Image
Der inoffizielle Flüchtlingsfriedhof auf der griechischen Insel Lesbos. Jeder Holzstock steht für ein Grab. Foto: Max Klöckner / PRO ASYL

Griechenland ist immer wieder Schauplatz von Menschenrechtsverletzungen gegenüber Schutzsuchenden. Vergangenes Jahr wurde das Land wegen dem Fall Farmakonisi vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt. Nun folgte ein Urteil wegen der tödlichen Schüsse vor Pserimos. Noch offen ist das Verfahren zur Katastrophe von Pylos.

Die grie­chi­sche Küs­ten­wa­che begeht mas­si­ve Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen und ist ver­ant­wort­lich für Todes­fäl­le von Men­schen auf der Flucht – das ist immer wie­der das Resul­tat von Ver­fah­ren, die wir gemein­sam mit Ange­hö­ri­gen und unse­ren grie­chi­schen Kolleg*innen von Refu­gee Sup­port Aege­an (RSA) bis vor den EGMR brin­gen. Allein: Die Betrof­fe­nen brau­chen einen lan­gen Atem, denn die Müh­len der Jus­tiz mah­len langsam.

Das neueste Urteil: Pserimos – 13 Schüsse auf ein Flüchtlingsboot

Am 22. Sep­tem­ber 2014 will die grie­chi­sche Küs­ten­wa­che in der Nähe der Insel Pse­ri­mos ein Flücht­lings­boot stop­pen und gibt dabei 13 Schüs­se auf das Boot ab. Der syri­sche Fami­li­en­va­ter Bel­al Tel­lo wird im Kopf getrof­fen, er stirbt nach mona­te­lan­gem Koma und Kampf um sein Leben bei sei­ner Fami­lie in Schwe­den, wohin er mitt­ler­wei­le mit der Unter­stüt­zung von PRO ASYL per Kran­ken­am­bu­lanz­flug  trans­por­tiert wurde.

Kon­kret stell­te der Gerichts­hof unter ande­rem fest, dass der Schuss­waf­fen­ein­satz nicht gerecht­fer­tigt war und die Küs­ten­wa­che über­mä­ßi­ge Gewalt ange­wen­det hat.

Wie so oft wird das Ver­fah­ren gegen die Beam­ten in Grie­chen­land ein­ge­stellt, unse­re Anwäl­tin Mari­an­na Tze­fera­kou legt im Namen der Fami­lie Beschwer­de beim Men­schen­rechts­ge­richts­hof in Straß­burg ein. Im Janu­ar die­sen Jah­res, über neun Jah­re spä­ter, dann die Ent­schei­dung: Grie­chen­land wird wegen eines Ver­sto­ßes gegen Arti­kel 2 der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on EMRK (Recht auf Leben) ver­ur­teilt. Der Wit­we und den Kin­dern wird in allen Punk­ten Recht gege­ben und eine Ent­schä­di­gung in Höhe von 80.000 Euro zugesprochen.

Kon­kret stell­te der Gerichts­hof unter ande­rem fest, dass der Schuss­waf­fen­ein­satz nicht gerecht­fer­tigt war und die Küs­ten­wa­che über­mä­ßi­ge Gewalt ange­wen­det hat. Dar­über hin­aus rüg­te das Gericht, dass die Ermitt­lun­gen der grie­chi­schen Behör­den zu dem Vor­fall unzu­rei­chend waren und gra­vie­ren­de Män­gel auf­wei­sen, was unter ande­rem zum Ver­lust von Beweis­mit­teln geführt hat.

Der Fall Farmakonisi: Elf Tote bei versuchtem Pushback

Pse­ri­mos ist kein Ein­zel­fall – weder was die Aktio­nen der Küs­ten­wa­che angeht, noch die lan­ge War­te­zeit auf Gerech­tig­keit. Schon im Fall Farm­a­ko­ni­si muss­ten die Ange­hö­ri­gen von acht Kin­dern und drei Frau­en, die im Janu­ar 2014 im Schlepp­tau der grie­chi­schen Küs­ten­wa­che star­ben, über acht Jah­re war­ten, bis der Euro­päi­sche Men­schen­rechts­ge­richts­hof ihnen Recht gab. Auch hier waren die Ermitt­lun­gen in Grie­chen­land rasch ein­ge­stellt worden.

Damals wur­de ein see­un­taug­li­ches Flücht­lings­boot mit 27 Men­schen an Bord in der öst­li­chen Ägä­is in Rich­tung Tür­kei geschleppt und bei dem Manö­ver so stark beschä­digt, dass es ken­tert. Elf Men­schen ster­ben, die Über­le­ben­den wer­den danach von Sol­da­ten zeit­wei­se fest­ge­setzt und men­schen­un­wür­dig behan­delt. Der Men­schen­rechts­ge­richts­hof  ver­ur­teilt Grie­chen­land im Juli 2022 sowohl wegen des Todes der Schutz­su­chen­den (Ver­stoß gegen Art. 2 der EMRK) als auch wegen unmensch­li­cher Behand­lung (Ver­stoß gegen Art. 3 EMRK) und der man­gel­haf­ten Auf­ar­bei­tung durch die grie­chi­sche Jus­tiz (Ver­stoß gegen Art. 13 EMRK). Ins­ge­samt wer­den 330.000 € an Straf­zah­lun­gen fällig.

Pylos: Geht es wieder nach Straßburg?

Noch dra­ma­ti­scher ist das, was sich am 14. Juni 2023 ereig­ne­te, rund 50km vom grie­chi­schen Küs­ten­ort Pylos ent­fernt. Das Vor­ge­hen der Küs­ten­wa­che zeigt, dass die grie­chi­schen Behör­den nichts aus den vor­an­ge­gan­ge­nen Kata­stro­phen und den Urtei­len des EGMR gelernt haben.

Obwohl sie seit vie­len Stun­den über die kri­ti­sche Lage eines Flücht­lings­schif­fes mit rund 750 Men­schen an Bord infor­miert sind, lei­ten sie kei­ne Ret­tungs­maß­nah­men ein und las­sen die Passagier*innen durch ihr Nichts­tun ster­ben. Das Boot sinkt in der Nacht auf den 14. Juni, nur 104 Men­schen wer­den lebend gebor­gen. Die Küs­ten­wa­che guckt nicht nur zu, son­dern ver­ur­sacht den Unter­gang über­ein­stim­men­den Berich­ten von Über­le­ben­den zufol­ge bei einem Abschlepp­ma­nö­ver selbst.

Auch in die­sem Ver­fah­ren unter­stüt­zen wir und unse­re grie­chi­schen Kolleg*innen die Über­le­ben­den und Ange­hö­ri­gen in ganz viel­fäl­ti­ger Wei­se, vor allem aber bei der juris­ti­schen Auf­ar­bei­tung. Beim zustän­di­gen Mari­n­ege­richt wur­de bereits Beschwer­de ein­ge­legt, es steht aber zu befürch­ten, dass auch hier der Gang nach Straß­burg zum Men­schen­rechts­ge­richts­hof  not­wen­dig sein wird.

Die EU muss end­lich ein­grei­fen und den EU-Rechts­staats­me­cha­nis­mus akti­vie­ren, um wei­te­re Tote und Kata­stro­phen zu verhindern!

Neverending Story: Die EU muss endlich handeln

Es ist eine trau­ri­ge Kon­ti­nui­tät: Die grie­chi­sche Küs­ten­wa­che ist ver­ant­wort­lich für den Tod von Men­schen, Grie­chen­land ver­schleppt die Ermitt­lun­gen und behan­delt Über­le­ben­de und Ange­hö­ri­ge men­schen­un­wür­dig. Vie­le Jah­re spä­ter erhal­ten die Betrof­fe­nen nach extrem zer­mür­ben­den und auf­wen­di­gen Ver­fah­ren dann Recht vor dem Euro­päi­schen Men­schen­rechts­ge­richts­hof.. Und das ist nur die Spit­ze des Eis­ber­ges: Auch in etli­chen ande­ren Fäl­len haben unse­re grie­chi­schen Anwält*innen in den letz­ten Jah­ren Pro­zes­se vor dem EGMR gewon­nen, bei­spiels­wei­se wenn es um die man­gel­haf­te Unter­brin­gung von min­der­jäh­ri­gen Geflüch­te­ten oder die unmensch­li­che Behand­lung vul­nerabler Per­so­nen geht.

Vie­le ande­re Fäl­le lan­den über­haupt nicht vor Gericht. All das offen­bart eine mas­si­ve und sys­te­ma­ti­sche Ver­let­zung von Grund­wer­ten der Euro­päi­schen Uni­on durch Grie­chen­land. Die EU muss des­halb nun end­lich ein­grei­fen und den EU-Rechts­staats­me­cha­nis­mus akti­vie­ren sowie ein Arti­kel-7-Ver­fah­ren gegen Grie­chen­land ein­lei­ten, um wei­te­re Tote und Kata­stro­phen zu verhindern!

(mk)