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Munter wird verbreitet, dass Abschiebungen mitunter an fehlenden Dokumenten scheitern. Für diese und andere Behauptungen gibt es aber wenig belastbare Daten. Foto: UNHCR / Achilleas Zavallis

Mit steigenden Flüchtlingszahlen kommt sie wieder einmal auf, die Propaganda von den „Vollzugsdefiziten“. Angeblich werden zu wenige abgelehnte Asylsuchende abgeschoben. Doch die Datenlage ist dünn und Schuldzuweisungen an die Betroffenen sind oft fehl am Platz.

Seit Som­mer 2015 spre­chen vie­le Poli­ti­ker und Medi­en wie­der von „Voll­zugs­de­fi­zi­ten“ bei Abschie­bun­gen. Unter­stüt­zer­grup­pen, die Abschie­bun­gen durch Blo­cka­den ver­hin­dern, Asyl­su­chen­de, die ihren Pass ver­lie­ren oder ein gesund­heits­be­ding­tes Abschie­bungs­hin­der­nis gel­tend machen, ver­hin­der­te Abschie­bun­gen durch unauf­find­ba­re Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge oder Wider­stands­hand­lun­gen bei Abschie­bungs­flü­gen sei­en bei­spiels­wei­se dafür ver­ant­wort­lich, dass Abschie­bun­gen nicht statt­fin­den könnten.

Eine gro­ße Rol­le spie­len dabei die pro­pa­gan­dis­ti­schen Akti­vi­tä­ten der soge­nann­ten AG Rück, einer Bund-Län­der-Arbeits­grup­pe, die sich über Prak­ti­ken und Pro­ble­ma­ti­ken des Voll­zugs von Rückführungen/Abschiebungen aus­tauscht. Deren Tex­te ent­hal­ten zwar oft nicht die wesent­li­chen Daten zur Beur­tei­lung der Situa­ti­on, aber eine Art kumu­lier­tes Erfah­rungs­wis­sen, das aus ein­zel­nen Ereig­nis­sen ein gene­rel­les, vor­wie­gend von den Betrof­fe­nen ver­schul­de­tes Voll­zugs­de­fi­zit ablei­tet und so das öffent­li­che Kli­ma gegen Flücht­lin­ge anheizt.

Wenig valide Daten zu Abschiebungshindernissen

Tat­sa­che ist: Vali­de Daten zum Umfang der kon­kre­ten Rück­füh­rungs­pro­ble­me exis­tie­ren kaum, umso weni­ger gibt es quan­ti­fi­zier­ba­re Infor­ma­tio­nen dazu, in wes­sen Ver­ant­wor­tung es vor­wie­gend liegt, wenn Abschie­bungs­hin­der­nis­se exis­tie­ren. Die­ser Man­gel an Daten betrifft bereits die Grö­ße der in Rede ste­hen­den Per­so­nen­grup­pe. Es gibt zum Bei­spiel kei­ne soli­den Sta­tis­ti­ken über die Zahl der nicht geför­der­ten frei­wil­li­gen Aus­rei­sen. Erfasst wird, wer Rück­kehr­för­de­rungs­mit­tel in Anspruch nimmt, nicht aber, wer Deutsch­land still ver­lässt. Es ist zu ver­mu­ten, dass die Zahl der „stil­len Aus­rei­sen“ recht hoch liegt. Denn nicht alle, schon gar nicht Fami­li­en mit Kin­dern, wer­den alle­samt abge­taucht wei­ter im Lan­de leben, ohne leis­tungs­recht­li­che Ansprü­che, mit allen Folgeproblemen.

84%

der Asyl­su­chen­den, deren Antrag abge­lehnt wur­de, haben einen Auf­ent­halts­ti­tel in Deutschland.

Viele Abgelehnte haben ein Aufenthaltsrecht

Sieht man sich die AZR-Sta­tis­tik an, stellt man fest, dass der Anteil der Asyl­su­chen­den, die im Ver­fah­ren erfolg­los geblie­ben sind, jedoch einen Auf­ent­halts­ti­tel erhal­ten haben, über­ra­schend hoch ist. Zum Stich­tag 30.6.2015 leb­ten ins­ge­samt 538.057 Men­schen mit rechts­kräf­tig abge­lehn­tem Asyl­an­trag in Deutsch­land. (Bun­des­tags­druck­sa­che 18/5862). 47,1 Pro­zent der Men­schen aus die­ser Per­so­nen­grup­pe ver­füg­ten aber inzwi­schen über einen unbe­fris­te­ten Auf­ent­halts­ti­tel, 36,9 Pro­zent über einen befris­te­ten. Nur 16 Pro­zent hat­ten ledig­lich eine Dul­dung oder waren gar ohne Sta­tus im Aus­län­der­zen­tral­re­gis­ter gespei­chert. Dies ent­spricht einer Grö­ßen­ord­nung von etwa 86.000 Per­so­nen – falls ins­be­son­de­re die Per­so­nen ohne Sta­tus über­haupt noch im Land sind.

Selbst bei zurück­hal­ten­der Inter­pre­ta­ti­on man­gels wei­te­rer Daten gab es also beim weit­aus größ­ten Teil der Fäl­le offen­bar gute Grün­de für die Nicht­aus­rei­se / Nicht­ab­schie­bung sowie einen vor­lie­gen­den Pass, sodass dann auch der Ertei­lung eines Auf­ent­halts­ti­tels nichts im Wege stand. Ein Bei­spiel: hier gebo­re­ne Kin­der, für die „von Amts wegen“ ein Asyl­ver­fah­ren ein­ge­lei­tet und nega­tiv beschie­den wird, die aber auf­grund der Asyl­an­er­ken­nung ihrer Eltern dann doch ein Auf­ent­halts­recht erhalten.

Widerstand? Selten

Auch anhand der Zah­len zu Wider­stands­hand­lun­gen der Abzu­schie­ben­den ist zu bezwei­feln, dass die poli­ti­sche und media­le Auf­be­rei­tung des The­mas der wirk­li­chen Grö­ße des Pro­blems ent­spricht. So weist die Bun­des­tags­druck­sa­che 18/7588 genau 211 Fäl­le aus, in denen im Jahr 2015 Abschie­bun­gen auf dem Luft­weg auf­grund von Wider­stands­hand­lun­gen geschei­tert sind. Im sel­ben Jahr schei­ter­ten 79 Flug­ab­schie­bun­gen aus medi­zi­ni­schen Grün­den, in 93 Fäl­len wei­ger­ten sich Flug­ge­sell­schaf­ten oder Flug­ka­pi­tä­ne, zur Abschie­bung vor­ge­se­he­ne Per­so­nen zu trans­por­tie­ren. Ein Groß­teil der geschei­ter­ten Abschie­bun­gen dürf­te beim zwei­ten oder drit­ten Ver­such per Char­ter doch noch statt­ge­fun­den haben. In Rela­ti­on zum gesam­ten Rück­füh­rungs- und Abschie­bungs­ge­sche­hen im Jah­re 2015 sind die genann­ten Zah­len jeden­falls marginal.

Ange­sichts der Tat­sa­che, dass die Anwe­sen­heit abge­lehn­ter Asyl­su­chen­der in Deutsch­land inzwi­schen eine zen­tra­le Rol­le in der rechts­extre­mis­ti­schen Pro­pa­gan­da spielt, ist ein ver­ant­wor­tungs­vol­ler Umgang mit dem The­ma beson­ders wichtig.

Das­sel­be gilt für das häu­fig dis­ku­tier­te Abschie­bungs­hin­der­nis Kir­chen­asyl. Bun­des­weit beweg­te sich die Zahl der Kir­chen­asyle im Jah­res­ver­lauf 2015 zwi­schen 200 und 278. Inklu­si­ve der Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen han­del­te es sich um 350–450 Per­so­nen. Damit erweist sich das Kir­chen­asyl nicht ein­mal bei der Ver­hin­de­rung von Dub­lin-Rück­füh­run­gen als der zen­tra­le Fak­tor, geschwei­ge denn in Bezug auf das Gesamt­ge­sche­hen in Sachen Abschiebung.

Und dann ist da ja noch die Tat­sa­che, dass man­che Her­kunfts­län­der ihre Leu­te nicht zurück haben wol­len. Ihre jewei­li­gen Moti­ve, sich durch die Ver­wei­ge­rung von Rück­über­nah­men von völ­ker­recht­li­chen Ver­pflich­tun­gen zu lösen – selbst wenn es bila­te­ra­le Abkom­men gibt -, sind offen­bar so ver­schie­den wie schwer über­wind­bar. So sind etwa die Über­wei­sun­gen von im Aus­land leben­den Migran­ten und Flücht­lin­gen ein gro­ßer Teil der Devi­sen­flüs­se, oft quan­ti­ta­tiv wich­ti­ger als die Zah­lun­gen im Rah­men der Ent­wick­lungs­hil­fe. Die Debat­te über das The­ma wie die Ver­su­che des Ein­wir­kens auf die betref­fen­den Staa­ten gibt es seit lan­ger Zeit. Gleich­wohl wird das The­ma der­zeit von den Medi­en so behan­delt, als han­de­le es sich um ein eben erst ent­deck­tes Problem.

Abschiebungsstopps: Eine Frage des Anstands

Abschie­be­stopps haben in den letz­ten Jah­ren nur noch eine gerin­ge Rol­le gespielt. Gleich­wohl wur­de etwa nach Afgha­ni­stan kaum abge­scho­ben. Nicht erklär­ter­ma­ßen, aber fak­tisch han­del­te es sich um einen Abschie­bungs­stopp, denn den poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen in Bund und Län­dern war die Gefähr­lich­keit und poli­ti­sche Bri­sanz von Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan deut­lich. Jah­re­lang blieb der Abschie­bungs­stopp inof­fi­zi­ell –  man woll­te offen­bar am Prin­zip der „Rück­führ­bar­keit“ und dem Glau­ben an eine sich angeb­lich ver­bes­sern­de Situa­ti­on in Afgha­ni­stan fest­hal­ten. Gleich­wohl: Ein Voll­zugs­de­fi­zit ist das nicht.

Beson­ders hämisch gehen Poli­ti­ker ger­ne mit den soge­nann­ten Win­ter­ab­schie­bungs­stopps um, die de fac­to der Ver­gan­gen­heit ange­hö­ren. Sie waren eine ehren­wer­te Reak­ti­on auf das, was bei der Rück­füh­rungs­ent­schei­dung struk­tu­rell außer Acht geblie­ben war, näm­lich die Tat­sa­che, dass Abschie­bun­gen beson­ders im Win­ter schlicht gesund­heits­ge­fähr­dend bis lebens­ge­fähr­lich sein kön­nen. In Gefahr gera­ten vor allem ver­arm­te Men­schen ohne Res­sour­cen, die nach der Abschie­bung kei­ne Unter­stüt­zung erhal­ten und an nichts mehr anknüp­fen kön­nen, zum Teil nicht ein­mal  Unter­künf­te fin­den. Nein, Win­ter­ab­schie­bungs­stopps waren kei­ne „Huma­ni­täts­du­se­lei“. So man­che Aus­län­der­be­hör­de dürf­te froh gewe­sen sein, bei einem Blick auf die win­ter­li­che Wet­ter­kar­te Abschie­bun­gen auf den Bal­kan eini­ge Wochen lang nicht voll­zie­hen zu müssen.

Hohe Anforderungen an Atteste

Die Aus­ein­an­der­set­zung um soge­nann­te gesund­heits­be­ding­te Abschie­bungs­hin­der­nis­se gibt es eben­falls seit vie­len Jah­ren. Mit dem Asyl­pa­ket II hat man den Druck zu Las­ten von Asyl­su­chen­den erhöht. Die Anfor­de­run­gen an die Qua­li­tät von Attes­ten sind dras­tisch erhöht wor­den. Dem­ge­gen­über hat man nicht dafür gesorgt, dass etwa Per­so­nen mit mas­si­ven Trau­ma­ta und ähn­li­chen Stö­run­gen im Lauf des Asyl­ver­fah­rens erkannt wer­den kön­nen. Die weni­gen vor­lie­gen­den Stu­di­en zum The­ma legen es nahe, dass fast jeder zwei­te Asyl­su­chen­de unter einer post­trau­ma­ti­schen Belas­tungs­stö­rung oder ver­gleich­ba­ren Erkran­kun­gen lei­det. Doch der Gesetz­ge­ber folgt der Pro­pa­gan­da, gesund­heits­be­ding­te Rück­füh­rungs­hin­der­nis­se sei­en oft Resul­tat soge­nann­ter Gefäl­lig­keitsat­tes­te. Nach Recht­spre­chung und Pra­xis trifft das nicht zu: Denn mit ein paar dür­ren Zei­len ließ sich auch bis­lang eine Abschie­bung nicht dau­er­haft verhindern.

Dublin: Abwickeln bedenklich

Doch lässt sich nicht wenigs­tens die Nicht­durch­füh­rung von Dub­lin-Rück­über­stel­lun­gen unter den Begriff des Voll­zugs­de­fi­zi­tes fas­sen? Nein, denn vie­le Über­stel­lungs­hür­den sind real. Im Fal­le Bul­ga­ri­ens, Ungarns und Ita­li­ens etwa gibt es gra­vie­ren­de Grün­de, die gegen Abschie­bun­gen spre­chen. Immer wie­der müs­sen sich Ver­wal­tungs­ge­rich­te mit der rea­len Situa­ti­on in die­sen und ande­ren Staa­ten aus­ein­an­der­set­zen. Die Zustän­de dort lie­gen nahe an dem, was im Fal­le Grie­chen­lands als „sys­te­mi­sche Män­gel“ zu jah­re­lan­ger Aus­set­zung jeg­li­cher Rück­über­stel­lun­gen geführt hat.

Das Asyl­sys­tem in Ungarn z.B. weist seit lan­gem gra­vie­ren­de Män­gel auf und der Trend geht kei­nes­wegs in Rich­tung wirk­li­cher Ver­bes­se­run­gen. Bereits 2014 hat­ten UNHCR und PRO ASYL auf die Tat­sa­che will­kür­li­cher Inhaf­tie­run­gen von über­stell­ten Asyl­su­chen­den hin­ge­wie­sen. Das führ­te dazu, dass das Ver­wal­tungs­ge­richt Ber­lin im Janu­ar 2015 Über­stel­lun­gen nach Ungarn untersagte.

In Bul­ga­ri­en sind Flücht­lin­ge nach Recher­chen von PRO ASYL zumeist der Obdach­lo­sig­keit aus­ge­lie­fert, nach­dem sie schon exzes­si­ve behörd­li­che Gewalt bis hin zu Miss­hand­lung und Fol­ter an der Gren­ze über­stan­den haben.

Vie­les spricht gegen eine ver­ein­fa­chen­de Dar­stel­lung des The­mas der nicht voll­zo­ge­nen Abschie­bun­gen. Kei­nes­falls ist davon aus­zu­ge­hen, dass der Groß­teil der im Ver­fah­ren Abge­lehn­ten gera­de­zu mut­wil­lig dafür sorgt.

Wo vali­de Daten feh­len, begnü­gen sich man­che Medi­en mit dem Ein­zel­er­leb­nis oder dem Gene­ral­ver­dacht. Ange­sichts der Tat­sa­che, dass die Anwe­sen­heit abge­lehn­ter Asyl­su­chen­der in Deutsch­land inzwi­schen eine zen­tra­le Rol­le in der rechts­extre­mis­ti­schen Pro­pa­gan­da spielt, ist ein ver­ant­wor­tungs­vol­ler Umgang mit dem The­ma beson­ders wichtig.

Bernd Meso­vic


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