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Klage gegen Griechenland: Gegen die Kultur der Straflosigkeit
Drei Monate nach dem Schiffsunglück von Pylos mit mehr als 600 Toten ist in Griechenland noch keine Untersuchung eingeleitet worden, die rechtsstaatlichen Kriterien entspricht. 40 Überlebende haben deshalb nun formell Beschwerde eingereicht. Sie fordern Aufklärung und strafrechtliche Konsequenzen für alle Verantwortlichen in staatlichen Behörden.
Bedienstete der Küstenwache, die 15 Stunden lang keine geeigneten Maßnahmen ergreifen, um rund 750 Menschen an Bord des seeuntauglichen Schiffkutters Adriana zu retten. Überlebende, die übereinstimmend berichten, dass ein Abschleppmanöver der Küstenwache zum Untergang des Schiffes und dem Tod von mehr als 600 Menschen geführt hat. Hi-Tech Kameras an Bord des Schiffs der Küstenwache, die zum Zeitpunkt des Untergangs abgeschaltet sind. Handys von Überlebenden, die von der Küstenwache konfisziert werden, zunächst verschwinden und erst Wochen später in einem Büro der Küstenwache auftauchen. Vernehmungsprotokolle von Überlebenden, die nachträglich um Aussagen ergänzt werden, die die Küstenwache entlasten.
Soll Verantwortung für hundertfachen Tod vertuscht werden?
Die Liste der Vorwürfe gegen die griechische Küstenwache rund um eines der tödlichsten Schiffsunglücke im Mittelmeer mit mehr als 600 Toten am 14. Juni 2023 vor der griechischen Hafenstadt Pylos ist lang. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Küstenwache die Menschen an Bord des Schiffes Adriana nicht nur hat sterben lassen und ihnen die Rettung verweigert hat, sondern auch mit allen Mitteln versucht, die eigene Verantwortung für den hundertfachen Tod von schutzsuchenden Menschen zu vertuschen. Öffentliche Rückendeckung erfährt die Küstenwache von der griechischen Regierung, die jegliche Kritik an der Küstenwache vehement zurückweist.
Mehrere internationale Institutionen wie die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatović, haben Griechenland aufgefordert, eine wirksame und rechtsstaatliche Untersuchung zu den Umständen des Schiffsunglücks durchzuführen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Noch keine einzige Zeugenaussage von Überlebenden aufgenommen
Die bisherigen Aktivitäten der griechischen Justiz lassen wenig Hoffnung aufkommen, dass durch sie Aufklärung und eine Bestrafung der Verantwortlichen zu erwarten ist. Drei Monate nach der Katastrophe hat eine Staatsanwältin am zuständigen Marinegericht von Piräus zwar Vorermittlungen aufgenommen. In diesen Vorermittlungen soll geklärt werden, ob Anklage gegen Bedienstete der Küstenwache erhoben wird oder nicht. Während die Besatzung des Schiffs der Küstenwache bereits befragt wurde, spielt die Perspektive der Überlebenden bisher keine Rolle. Das Marinegericht hat noch keine einzige Zeugenaussage eines Überlebenden aufgenommen.
»Wir fordern eine internationale Verurteilung und dass die Täter der griechischen Küstenwache und all jene, die es versäumt haben, uns zu retten, dafür zur Rechenschaft gezogen werden.«
Überlebende reichen Beschwerde ein und fordern Gerechtigkeit
40 Überlebende haben deshalb nun formell Beschwerde beim Marinegericht in Piräus eingereicht und die Staatsanwältin aufgefordert, ihre Zeugenaussagen aufzunehmen, die Verantwortlichen für die Katastrophe von Pylos unverzüglich und vollumfänglich zu ermitteln und strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen. Vertreten werden die Überlebenden von Anwält*innen der griechischen Partnerorganisation von PRO ASYL, Refugee Support Aegean (RSA), sowie vier weiteren griechischen Organisationen.
Einer der Überlebenden, die in Griechenland von RSA vertreten werden, ist Hasan Al Jalam. Er kommt aus Syrien, befindet sich inzwischen in Deutschland im Asylverfahren und wird von PRO ASYL unterstützt. Er fasst die Forderung der Überlebenden sowie der Angehörigen der Toten und Vermissten folgendermaßen zusammen:
»Was passiert ist, war nichts anderes als ein brutales Massaker. Wir fordern eine internationale Verurteilung und dass die Täter der griechischen Küstenwache und all jene, die es versäumt haben, uns zu retten, dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Wir wollen Gerechtigkeit für alle Opfer auf dem Boot«.
Wiederholt sich die Geschichte?
Durch ihre Beschwerde sind die Überlebenden nun formell Beteiligte des Verfahrens am Marinegericht in Piräus geworden und können dadurch rechtliche Schritte ergreifen, falls die Staatsanwältin das Verfahren gegen die Küstenwache einstellen sollte. Dass eine Einstellung des Verfahrens ohne Konsequenzen für die Verantwortlichen leider keine unrealistische Befürchtung ist, zeigt der Fall von Farmakonisi: Anfang 2014 waren acht Kinder und drei Frauen im Schlepptau der griechischen Küstenwache ertrunken. Auch damals hatte ein Staatsanwalt am Marinegericht in Piräus Vorermittlungen aufgenommen, das Verfahren jedoch schnell wieder eingestellt.
Die Überlebenden und Angehörigen mussten bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ziehen, um fast acht Jahre nach dem Schiffsunglück endlich Recht zu bekommen: Im Juli 2022 verurteilte der EGMR Griechenland nicht nur dafür, dass die Küstenwache keine ausreichenden Rettungsmaßnahmen ergriffen hatte, sondern auch für die mangelnde rechtsstaatliche Aufklärung durch die griechische Justiz.
Es ist deshalb möglich, dass auch den Überlebenden und Angehörigen der Toten von Pylos ein langer und mühsamer Prozess bevorsteht. PRO ASYL und unsere Kolleg*innen von RSA stehen in jedem Fall fest an der Seite der Überlebenden und der Angehörigen und werden keine Mühe scheuen, um sie weiter mit allen Mitteln zu unterstützen.
Erster Erfolg: Überlebende können zu ihren Angehörigen nach Deutschland kommen
Einen ersten Teilerfolg gibt es bereits zu vermelden. Wir haben uns in den letzten Wochen intensiv dafür eingesetzt, dass die Überlebenden, die Familie in Deutschland haben, nach Deutschland kommen dürfen. Mit Erfolg: Mehrere Überlebende konnten in dieser Woche nach Deutschland fliegen und von ihren Angehörigen am Flughafen in Empfang genommen werden. Sie durchlaufen nun ihr Asylverfahren und werden dabei auch weiterhin von PRO ASYL unterstützt.
(ame)