Das EU-Parlament stimmt am 12. September darüber ab, ob ein Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn eingeleitet wird. Es geht um die Frage, ob dort die Werte, auf denen die EU gründet, gefährdet sind. Um der Orbánisierung Europas entgegenzutreten, müssen die Abgeordneten für Ja stimmen und sich an die Seite der ungarischen Zivilgesellschaft stellen.

+++ Update vom 13. Sep­tem­ber 2018: Mit 448 zu 197 Stim­men sprach sich die not­wen­di­ge Mehr­heit der Abge­ord­ne­ten im Euro­pa­par­la­ment ges­tern für die Ein­lei­tung des Arti­kel 7 Ver­fah­rens gegen Ungarn aus. Das Hun­ga­ri­an Hel­sin­ki Com­mit­tee begrüßt das Votum als Unter­stüt­zung durch das Euro­päi­sche Par­la­ment und als kla­re War­nung an ande­re Staa­ten, die den von Orbán ein­ge­schla­ge­nen Weg kopieren. +++

Már­ta Par­da­vi vom Unga­ri­schen Hel­sin­ki Komi­tee appel­liert an die Euro­pa­ab­ge­ord­ne­ten: »Dies ist eine der letz­ten Gele­gen­hei­ten, ein kla­res Signal zu set­zen, dass die Euro­päi­sche Uni­on ihre Wer­te ver­tei­digt. Wir befin­den uns in Ungarn in einer Situa­ti­on, in der die Rechts­staat­lich­keit endet und die will­kür­li­che Herr­schaft beginnt. Stim­men Sie am 12. Sep­tem­ber für ‚Ja‘.«

Artikel 7‑Verfahren gegen Ungarn

Das Ver­fah­ren nach Arti­kel 7 ist die schärfs­te Maß­nah­me, die der EU-Ver­trag vor­sieht – es wird daher auch die »nuklea­re Opti­on« genannt. Am Ende des Ver­fah­rens kann dem betrof­fe­nen Mit­glied­staat sei­ne Stim­me im Rat ent­zo­gen werden.

YouTube

Mit dem Laden des Vide­os akzep­tie­ren Sie die Daten­schutz­er­klä­rung von You­Tube.
Mehr erfah­ren

Video laden

Am 17. Mai 2017 beschloss das Euro­päi­sche Par­la­ment, einen Bericht über die Lage in Ungarn zu erstel­len. Judith Sar­gen­ti­ni, Mit­glied der Frak­ti­on Grüne/Freie Alli­anz im Euro­päi­schen Par­la­ment, wur­de am 31. August 2017 durch den Aus­schuss für bür­ger­li­che Frei­hei­ten, Jus­tiz und Inne­res (LIBE) zur Bericht­erstat­te­rin ernannt.

Sar­gen­ti­ni ver­öf­fent­lich­te ihren Bericht am 11. April 2018 (deut­sche Ver­si­on hier). Im LIBE-Aus­schuss wur­de am 26. Juni 2018 der Vor­schlag, das Par­la­ment über die Ein­lei­tung des Ver­fah­rens nach Arti­kel 7 Absatz 1 abstim­men zu las­sen, mit 37 zu 19 Stim­men angenommen.

Das Euro­päi­sche Par­la­ment hat das Recht, den Rat auf­zu­for­dern, ein Ver­fah­ren nach Arti­kel 7 ein­zu­lei­ten. Es wäre das ers­te Mal, dass das Euro­päi­sche Par­la­ment von die­sem Initia­tiv­recht Gebrauch macht. Am 11. Sep­tem­ber fin­det die Debat­te im Par­la­ment statt. Am dar­auf­fol­gen­den Tag kommt es zur Abstimmung.

Damit Arti­kel 7 Anwen­dung fin­det, muss fest­ge­stellt wer­den, ob die poli­ti­schen Ent­wick­lun­gen in dem betrof­fe­nen Mit­glied­staat eine »ein­deu­ti­ge Gefahr einer schwer­wie­gen­den Ver­let­zung« der Grund­wer­te nach Arti­kel 2 des EU-Ver­trags darstellen.

»Die Wer­te, auf die sich die Uni­on grün­det, sind die Ach­tung der Men­schen­wür­de, Frei­heit, Demo­kra­tie, Gleich­heit, Rechts­staat­lich­keit und die Wah­rung der Men­schen­rech­te ein­schließ­lich der Rech­te der Per­so­nen, die Min­der­hei­ten ange­hö­ren. Die­se Wer­te sind allen Mit­glied­staa­ten in einer Gesell­schaft gemein­sam, die sich durch Plu­ra­lis­mus, Nicht­dis­kri­mi­nie­rung, Tole­ranz, Gerech­tig­keit, Soli­da­ri­tät und die Gleich­heit von Frau­en und Män­nern auszeichnet.«

Das Euro­päi­sche Par­la­ment besitzt das Recht, den Rat dazu auf­zu­for­dern, ein Arti­kel 7‑Verfahren ein­zu­lei­ten. Stimmt das Par­la­ment am 12. Sep­tem­ber für den ein­ge­brach­ten Vor­schlag, wür­de es zum ers­ten Mal Gebrauch von die­sem Initia­tiv­recht machen. Dazu muss das Par­la­ment den Vor­schlag mit einer Mehr­heit sei­ner Mit­glie­der und zwei Drit­teln der tat­säch­lich abge­ge­be­nen Stim­men annehmen.

Orbáns Katz und Maus-Spiel mit der EU

Seit 2010 wur­den 17 Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fah­ren gegen Ungarn im Bereich »Jus­tiz, Grund­rech­te und Bür­ger­schaft« ein­ge­lei­tet. Die unga­ri­sche Ver­fas­sung wur­de seit Inkraft­tre­ten am 01. Janu­ar 2012 sie­ben Mal geändert.

Auf die zahl­rei­chen Geset­zes­än­de­run­gen bezo­gen, schluss­fol­ger­te der Euro­pa­par­la­men­ta­ri­er Rui Tava­res in sei­nem viel beach­te­ten Bericht zur »Lage der Grund­rech­te in Ungarn« bereits im Jahr 2013, dass die­ser Trend – wenn er nicht recht­zei­tig und ange­mes­sen kor­ri­giert wird – ris­kiert auf eine schwer­wie­gen­de Ver­let­zung der in Arti­kel 2 dar­ge­leg­ten euro­päi­schen Wer­te hinauszulaufen.

Ungarns poli­ti­sche Ent­wick­lung: Eine Gefähr­dung der Wer­te, auf denen sich die EU gegrün­det hat.

In ihren neu­en Bericht zur »Lage in Ungarn« bezieht die Euro­pa­par­la­ments­ab­ge­ord­ne­te Judith Sar­gen­ti­ni alle Inter­ven­tio­nen der EU mit ein und kon­sta­tiert, die Regie­rung habe kei­ne wesent­li­chen Ände­run­gen zur Wah­rung der Rechts­staat­lich­keit in Ungarn vor­ge­nom­men. Ganz im Gegen­teil: Ungarns poli­ti­sche Ent­wick­lung sei eine Gefähr­dung der Wer­te, auf denen sich die EU gegrün­det hat.

Von der Herrschaft des Rechts zur Herrschaft der Willkür

Unmit­tel­bar nach der Ver­öf­fent­li­chung des Sar­gen­ti­ni-Berichts am 11. April 2018 beschloss das unga­ri­sche Par­la­ment meh­re­re Geset­zes­ver­schär­fun­gen. Am 20. Juni 2018 wur­de ein Geset­zes­pa­ket beschlos­sen, das von der Venice Com­mis­si­on des Euro­pa­rats unter­sucht wur­de. Ihrer Mei­nung nach steht die­ses Geset­zes­pa­ket im Wider­spruch zur Euro­päi­schen Menschenrechtskonvention.

Vik­tor Orbán und sei­ne Fidesz-Par­tei regie­ren Ungarn seit 2010. Seit­dem treibt die Regie­rung den auto­ri­tä­ren Umbau des Lan­des in eine »illi­be­ra­le Demo­kra­tie« (Orbán) vor­an. Im Demo­kra­tie­in­dex der NGO Free­dom House rutscht Ungarn immer wei­ter ab.

  • Medi­en- Pres­se­frei­heit: Noch im sel­ben Jahr der Wahl von Fidesz star­te­te die neue Regie­rung ihren Angriff auf unab­hän­gi­ge Medi­en. Ende 2010 ver­ab­schie­de­te Fidesz ein Medi­en­ge­setz, das EU-weit kri­ti­siert In den letz­ten acht Jah­ren hat sich die Medi­en­land­schaft so stark ver­än­dert, dass es kaum noch regie­rungs­kri­ti­sche Medi­en gibt.
  • Freie und fai­re Wah­len: 2012 änder­te die Regie­rung das Wahl­sys­tem zu ihren Guns­ten. Die Wahl­be­ob­ach­tungs­mis­si­on der OSZE kam zu dem Schluss, dass es in der Finan­zie­rung des letz­ten Wahl­kampfs gro­ße Über­schnei­dun­gen von staat­li­chen Res­sour­cen und den Res­sour­cen der Regie­rung gab. Die Mög­lich­keit, Wer­bung für Par­tei­en in pri­va­ten Medi­en zu machen, wur­de fak­tisch abgeschafft.
  • Feind­bil­der: Wie jeder auto­ri­tä­re Füh­rer braucht Orbán einen Feind, durch den die eige­ne Poli­tik legi­ti­miert wird. Spä­tes­tens seit den Flücht­lings­be­we­gung 2015 waren dies für Orbán »ille­ga­le Ein­wan­de­rer«. Da Orbán das Land inzwi­schen abge­schot­tet und ein Kli­ma geschaf­fen hat, das kei­nen Schutz­su­chen­den im Land hält, muss­te ein neu­er Feind her. Die­sen fand Orbán in Brüs­sel und im eige­nen Land. EU-Insti­tu­tio­nen und unga­ri­sche Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen sind für Orbán Teil des »Sor­os-Plans«. Eine staat­lich initi­ier­te anti­se­mi­ti­sche Ver­schwö­rungs­theo­rie, die auf sei­nem Wider­sa­cher Geor­ge Sor­os und all jenen auf­baut, die für eine offe­ne und demo­kra­ti­sche Gesell­schaft eintreten.
    Am 12. April 2018 ver­öf­fent­lich­te eine regie­rungs­na­he Tages­zei­tung eine Lis­te hun­der­ter Regie­rungs­kri­ti­ker. Am 19.Juni 2018 wur­den in der­sel­ben Zei­tung Namen und Bil­der von Wissenschaftler*innen, die sich mit The­men wie Migra­ti­on oder LGBTQ-Rech­te beschäf­ti­gen, veröffentlicht.

Zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen, die Schutz­su­chen­den Hil­fe leis­ten, wer­den durch das neue Gesetz mit Haft­stra­fen bedroht. Der Begriff Hil­fe beginnt hier schon bei der Ver­tei­lung von Infor­ma­ti­ons­ma­te­ria­li­en. Das Hun­ga­ri­an Hel­sin­ki Com­mit­tee (HHC) sieht die Gefahr einer neu­en Ära der Angst, wie sie es seit dem Zusam­men­bruch der kom­mu­nis­ti­schen Dik­ta­tur in Ungarn nicht gab.

Asyl­rechts­ver­schär­fun­gen bis hin zur Essensverweigerung

Teil des Geset­zes­pa­kets war auch eine Ver­fas­sungs­än­de­rung. Die­se beschränkt Asyl nur noch auf Per­so­nen, die unmit­tel­bar aus dem Ver­fol­ger­staat nach Ungarn ein­rei­sen. Bereits im Dezem­ber 2015, nach Ein­füh­rung der »Tran­sit­zo­nen« in Ungarn, begann die EU-Kom­mis­si­on ein Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fah­ren wegen Nicht­ein­hal­tung von EU-Recht. Am 19. Juli 2018 beschloss die EU- Kom­mis­si­on, Ungarn vor dem Gerichts­hof der Euro­päi­schen Uni­on zu ver­kla­gen, »weil die Asyl- und Rück­füh­rungs­vor­schrif­ten des Lan­des nicht mit dem EU-Recht ver­ein­bar sind.«

Die ers­ten prak­ti­schen Aus­wir­kun­gen der Geset­zes­än­de­run­gen zeig­ten sich im August 2018. Die in den unga­ri­schen Tran­sit­zo­nen zustän­di­gen Behör­den wei­ger­ten sich, Schutz­su­chen­den mit Nah­rung zu ver­sor­gen. Das HHC muss­te »vor­läu­fi­ge Maß­nah­men« beim Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te bean­tra­gen, um die Nah­rungs­mit­tel­ver­sor­gung der Betrof­fe­nen wie­der sicherzustellen.

Feindbild Flüchtlinge

Schon seit 2015 geht die Fidesz-Regie­rung vehe­ment gegen Flücht­lin­ge vor. Die unga­ri­sche Regie­rung errich­te­te Sta­chel­draht­zäu­ne an der Gren­ze zu Ser­bi­en und Kroa­ti­en. Teil der Zäu­ne wur­den Tran­sit­zo­nen. Seit März 2017 kön­nen Asyl­an­trä­ge nur noch inner­halb die­ser Tran­sit­zo­nen gestellt wer­den. Mit dem Drei­klang aus »drau­ßen hal­ten – alle ein­sper­ren – kei­ne Inte­gra­ti­on« fasst das HHC die unga­ri­sche Flücht­lings­po­li­tik zusam­men. Der Erfolg die­ses asyl­recht­li­chen Kahl­schlags: Ledig­lich 430 Asyl­ge­su­che wur­den im ers­ten Halb­jahr 2018 in Ungarn verzeichnet.

Unga­ri­sche Flücht­lings­po­li­tik: Ein Drei­klang aus »drau­ßen hal­ten – alle ein­sper­ren – kei­ne Integration«

Beglei­tet wur­den die Geset­zes­än­de­run­gen und die Asyl­rechts­ver­schär­fun­gen von einer öffent­li­chen Stim­mungs­ma­che gegen Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen, die sich für Flücht­lin­ge ein­set­zen. Mit­glie­der der Jugend­or­ga­ni­sa­ti­on von Fidesz brach­ten im Juni 2018 Sti­cker an meh­re­ren NGO-Büros an, um sie mit nega­ti­ven Labels zu dif­fa­mie­ren. Am 20. Juli dann wur­de ein Gesetz ver­ab­schie­det, das eine Straf­steu­er für Orga­ni­sa­tio­nen, die Schutz­su­chen­de unter­stüt­zen, ein­führt. Sie beträgt 25 Pro­zent des Gegen­werts der aus dem Aus­land erhal­te­nen Spen­den. Auch hier prüft die EU-Kom­mis­si­on die Ver­ein­bar­keit mit EU-Recht.

EU muss sich auf die Seite der ungarischen Zivilgesellschaft stellen

Noch kurz vor den Par­la­ments­wah­len 2018 hielt Orbán eine durch und durch ras­sis­ti­sche und anti­se­mi­ti­sche Rede. Sei­ne Anspra­chen, genau­so wie sei­ne Geset­ze, offen­ba­ren sei­ne anti­de­mo­kra­ti­sche Gesin­nung, aber die Hür­den für ein Arti­kel 7‑Verfahren sind hoch. Ein mög­li­cher Stim­m­ent­zug, muss im Euro­päi­schen Rat ein­stim­mig beschlos­sen wer­den. Ungarn und Polen haben sich für die­sen Fall gegen­sei­ti­ge Rücken­de­ckung zugesichert.

Den­noch: So wie sich am 09. Mai 2018 77 Akademiker*innen mit dem HHC soli­da­ri­sier­ten, müs­sen sich die Abge­ord­ne­ten des Euro­pa­par­la­ments am 12. Sep­tem­ber mit der unga­ri­schen Zivil­ge­sell­schaft soli­da­ri­sie­ren und für »Ja« stimmen.

»Wir sind an dem Punkt, an dem die Herr­schaft des Rechts endet und die Will­kür­herr­schaft beginnt«, bringt das HHC gemein­sam mit ande­ren NGOs die Lage in Ungarn auf den Punkt.

Damit wür­de ein Zei­chen gesetzt, dass die EU demo­kra­ti­sche Grund­wer­te ach­tet und ihre Ein­hal­tung ver­tei­digt. Zu Recht wei­sen füh­ren­de Per­so­nen der unga­ri­schen Zivil­ge­sell­schaft dar­auf hin, dass es auch ein Signal an ande­re EU-Staa­ten wäre, die Orbáns Poli­tik kopie­ren. So sieht es auch Már­ta Par­da­vi vom HHC: »Eine Debat­te über die Akti­vie­rung von Arti­kel 7 könn­te eine War­nung an ande­re Staa­ten sein und eine Dis­kus­si­on dar­über ein­lei­ten, wel­ches Euro­pa wir wollen.«

(dm)