin­ge­wie­sen. Die nied­ri­gen Aner­ken­nungs­zah­len für bestimm­te Staa­ten, die poli­tisch als „sicher“ ver­han­delt wer­den, erge­ben sich auch dar­aus, dass die Anträ­ge die­ser Schutz­su­chen­den nicht zur Genü­ge geprüft wer­den – über ihrem Antrag schwebt bestän­dig das Damo­kles­schwert des „offen­sicht­lich unbe­grün­de­ten“ Antrags.

Men­schen­rechts­la­ge in Tunesien

Tune­si­en ist ein etwas anders gela­ger­ter Fall. Der Staat gilt als letz­te Hoff­nung des Ara­bi­schen Früh­lings, hat es aber nicht geschafft sich gegen die Her­aus­for­de­run­gen des Ter­ro­ris­mus durch­zu­set­zen. Außer­dem gibt es kein Rechts­sys­tem, das die grund­le­gen­den Rech­te von Flücht­lin­gen garan­tie­ren kann. Seit 2011 wird an einer Asyl­ge­setz­ge­bung gear­bei­tet, deren Umset­zung nach wie vor nicht in Sicht ist.

Durch die anhal­ten­den Kämp­fe in Liby­en haben die Flucht­be­we­gun­gen sowohl von  sub­sa­ha­ri­schen Flücht­lin­gen als auch von Libye­rin­nen und Liby­ern nach Tune­si­en stark zuge­nom­men. Schutz­su­chen­de in Tune­si­en lei­den unter Ras­sis­mus gegen­über Men­schen aus Län­dern süd­lich der Sahara.

Ins­ge­samt zeigt die Lage in den drei Län­dern, dass dort Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen statt­fin­den und der Staat zuwei­len kei­nen Schutz bie­tet oder sogar selbst der Ver­ur­sa­cher von Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen ist.

Soll­te Deutsch­land die drei Staa­ten in die Lis­te siche­rer Her­kunfts­staa­ten auf­neh­men, dürf­te dies auch außen­po­li­ti­sche Kon­se­quen­zen haben: Deutsch­land wür­de den Staa­ten einen Per­sil­schein aus­stel­len, obschon grund­le­gen­de Men­schen­rech­te ver­letzt wer­den. Für die dor­ti­gen demo­kra­ti­schen Oppo­si­ti­ons­kräf­te wäre dies ein Schlag ins Gesicht.

Kon­zept siche­re Her­kunfts­staa­ten wider­spricht indi­vi­du­el­lem Recht auf Asyl

Mit dem Kon­zept der „siche­ren Her­kunfts­staa­ten“ wird Schutz­su­chen­den aus den ent­spre­chen­den Län­dern pau­schal unter­stellt, kei­ne Schutz­grün­de zu haben. Dem Grund­prin­zip des Asyl­ver­fah­rens – einer indi­vi­du­el­len, sorg­fäl­ti­gen Prü­fung von Anträ­gen auf inter­na­tio­na­len Schutz – läuft eine sol­che Annah­me dia­me­tral ent­ge­gen. Den Schutz­su­chen­den wird eine kaum zu bewäl­ti­gen­de Beweis­last auf­ge­bür­det – nach dem Prin­zip „im Zwei­fel gegen den Schutz­su­chen­den“. PRO ASYL hat sich des­we­gen bei vor­he­ri­gen Gesetz­ge­bungs­ver­fah­ren grund­sätz­lich gegen das Kon­zept „siche­rer Her­kunfts­staat“ gewandt.

Der Euro­päi­sche Flücht­lings­rat ECRE kri­ti­siert eben­falls deut­lich: Das Kon­zept „siche­rer Her­kunfts­staa­ten“ lau­fe der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on ent­ge­gen, wonach die dar­in fest­ge­hal­te­nen Bestim­mun­gen ohne unter­schied­li­che Behand­lung auf­grund des Her­kunfts­lan­des anzu­wen­den sind (Arti­kel 3, GFK).

Lis­ten „siche­rer Her­kunfts­län­der“ „tra­gen wei­ter zur Pra­xis der Ste­reo­ty­pi­sie­rung bestimm­ter Anträ­ge auf Grund­la­ge der Natio­na­li­tät bei und erhö­hen das Risi­ko, dass sol­che Anträ­ge kei­ner ein­ge­hen­den Prü­fung der Furcht einer Per­son vor indi­vi­du­el­ler Ver­fol­gung oder ernst­haf­tem Scha­den unter­zo­gen wer­den“, so ECRE.

Beim Schieß­be­fehl ange­kom­men: Der Über­bie­tungs­wett­be­werb in der Flücht­lings­de­bat­te (01.02.16)