News
Tote Geflüchtete als griechische Kontinuität: Von Farmakonisi über Pserimos nach Pylos
Griechenland ist immer wieder Schauplatz von Menschenrechtsverletzungen gegenüber Schutzsuchenden. Vergangenes Jahr wurde das Land wegen dem Fall Farmakonisi vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt. Nun folgte ein Urteil wegen der tödlichen Schüsse vor Pserimos. Noch offen ist das Verfahren zur Katastrophe von Pylos.
Die griechische Küstenwache begeht massive Menschenrechtsverletzungen und ist verantwortlich für Todesfälle von Menschen auf der Flucht – das ist immer wieder das Resultat von Verfahren, die wir gemeinsam mit Angehörigen und unseren griechischen Kolleg*innen von Refugee Support Aegean (RSA) bis vor den EGMR bringen. Allein: Die Betroffenen brauchen einen langen Atem, denn die Mühlen der Justiz mahlen langsam.
Das neueste Urteil: Pserimos – 13 Schüsse auf ein Flüchtlingsboot
Am 22. September 2014 will die griechische Küstenwache in der Nähe der Insel Pserimos ein Flüchtlingsboot stoppen und gibt dabei 13 Schüsse auf das Boot ab. Der syrische Familienvater Belal Tello wird im Kopf getroffen, er stirbt nach monatelangem Koma und Kampf um sein Leben bei seiner Familie in Schweden, wohin er mittlerweile mit der Unterstützung von PRO ASYL per Krankenambulanzflug transportiert wurde.
Konkret stellte der Gerichtshof unter anderem fest, dass der Schusswaffeneinsatz nicht gerechtfertigt war und die Küstenwache übermäßige Gewalt angewendet hat.
Wie so oft wird das Verfahren gegen die Beamten in Griechenland eingestellt, unsere Anwältin Marianna Tzeferakou legt im Namen der Familie Beschwerde beim Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg ein. Im Januar diesen Jahres, über neun Jahre später, dann die Entscheidung: Griechenland wird wegen eines Verstoßes gegen Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK (Recht auf Leben) verurteilt. Der Witwe und den Kindern wird in allen Punkten Recht gegeben und eine Entschädigung in Höhe von 80.000 Euro zugesprochen.
Konkret stellte der Gerichtshof unter anderem fest, dass der Schusswaffeneinsatz nicht gerechtfertigt war und die Küstenwache übermäßige Gewalt angewendet hat. Darüber hinaus rügte das Gericht, dass die Ermittlungen der griechischen Behörden zu dem Vorfall unzureichend waren und gravierende Mängel aufweisen, was unter anderem zum Verlust von Beweismitteln geführt hat.
Der Fall Farmakonisi: Elf Tote bei versuchtem Pushback
Pserimos ist kein Einzelfall – weder was die Aktionen der Küstenwache angeht, noch die lange Wartezeit auf Gerechtigkeit. Schon im Fall Farmakonisi mussten die Angehörigen von acht Kindern und drei Frauen, die im Januar 2014 im Schlepptau der griechischen Küstenwache starben, über acht Jahre warten, bis der Europäische Menschenrechtsgerichtshof ihnen Recht gab. Auch hier waren die Ermittlungen in Griechenland rasch eingestellt worden.
Damals wurde ein seeuntaugliches Flüchtlingsboot mit 27 Menschen an Bord in der östlichen Ägäis in Richtung Türkei geschleppt und bei dem Manöver so stark beschädigt, dass es kentert. Elf Menschen sterben, die Überlebenden werden danach von Soldaten zeitweise festgesetzt und menschenunwürdig behandelt. Der Menschenrechtsgerichtshof verurteilt Griechenland im Juli 2022 sowohl wegen des Todes der Schutzsuchenden (Verstoß gegen Art. 2 der EMRK) als auch wegen unmenschlicher Behandlung (Verstoß gegen Art. 3 EMRK) und der mangelhaften Aufarbeitung durch die griechische Justiz (Verstoß gegen Art. 13 EMRK). Insgesamt werden 330.000 € an Strafzahlungen fällig.
Pylos: Geht es wieder nach Straßburg?
Noch dramatischer ist das, was sich am 14. Juni 2023 ereignete, rund 50km vom griechischen Küstenort Pylos entfernt. Das Vorgehen der Küstenwache zeigt, dass die griechischen Behörden nichts aus den vorangegangenen Katastrophen und den Urteilen des EGMR gelernt haben.
Obwohl sie seit vielen Stunden über die kritische Lage eines Flüchtlingsschiffes mit rund 750 Menschen an Bord informiert sind, leiten sie keine Rettungsmaßnahmen ein und lassen die Passagier*innen durch ihr Nichtstun sterben. Das Boot sinkt in der Nacht auf den 14. Juni, nur 104 Menschen werden lebend geborgen. Die Küstenwache guckt nicht nur zu, sondern verursacht den Untergang übereinstimmenden Berichten von Überlebenden zufolge bei einem Abschleppmanöver selbst.
Auch in diesem Verfahren unterstützen wir und unsere griechischen Kolleg*innen die Überlebenden und Angehörigen in ganz vielfältiger Weise, vor allem aber bei der juristischen Aufarbeitung. Beim zuständigen Marinegericht wurde bereits Beschwerde eingelegt, es steht aber zu befürchten, dass auch hier der Gang nach Straßburg zum Menschenrechtsgerichtshof notwendig sein wird.
Die EU muss endlich eingreifen und den EU-Rechtsstaatsmechanismus aktivieren, um weitere Tote und Katastrophen zu verhindern!
Neverending Story: Die EU muss endlich handeln
Es ist eine traurige Kontinuität: Die griechische Küstenwache ist verantwortlich für den Tod von Menschen, Griechenland verschleppt die Ermittlungen und behandelt Überlebende und Angehörige menschenunwürdig. Viele Jahre später erhalten die Betroffenen nach extrem zermürbenden und aufwendigen Verfahren dann Recht vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof.. Und das ist nur die Spitze des Eisberges: Auch in etlichen anderen Fällen haben unsere griechischen Anwält*innen in den letzten Jahren Prozesse vor dem EGMR gewonnen, beispielsweise wenn es um die mangelhafte Unterbringung von minderjährigen Geflüchteten oder die unmenschliche Behandlung vulnerabler Personen geht.
Viele andere Fälle landen überhaupt nicht vor Gericht. All das offenbart eine massive und systematische Verletzung von Grundwerten der Europäischen Union durch Griechenland. Die EU muss deshalb nun endlich eingreifen und den EU-Rechtsstaatsmechanismus aktivieren sowie ein Artikel-7-Verfahren gegen Griechenland einleiten, um weitere Tote und Katastrophen zu verhindern!
(mk)