20.03.2020
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Das Lager Moria hat mittlerweile riesige Ausmaße angenommen. Über 20.000 Menschen leben hier. In Deutschland gilt das bereits als mittelgroße Stadt. Foto: Björn Kietzmann

Rechtsextreme und rassistisch motivierte Übergriffe, Aussetzung des Rechts auf Asyl und medizinischer Notstand - in den vergangenen Wochen haben sich die Ereignisse auf den griechischen Inseln in der Ägäis überschlagen.

»Flücht­lin­ge wol­len die Insel ver­las­sen, aber die Poli­zei lässt sie nicht aufs Fest­land. Die Situa­ti­on hier ist unmensch­lich. Es ist eine Schan­de für Euro­pa!« sagt S. aus Soma­lia. Auf­grund des EU-Tür­kei-Deals kann er Samos seit drei Jah­ren nicht ver­las­sen. Seit drei Jah­ren lebt er meist in einem Zelt. Er appel­liert: »Eine Lösung muss sofort gefun­den werden.«

Moria: Jeden Tag eine Großveranstaltung

Wäh­rend auch in Grie­chen­land das öffent­li­che Leben still­ge­legt wird, um kör­per­li­chen Kon­takt zu mini­mie­ren und damit der Aus­brei­tung von Covid-19 ent­ge­gen zu tre­ten, müs­sen Mit­te März 2020 rund 41.000 Schutz­su­chen­de in meist infor­mel­len Unter­künf­ten inner­halb und außer­halb der fünf EU-Hot­spots auf den ägäi­schen Inseln aus­har­ren. Über die Hälf­te sind Frau­en, Kin­der und Jugendliche.

41.000

Men­schen leben Stand Mit­te März unge­fähr in Moria und den ande­ren Hotspots.

Das Lager Moria auf Les­vos ist ein ein­zi­ger Alb­traum: Ende Janu­ar 2020 gab es dort drei Ärz­te, acht Kran­ken­schwes­tern und sie­ben Dol­met­scher für knapp 20.000 Men­schen. In Tei­len des Lagers müs­sen sich bis zu 500 Per­so­nen eine Dusche tei­len. Zwi­schen Sep­tem­ber 2019 und Janu­ar 2020 wur­den sie­ben Todes­fäl­le bestätigt.

Kein Notfallplan für Covid-19-Ausbruch

Laut Ärz­te ohne Gren­zen gibt es kei­nen ernst­zu­neh­men­den Not­fall­plan für den Fall, dass Covid-19 das Lager erreicht. Simp­le Prä­ven­ti­ons­maß­nah­men wie regel­mä­ßi­ges Hän­de­wa­schen kön­nen nicht ein­ge­hal­ten wer­den. Risi­ko­grup­pen, etwa älte­re Men­schen und Men­schen mit Vor­er­kran­kun­gen, kön­nen sich zum Schutz nicht selbst iso­lie­ren. Es droht eine rasan­te Aus­brei­tung des Virus.

Um die Aus­brei­tung von Covid-19 zu ver­hin­dern, hat die grie­chi­sche Regie­rung eine teil­wei­se Aus­gangs­sper­re für Moria Hot­spots ver­hängt. Moria könn­te end­gül­tig zur Todes­fal­le wer­den. Die Insel­ver­wal­tun­gen wer­den erneut sich selbst überlassen.

»Die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung ist begrenzt, wenn die­se medi­zi­ni­schen Diens­te geschlos­sen wer­den, wenn die Orga­ni­sa­tio­nen nicht mehr in der Lage sind Flücht­lin­gen zu hel­fen, selbst in ihrem begrenz­ten Umfang, dann ist das eine Kata­stro­phe. Ich weiß, dass es vie­le Flücht­lin­ge in Moria gibt, die krank sind, aber kei­nen Zugang zu medi­zi­ni­scher Hil­fe haben.«

Z. aus Afgha­ni­stan, Lesbos

Wer Abschottung sät, erntet Rassismus 

Bis­her galt ins­be­son­de­re Les­vos als Ort der Soli­da­ri­tät gegen­über Schutz­su­chen­den. Vie­le Bewohner*innen stel­len tag­täg­lich eine gro­ße Auf­nah­me­be­reit­schaft unter Beweis, die die Insel­ge­mein­schaft seit Jah­ren aus­macht. Jedoch füh­len sich die Bewohner*innen zuneh­mend von der Poli­tik im Stich gelas­sen. Efi Latsou­di, RSA Mitarbeiter*in, bestä­tigt, dass durch die Igno­ranz der Poli­tik die Stim­mung in der Bevöl­ke­rung umschlägt. Tei­le radi­ka­li­sie­ren sich und erklä­ren Flücht­lin­ge zu ihrem Feindbild.

In einer Time­line hat RSA die Ent­wick­lun­gen nach dem Regie­rungs­wech­sel im Juli 2019 doku­men­tiert. Die­se umfasst auch die Rei­he von Pro­tes­ten der Inselbewohner*innen und Lokal­re­gie­rung gegen die Errich­tung neu­er geschlos­se­ner Lager. 

Eines der Antritts­ver­spre­chen der im Som­mer 2019 gewähl­ten Regie­rung unter Minis­ter­prä­si­dent Kyria­kos Mit­so­ta­kis, Nea Dimo­kra­tia, war die Lee­rung der bestehen­den Hot­spots und die Schaf­fung geschlos­se­ner Lager auf den Inseln. Das Asyl­recht wur­de mas­siv beschnit­ten und Mit­so­ta­kis ver­sprach die Aus­wei­tung der Abschie­bun­gen in die Tür­kei. Seit Herbst 2019 kommt es auf den Inseln zuneh­mend auch zu ras­sis­ti­schen Pro­tes­ten, die sich gegen die Auf­nah­me von Schutz­su­chen­den richten.

Die Bür­ger­meis­ter der betrof­fe­nen Inseln in der Nord-Ägä­is weh­ren sich gegen die Schaf­fung geschlos­se­ner Zen­tren. Ende Febru­ar eska­lie­ren die Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen Poli­zei und Pro­tes­tie­ren­den aus bei­den Lagern. Die Bewohner*innen for­dern – aus unter­schied­li­chen Grün­den – die Eva­ku­ie­rung der Schutzsuchenden.

Flüchtlinge bleiben machtpolitischer Spielball 

Nach­dem die Tür­kei Anfang März 2020 ver­kün­det, die Ein­rei­se in die EU nicht mehr zu ver­hin­dern, hof­fen vie­le Schutz­su­chen­de auf Sicher­heit in Euro­pa. Die grie­chi­sche Regie­rung reagiert mit roher Gewalt und setzt kur­zer Hand das Recht einen Asyl­an­trag zu stel­len für einen Monat aus – ein offen­sicht­li­cher Bruch inter­na­tio­na­len und euro­päi­schen  Rechts.

»Hier sind in den letz­ten Tagen vie­le Men­schen wütend auf uns gewor­den. Einer kam zu mir und sag­te, »Du musst zurück in dein Land gehen! «. Ich bin hier, weil ich nicht in mei­nem Land sein kann.«

N. aus dem Iran, Samos

Schutz­su­chen­de wer­den gewalt­sam dar­an gehin­dert, in Grie­chen­land ein­zu­rei­sen. Vie­le wer­den direkt in die Tür­kei zurück­ge­wie­sen. Ande­re wer­den Tage unter unhalt­ba­ren Bedin­gun­gen auf einem Mili­tär­schiff oder in Poli­zei­sta­tio­nen fest­ge­hal­ten. EU-Kom­mis­si­ons­che­fin Ursu­la von der Ley­en lobt Grie­chen­land für das radi­ka­le Vor­ge­hen. »Ich dan­ke Grie­chen­land dafür, dass es in die­ser Zeit unser »Euro­päi­sches Schutz­schild« ist.«

In einer zwei­ten Time­line hat RSA die Angrif­fe gegen soli­da­ri­sche Struk­tu­ren, Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen, Frei­wil­li­ge und Journalist*innen zwi­schen Ende Febru­ar und März 2020 zusammengestellt.

Als natio­na­les Schutz­schild ver­ste­hen sich auch rechts­extre­mis­ti­sche Schlä­ger­trup­pen, die auch aus Deutsch­land auf die ägäi­schen Inseln rei­sen. Schutz­su­chen­den wird die Aus­schif­fung im Hafen ver­wehrt, Journalist*innen und Menschenrechtler*innen wer­den tät­lich ange­grif­fen und Brand­an­schlä­ge auf soli­da­ri­sche Unter­stüt­zungs­struk­tu­ren ver­übt. Angst vor Über­grif­fen wird zum Teil des All­tags auf den Inseln.

»Ich füh­le mich gefan­gen. Ich bin sicher, dass ich hier gefan­gen bin. Ich will die Insel ver­las­sen, irgend­wie. (…) Auf die­ser Insel zu sein fühlt sich an, wie in einem Raum zu sein, der kei­ne Fens­ter und kei­ne Türen hat. Ich kann hier nicht mal nor­mal atmen oder schlafen.«

A. aus dem Irak, Kos

Evakuierung Jetzt!

Die poli­ti­sche Blo­cka­de Euro­pas hat sich seit der Unter­zeich­nung des Abkom­mens im Jahr 2016 ste­tig ver­schärft. Sie gip­felt nach vier Jah­ren in der aktu­el­len recht­li­chen und huma­ni­tä­ren Kata­stro­phe in Griechenland.

Die Reak­ti­on auf das dra­ma­ti­sche Schei­tern des toxi­schen Deals von 2016 kann nicht die Aus­hand­lung eines wei­te­ren Deals mit dem Erdo­gan-Regime sein. Es müs­sen neue poli­ti­sche Maß­nah­men beschlos­sen wer­den, die sich radi­kal von der men­schen­feind­li­chen Abschre­ckung und der Mili­ta­ri­sie­rung der EU-Außen­gren­zen unter­schei­den. Lösun­gen müs­sen im Ein­klang mit Flücht­lings- und Men­schen­rech­te stehen.

Die Situa­ti­on in den Lagern auf den Inseln ist lebens­be­droh­lich. Um den voll­stän­di­gen Zusam­men­bruch und die mas­sen­haf­te Anste­ckung mit Covid-19 zu ver­hin­dern, ist ein groß ange­leg­tes Eva­ku­ie­rungs­pro­gramm in ande­re EU-Mit­glieds­staa­ten unumgänglich.

(mz / dm)