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Urteil des Bundesverwaltungsgerichts: Grundrechtsschutz light in Erstaufnahmeeinrichtungen
Sind Zimmer in Geflüchtetenunterkünften vom Grundgesetz geschützte Wohnungen? Ist bei einer Abschiebung ein Durchsuchungsbeschluss notwendig? Dürfen sich ehemalige Bewohner*innen nachträglich gegen die Hausordnung wehren? Diese Fragen hatte das Bundesverwaltungsgericht zu klären – PRO ASYL war dabei und ist mehr als ernüchtert.
Am Donnerstag, den 15. Juni 2023, entschied das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig über zwei zu einem Verfahren verbundene Klagen (BVerwG 1 CN 1.22, BVerwG 1 C 10.22). In beiden ging es um die Frage des grundrechtlichen Schutzes von Zimmern in Sammelunterkünften von Geflüchteten. Die Klageverfahren wurden von einem Bündnis von Organisationen unterstützt, dem PRO ASYL, die Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. (GFF), die Aktion Bleiberecht Freiburg und der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg angehören.
Angesichts der prekären Fluchtwege und des existenziellen Elends an den EU-Außengrenzen wird oft vergessen, dass die Ankunft in Deutschland nicht bedeutet, dass Schutzsuchende zur Ruhe kommen dürfen. Sie müssen gemäß § 47 des Asylgesetzes zunächst bis zu 18 Monaten (und in manchen Fällen noch länger) in Erstaufnahmeeinrichtungen leben. Dass Schutzsuchende auch dort Privatsphäre haben, sollte eine Selbstverständlichkeit sein, sieht aber in der Praxis oft anders aus. Die Erstaufnahmeeinrichtungen bedeuten meist repressive Massenunterbringungen und Isolation. Viele Geflüchtete gehen dauerhaft mit der Angst schlafen, in der Nacht aus ihrem Zimmer geholt und für eine Abschiebung oder Rückführung in ein anderes EU-Land zum Flughafen gebracht zu werden.
Um über den grundrechtlichen Wohnungsschutz Geflüchteter einheitlich zu entscheiden, hatte das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig zwei Verfahren verbunden und hierzu nun eine doppeldeutige Entscheidung getroffen: Zimmer in Sammelunterkünften seien zwar grundrechtlich geschützt, dennoch seien Durchsuchungsbeschlüsse nicht notwendig und die Polizei dürfe zum Zweck einer Abschiebung private Zimmer betreten. Damit schränkte das Bundesverwaltungsgericht das zuerkannte Grundrecht durch die Hintertür gleich wieder ein.
Klage 1: Restriktive Hausordnung in der Landesaufnahmeeinrichtung Freiburg
Sechs Bewohner der Erstaufnahmeeinrichtung in Freiburg hatten 2020 mit Unterstützung des Klagebündnisses beim Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg einen Normenkontrollantrag gegen ihre Hausordnung eingereicht. Die in allen Erstaufnahmeeinrichtungen Baden-Württembergs einheitlich (und an vielen Orten bundesweit ähnlich) ausgestaltete Hausordnung reguliert den Alltag der Bewohner*innen umfassend. Unter anderem sind die Türen zu den Schlafräumen nicht abschließbar. Der Sicherheitsdienst kontrolliert täglich die Zimmer und darf diese auch nachts und gegen den Willen betreten. Wer das Gebäude für Erledigungen oder Spaziergänge verlässt, wird bei der Rückkehr in die Einrichtung einer Einlass- und Taschenkontrolle unterzogen.
Im Februar 2022 entschied der Verwaltungsgerichtshof, dass die in der Hausordnung geregelten Befugnisse des Sicherheitsdienstes, die Zimmer der Geflüchteten jederzeit betreten und kontrollieren zu können, unwirksam sind. Das Verwaltungsgericht Stuttgart hatte als vorherige Instanz noch entschieden, dass der Grundrechtsschutz in Aufnahmeeinrichtungen für Geflüchtete nur eingeschränkt – vergleichbar mit Geschäftsräumen – gilt. Der Verwaltungsgerichtshof stellte nun aber klar, dass die Schlafzimmer in Sammelunterkünften grundrechtlich geschützte Wohnräume gemäß Art. 13 Abs. 1 des Grundgesetzes (»Die Wohnung ist unverletzlich«) sind. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fallen unter den Schutz dieses Grundrechts nicht nur Wohnungen, sondern alle Räume, in denen der Mensch das Recht hat, in Ruhe gelassen zu werden. Dieser hohe Schutz führt dazu, dass eine Rechtsgrundlage für einen Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung eine konkrete Rechtsgrundlage verlangt. In § 6 Abs. 3 Satz 2 Flüchtlingsaufnahmegesetz steht lediglich: »Das Regierungspräsidium Karlsruhe erlässt die Nutzungsordnung und trifft die zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung erforderlichen Anordnungen und Maßnahmen«. Dieser Paragraf ist als gesetzliche Ermächtigung zum Erlass einer Hausordnung zu unbestimmt und generell.
Sowohl das Bundesland Baden-Württemberg als Beklagte als auch das Klagebündnis hatten Revision gegen die Entscheidung des Verwaltungsberichtshofs Baden-Württemberg eingelegt. Damit sollte das Bundesgericht als höhere Instanz die Hausordnung nochmals an den Grundrechten messen. Das Verfahren wird über den PRO ASYL Rechtshilfefonds finanziert.
Ernüchterung bei der mündlichen Verhandlung
PRO ASYL war bei der mündlichen Verhandlung vor Ort und hat den Verfahrensgang beobachtet. Der vorsitzende Richter ließ schon anfangs durchklingen, dass er Zweifel an der Zulässigkeit des Normenkontrollantrags habe. Zum einen sind die Kläger nicht mehr wohnhaft in der Erstaufnahmeeinrichtung in Freiburg und zum anderen ist die damalige Hausordnung inzwischen durch eine neue abgelöst worden. Die Anwält*innen brachten dazu vor, dass es auf das Rechtsschutzbedürfnis zum Zeitpunkt der Antragsstellung ankommen müsse. Ansonsten liegt es in den Händen der Antragsgegner*in, die Betroffenen in andere Unterkünfte zu verlegen und sich so vor Angriffen auf ihre rechtswidrigen Hausordnungen zu schützen. Auch bleiben die Rechtsfragen bei der neuen Hausordnung bestehen und es kommt gerade darauf an, diese umfassend zu prüfen.
Das Gericht wandte ein, dass anstelle einer Normenkontrolle gegen die gesamte Hausordnung auch der Rechtsschutz gegen Einzelmaßnahmen, also beispielsweise eine konkrete Taschenkontrolle, gesucht werden könne. Dies lässt jedoch einen Blick darauf vermissen, dass den Betroffenen die Einklagbarkeit ihrer Rechte damit wesentlich erschwert wird.
Der vorsitzende Richter meinte zudem, dass Zutrittskontrollen an vielen Orten üblich wären. Darauf erwiderten die Anwält*innen, dass sich dies auf freiwillige, verzichtbare Aktivitäten (Flughafen, Konzertbesuche etc.) beziehe. Es dürfe nicht vergessen werden, dass Geflüchtete durch diese Kontrollen müssen, um an ihren Wohnraum und Rückzugsort zu gelangen und ihnen bei Weigerung Sanktionen drohen.
Das Land Baden-Württemberg wies noch darauf hin, dass Erstaufnahmeeinrichtungen eine gewisse Ordnungsfunktion hätten und die Hausordnungen den Schutz der Bewohner*innen sicherstellen sollten. Dass es Regelungen braucht, stellten die Kläger allerdings nicht infrage, es geht ihnen aber darum, wie diese ausgestaltet sind.
Kein inhaltliches Urteil zur Rechtswidrigkeit!
Die fünf Richter*innen verkündeten am selben Tag das Urteil und wiesen die Revision gegen die Hausordnung zurück, weil es am Rechtsschutzbedürfnis fehle. Damit wurde über die Rechtmäßigkeit der Hausordnung nicht inhaltlich geurteilt – nur weil die Kläger dort nicht mehr wohnen. Dies verkennt jedoch, dass die Regeln für zahlreiche Geflüchtete weiter gelten. Wenn das Bundesverwaltungsgericht die Rechtswidrigkeit der Hausordnung festgestellt hätte, wäre das ein wichtiger Appell gewesen, alle Hausordnungen von Erstaufnahmeeinrichtungen bundesweit grundrechtskonform auszugestalten.
»Wir haben nicht nur für uns geklagt, sondern für alle Menschen, die in diesen gefängnisähnlichen Camps leben. Deswegen verstehen wir nicht, warum das Gericht nur deshalb nicht entscheiden will, weil wir dort nicht mehr leben. Viele geflüchtete Menschen sind nach wie vor von diesen repressiven Regeln betroffen. Wir kämpfen weiter für ein selbstbestimmtes Wohnen«, kommentierte Ba Gando, Kläger aus Freiburg, die enttäuschende Entscheidung.
Klage 2: Harte Abschiebungspraxis in Ellwangen
Hintergrund der zweiten Klage war ein Polizeieinsatz im Juni 2018 in der Erstaufnahmeeinrichtung in Ellwangen. Der Kläger Alassa Mfouapon sollte nach Italien abgeschoben werden, weil er dort zuerst seinen Asylantrag gestellt hatte und damit Italien nach den Dublin-Regelungen für seinen Asylantrag zuständig war. Mehrere Polizist*innen begleitet von Polizeihunden, drangen in das Zimmer des Klägers ein – einen gerichtlichen Durchsuchungsbeschluss hatten sie dafür jedoch nicht. Zuvor hatte die Erstaufnahmeeinrichtung Ellwangen bundesweit für Schlagzeilen gesorgt, nachdem Bewohner*innen gegen die Abschiebung eines Togolesen demonstriert hatten. Die Verhinderung der Abschiebung wurde als Ende des Rechtsstaats in Deutschland stilisiert und Alassa Mfouapon wurde als Sprecher der Geflüchteten in Ellwangen Ziel einer rechten Hetzkampagne.
Gegen die einschneidende Polizeimaßnahme bei seiner Abschiebung hatte Alassa Mfouapon beim Verwaltungsgericht in Stuttgart Klage erhoben. Dieses hielt in seinem Urteil einen Durchsuchungsbeschluss nicht für notwendig, da es sich nicht um »Wohnungen« handele. In dem anschließenden Berufungsverfahren urteilte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zwar, dass es sich bei Geflüchtetenunterkünften auch um private Wohnräume handelt. Der Gerichtshof schränkte den Grundrechtsschutz aber ein, indem er argumentierte, dass die Zimmer so klein und übersichtlich sein, dass keine »Suche« inklusive Gerichtsbeschluss erforderlich sei.
Häufig – zum Beispiel bei Strafverfahren – führen Wohnungsdurchsuchungen ohne Gerichtsbeschluss zur Unwirksamkeit der Maßnahme und gefundene Beweise dürfen nicht verwertet werden. Die ersten beiden Instanzen sahen dies bei Geflüchtetenunterkünften aber anders und meinten, dass ein »Suchen« durch die Übersichtlichkeit der Zimmer gar nicht nötig war und darin lediglich ein »Betreten« bestünde. Dagegen hatte das Klagebündnis Revision eingelegt.
Klageweg für Abgeschobene schwierig
Generell wurde die Frage, ob eine Abschiebungsmaßnahme rechtmäßig war, bisher nur in wenigen Fällen gerichtlich entschieden. Den Abgeschobenen ist es nur sehr selten möglich, im Nachgang dagegen zu klagen – sie sind schließlich nicht mehr in Deutschland. Im Herbst 2021 hatte das Verwaltungsgericht Berlin im sogenannten »Rammbock-Fall« geurteilt, dass das Einbrechen der Polizei in das Zimmer eines Geflüchteten zur Abschiebung ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss rechtswidrig ist. Der Innensenator Berlins Andreas Geisel (SPD) hat die Abholung eines Abzuschiebenden aus seinem Zimmer als »Betreten« und nicht als »Durchsuchen« bewertet. Auch hier ist mit Unterstützung von PRO ASYL noch eine Klage beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg anhängig, weil das Land Berlin gegen das Urteil in Berufung gegangen ist.
Diese Abschiebepraxis wurde durch das sogenannte »Geordnete-Rückkehr-Gesetz« im August 2019 legalisiert und in § 58 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz festgelegt, dass es sich um ein reines »Betreten« handelt, wenn die Polizei zur Abschiebung in die Zimmer von Sammelunterkünften eindringt.
Dem ersten Aufatmen folgt die Enttäuschung
Auf dieses Gesetz verwies auch das Bundesverwaltungsgericht, als zur Verhandlung der Rechtmäßigkeit der Abschiebungen in Ellwangen übergegangen wurde. Die Richter*innen stellten zunächst ausdrücklich klar, dass der Schutzbereich des Grundrechts der Unverletzlichkeit der Wohnung auch in Geflüchtetenunterkünften uneingeschränkt gilt.
Ein erstes Aufatmen auf Klägerseite wurde dann aber schnell abgemildert. Denn die Richter*innen erachteten im Weiteren einen Durchsuchungsbeschluss zum Aufsuchen einer abzuschiebenden Person für nicht notwendig. Es fehle in subjektiver und objektiver Hinsicht am »Aufspüren von etwas Verborgenem«. Die Anwält*innen hielten dem entgegen, dass ein Verborgensein durch das Zimmer ausreichen müsse. In den allerwenigsten Fällen sei eine Person direkt beim Öffnen der Tür sichtbar. Der Blick um die Ecke oder unter das Bett sei notwendig und damit liege eine qualifizierte Suchhandlung vor. Zudem verwiesen sie darauf, dass die Polizei ja zunächst klopfen und die betroffene Person hätte herausbitten können.
Sind Abschiebungen eine Abwehr »dringender Gefahr«?
Die Folgefrage war dann, ob bei einer Abschiebung die Abwehr einer »dringende Gefahr« im Sinne von Art. 13 Abs. 7 des Grundgesetzes vorliegt. Nur dann darf nämlich auf andere Weise als mit einem Durchsuchungsbeschluss in die Unverletzlichkeit der Wohnung eingegriffen werden. Insbesondere werden im Grundgesetz dazu die Fallgruppen zur Behebung der Raumnot, zur Bekämpfung von Seuchengefahr oder zum Schutze gefährdeter Jugendlicher genannt. Die Klägerseite widersprach dem: Diese Definition könne keineswegs mit der Abschiebung einer einzelnen Person gleichgesetzt werden. Die Durchsetzung der Ausreisepflicht von Ausländer*innen stellt keine drohenden Schäden für besonders wichtige Rechtsgüter dar. Nach Stellungnahmen aller Beteiligten wurde die Sitzung geschlossen.
Enttäuschendes Urteil: Grundrechtsschutz light
In seiner Urteilsverkündung wies das Bundesverwaltungsgericht auch die zweite Revision zurück: Die fünf Richter*innen stellten entgegen der Vorinstanz zumindest klar, dass auch in Erstaufnahmeeinrichtungen der volle Schutz aus Art. 13 des Grundgesetzes gelte. Allerdings werteten sie die polizeiliche Maßnahme nicht als Durchsuchung, die nach dem Grundgesetz stets einen richterlichen Beschluss erfordert.
Dass keine Durchsuchung vorliegen würde, nur weil die Zimmer in Sammelunterkünften klein und übersichtlich sind, führt nun dazu, dass der Grundrechtsschutz ausgehebelt wird. Das Bundesverwaltungsgericht legitimiert zudem, mit der getroffenen Definition, dass mit Abschiebungen eine »dringende Gefahr« verhindert werden würde, harte und überfallartige Abschiebepraxen, oft auch zu Nachtzeiten. Auch nach Verkündung bleibt offen, wie das Gericht mit der Ausreisepflicht des Klägers eine dringende Gefahr für ein gewichtiges Rechtsgut begründen will. Es bleibt also die genauen Entscheidungsgründe abzuwarten, die erst in einigen Wochen veröffentlicht werden.
Als Reaktion auf das Urteil fasste der Kläger Alassa Mfouapon zusammen: »Heute wurde wieder einmal deutlich: Die Rechte von geflüchteten Menschen sind in Gefahr – wir bekommen nicht den gleichen Schutz wie andere Menschen.«
Eine höchstrichterliche Entscheidung bleibt also weiter notwendig, um diese bundesweite verfassungswidrige Praxis aufzuheben. Das Bündnis plant dazu nun eine Verfassungsbeschwerde!
Victoria Lies (Referendarin bei PRO ASYL)