Es ist schon ein wenig in Vergessenheit geraten: Im August 2016 beauftragte das Bundesamt für Migration & Flüchtlinge die Unternehmensberatung McKinsey, um herauszufinden, was dem Bundesinnenministerium in 40 Jahren deutscher Flüchtlingspolitik offenbar nicht gelungen war: Welche Ursachen Abschiebehindernisse haben und wie man sie beseitigen kann.

Die Erfor­schung der uns allen so ver­bor­ge­nen Erkennt­nis­se – also Krank­heit, Schwan­ger­schaft, Pass­lo­sig­keit, feh­len­de Flug­ver­bin­dun­gen, usw. – wur­de dann auch gut hono­riert.  Rund 1,86 Mio. Euro ließ sich die Bun­des­re­gie­rung – oder bes­ser: lie­ßen sich die Steuerzahler*innen – die­ses Unter­fan­gen kos­ten, alles in allem 678 Bera­ter­ta­ge zu einem  durch­schnitt­li­chen Tages­satz von ca. 2.700 Euro.

Mit­te Janu­ar 2017 lag das Ergeb­nis dann auf dem Tisch. Natür­lich nicht auf des Steu­er­zah­lers Küchen­tisch, son­dern auf den Schreib­ti­schen der Bun­des­re­gie­rung. Die Erkennt­nis­ge­win­ne sind eben­so banal, wie die Kos­ten dafür hoch waren: Kür­ze­re Asyl­ver­fah­ren, Restrik­tio­nen bei der Dul­dung, För­de­rung von frei­wil­li­ger Aus­rei­se und (tat­säch­lich!) kon­se­quen­te­re Rückführung.

Märchen vom »Vollzugsdefizit«

Die Rea­li­tät ist indes: Es hat seit 2015 zu kei­nem Zeit­punkt ein, gegen­über frü­he­ren Jah­ren, höhe­res, bzw. über­haupt nen­nens­wer­tes »Voll­zugs­de­fi­zit« bei Aus­rei­sen von Flücht­lin­gen gege­ben. Ver­glei­chen wir die Zahl der Flücht­lin­ge, die in 2016 Deutsch­land hät­te ver­las­sen müs­sen (cir­ca 170.000), mit der Zahl derer, die das tat­säch­lich getan haben:

Es gab etwas über 25.000 Abschie­bun­gen, rund 55.000 frei­wil­li­ge Aus­rei­sen und cir­ca 60.000 sons­ti­ge Erle­di­gun­gen von Asyl­an­trä­gen (ohne Dub­lin-Fäl­le; die Erle­di­gung erfolg­te bei­spiels­wei­se durch Rück­nah­me von Anträ­gen, Dop­pel­zäh­lun­gen, Wei­ter­rei­se oder die Erlan­gung eines Auf­ent­halts­rechts auf ande­re Wei­se). Die­se Zah­len wären vor Jah­ren als Erfolg gefei­ert wor­den. Dar­aus ergibt sich zwar kei­ne aus­ge­gli­che­ne Bilanz, aber auch kei­ne gro­ße Dif­fe­renz, wegen der man von einem »Voll­zugs­de­fi­zit« spre­chen müsste.

Es gibt kein, gegen­über frü­he­ren Jah­ren, höhe­res, bzw. über­haupt nen­nens­wer­tes »Voll­zugs­de­fi­zit« bei Aus­rei­sen von Flüchtlingen!

Einfach alles in den Topf »ausreisepflichtig«

McK­in­sey erle­digt sei­nen Auf­trag wei­sungs- und auf­trags­ge­mäß indes auf ande­re Art und Wei­se: Bis Ende 2017 soll die Zahl der Aus­rei­se­pflich­ti­gen laut der Bera­ter­fir­ma auf 485.000 stei­gen. Die Wirk­lich­keit sieht anders aus: Zunächst gab es Stand Ende 2016 nur 207.000 aus­rei­se­pflich­ti­ge Aus­län­der – und von denen hat nicht ein­mal die Hälf­te über­haupt einen Asyl­an­trag gestellt – und wei­ter­hin nimmt McK­in­sey ein­fach an, alle zunächst abge­lehn­ten Asyl­an­trä­ge sei­en final been­de­te. Schutz­su­chen­de wer­den dann ein­fach in die Rubrik »Abschie­bung« gesteckt.

Nur: Von Janu­ar 2016 bis März 2017 wur­den zwar fast 140.000 Asyl­an­trä­ge als »unbe­grün­det« abge­lehnt, die­se Ver­fah­ren wer­den teil­wei­se aber jah­re­lang vor den Gerich­ten lie­gen. Für McK­in­sey spielt das aber offen­bar kei­ne Rol­le, genau­so wenig wie, dass vie­le der abge­lehn­ten, aus­rei­se­pflich­ti­gen Asyl­be­wer­ber aus den Vor­jah­ren immer­hin aktu­ell in Deutsch­land gedul­det sind, ihre Abschie­bung also vor­über­ge­hend aus­ge­setzt ist.

Hauptsache Panikmache

So ent­ste­hen letz­ten Endes Zah­len, vor der die Öffent­lich­keit – und damit in heu­ti­gen Zei­ten auch die gan­ze Rie­ge des poli­ti­schen Estab­lish­ments – auf­schreckt: 485.000 Men­schen  müs­sen gehen, heißt es dann fälsch­li­cher­wei­se. Das sind nicht viel weni­ger, als die Stadt Han­no­ver Ein­woh­ner hat! Da for­dert die Bun­des­kanz­le­rin dann auch direkt mal eine »natio­na­le Kraft­an­stren­gung«.

Die Dif­fa­mie­rung die­ser schutz­su­chen­den Men­schen als »ille­ga­le«, also abschieb­ba­re Per­so­nen – McK­in­sey erweckt eher den Ein­druck, als gin­ge es um Stück­gut – schafft gleich­zei­tig den Nähr­bo­den für eine längst Wirk­lich­keit gewor­de­ne mas­sen­haf­te Segre­ga­ti­on, umge­setzt durch Arbeits­ver­bo­te, Inter­nie­rung, Leis­tungs­kür­zung und ‑ver­wei­ge­rung. Eine Sala­mi­tak­tik, die im poli­ti­schen Geschäft zu funk­tio­nie­ren scheint, wird doch der Ein­druck erweckt, mehr Här­te befrie­di­ge ein berech­ti­ges Anlie­gen »der Bevölkerung«.

Das BMI weiß scheinbar selbst nicht mehr, wo hinten und vorne ist

Dazu kommt: Selbst im Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um (BMI) weiß man mitt­ler­wei­le offen­bar nicht mehr, wie aktu­ell die eige­nen Zah­len sind. Das Aus­län­der­zen­tral­re­gis­ter (AZR) habe, so gibt auch ein BMI-Spre­cher gegen­über dem MDR zu, »gewis­se Abbil­dungs­schwä­chen«, die Daten­qua­li­tät sei Gegen­stand eines Prüfprozesses.

Und wenn selbst der Ex-Chef des Bun­des­amts für Migra­ti­on & Flücht­lin­ge (BAMF), Frank-Jür­gen Wei­se, sich tat­säch­lich dar­über beschwert, dass das BMI – oder eben des­sen Zähl-Instru­ment AZR – die fal­schen Zah­len über­mit­telt und die tat­säch­li­che Zahl der voll­zieh­bar Aus­rei­se­pflich­ti­gen nicht kennt, dann stellt sich natür­lich die Fra­ge, ob bei einem Tages­satz von 2.700 Euro nicht auch erwar­tet wer­den kann, dass McK­in­sey die Daten­la­gen sorg­fäl­tig recher­chiert, ana­ly­siert und bewer­tet. Und zwar, BEVOR Leit­li­ni­en für eine Abschie­be­po­li­tik ver­fasst wer­den, in denen gera­ten wird, »zu inves­tie­ren, um die Dau­er [des] Auf­ent­hal­tes [von Flücht­lin­gen] in Deutsch­land zu ver­kür­zen«.

Für ein solch teu­res Gut­ach­ten wäre dann näm­lich sicher­lich auch der Fra­ge nach­zu­ge­hen gewe­sen, ob die­se Inves­ti­ti­on nicht bes­ser in und für Men­schen erfolgt, die sich schon lan­ge in Deutsch­land auf­hal­ten und – in vie­len Fäl­len – ihren Lebens­un­ter­halt selbst ver­die­nen. Inves­ti­tio­nen in Qua­li­fi­zie­rung und in Maß­nah­men zur Teil­ha­be dürf­ten jeden­falls bedeu­tend nütz­li­cher sein, als in Abschiebungsszenarien.

von Nor­bert Grehl-Schmitt, Cari­tas­ver­band für die Diö­ze­se Osna­brück e.V.