15.01.2019
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Kaum ein Tag ohne Kampfhandlungen oder Anschläge, aber auch keine Woche, wo nicht der Drohnenkrieg oder brutales Vorgehen auch der afghanischen Armee Opfer unter der Zivilbevölkerung fordern. Diese Übersichtskarte verdeutlicht, dass mit wenigen Ausnahmen alle Landesteile Schauplätze solcher Ereignisse mit Toten und Verletzten sind.

Bewegt man den Maus­zei­ger über die ein­zel­nen Pro­vin­zen, erschei­nen sicher­heits­re­le­van­te Vor­fäl­le sol­cher Art, die im Zeit­raum vom 01. Novem­ber 2018 bis zum 10. Janu­ar 2019 statt­ge­fun­den und ihren Weg in die Bericht­erstat­tung der Medi­en gefun­den haben.

Die farblichen Abstufungen beziehen sich auf die Anzahl der gefundenen Sicherheitsvorfälle. Das ist aber natürlich auch aufgrund der volatilen Lage kein ausreichender Indikator, welche Region besonders gefährlich – gerade für die Zivilbevölkerung – ist, da sich auch Art und Schwere der Vorfälle erheblich unterscheiden. [Wenn nicht der ganze Text sichtbar ist, bitte näher an die Region heranscrollen und den Mauszeiger nach oben oder unten bewegen!]

Fast überall gibt es Vorfälle

Die Pres­se­re­cher­che ergibt mit rund 100 Vor­fäl­len in nur 71 Tagen (01.11.2018 – 10.01.2019) ein erschre­cken­des Bild, auch in der Brei­te: Fast in allen der 34 Pro­vin­zen Afgha­ni­stans waren min­des­tens zwei Vor­fäl­le zu finden.

Dabei ist zu ver­mu­ten, dass  vie­le Ereig­nis­se gar nicht erst erfasst wer­den. Denn oft fin­den sich nicht die not­wen­di­gen unab­hän­gi­gen Quel­len, die Anga­ben bestä­ti­gen könn­ten.  Recher­chen in abge­le­ge­nen Gebie­ten sind schwie­rig, aus­län­di­sche Jour­na­lis­ten fin­den sich außer­halb eini­ger gro­ßer Städ­te sel­ten. Auch dürf­te es für die­je­ni­gen, die in von Tali­ban – oder auch bestimm­ten War­lords – beherrsch­ten Gebie­ten leben, ris­kant sein, über Gefech­te, Anschlä­ge und Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen zu berichten.

Die »sicheren« Regionen sind kaum eine Alternative

Nur weni­ge Pro­vin­zen kön­nen (noch) als siche­rer gel­ten. Es han­delt sich über­wie­gend um gebir­gi­ge Regio­nen mit gerin­ger Bevöl­ke­rungs­dich­te, die durch ihre Unzu­gäng­lich­keit auch in Zei­ten der sowje­ti­schen Inva­si­on von der Lokal­be­völ­ke­rung oder bestimm­ten bewaff­ne­ten Grup­pen gehal­ten wer­den konnten.

Dass das Gefühl der Sicher­heit in der afgha­ni­schen Bevöl­ke­rung immer mehr schwin­det, hat auch damit zu tun, dass die Tali­ban immer grö­ße­re Gebie­te kon­trol­lie­ren, wäh­rend wei­te­re umkämpft sind.

Den Men­schen in ande­ren Gebie­ten Afgha­ni­stans wie auch den aus Euro­pa Abge­scho­be­nen hilft es nicht, dass es irgend­wo eini­ge Hoch­tä­ler gibt, in kei­ne Kämp­fe statt­fin­den. Sie wären in Pan­jir oder Bami­yan, die ihnen als »Zufluchts­al­ter­na­ti­ve« nahe­ge­legt wer­den, weder will­kom­men, noch zu ver­sor­gen. Zudem ist die Rei­se dort­hin mit­un­ter lebens­ge­fähr­lich, wie z.B. der Bericht eines zeit­wei­se in Kabul leben­den Deut­schen zeigt.

31.000

Zivilist*innen kamen seit 2009 durch die Kämp­fe ums Leben, wei­te­re ~57.000 wur­den verletzt.

Der Konflikt fordert zivile Opfer…

Zwar sind die Zah­len der zivi­len Opfer des Kon­flik­tes eben­so wie die der bei Kampf­hand­lun­gen Getö­te­ten immer wie­der schreck­lich. Allein in den ers­ten neun Mona­ten 2018 wur­den nach UNICEF-Anga­ben 5.000 Kin­der ver­letzt oder getö­tet, ins­ge­samt sind seit 2009 über 31.000 Zivilist*innen dem Krieg in Afgha­ni­stan zum Opfer gefal­len, rund 57.000 wur­den erheb­lich ver­letzt. Den­noch spie­geln die­se Zah­len, die 2014 sprung­haft anstie­gen und seit­dem kon­stant hoch blei­ben, nur einen Teil der Realität.

…aber das ist nicht die einzige Dimension

Dass das Gefühl der Sicher­heit in der afgha­ni­schen Bevöl­ke­rung immer mehr schwin­det, hat auch damit zu tun, dass die Tali­ban immer grö­ße­re Gebie­te kon­trol­lie­ren, wäh­rend wei­te­re umkämpft sind. Die Ver­lust- und Deser­ti­ons­ra­ten bei der afgha­ni­schen Armee und den Sicher­heits­kräf­ten sind hoch. Oft ist unklar, ob Sol­da­ten nur ver­schwun­den oder unter Mit­nah­me der Waf­fen zum Geg­ner über­ge­lau­fen sind.

Zudem sind die Tali­ban von einer Stra­te­gie der Anschlä­ge mit Spreng­fal­len und ähn­li­chem immer mehr dazu über­ge­gan­gen, in geschlos­se­nen For­ma­tio­nen und gut bewaff­net in die Offen­si­ve zu gehen, wo ihnen das stra­te­gisch wich­tig scheint.

Angrif­fe auf Pro­vinz- und Distrikt­haupt­städ­te sowie zeit­wei­li­ge Blo­cka­den der Ver­bin­dungs­stra­ßen zei­gen das Bestre­ben der Tali­ban, durch die Demons­tra­ti­on ihrer mili­tä­ri­schen Stär­ke den Druck zu erhö­hen.  Die Ein­trä­ge auf der Kar­te zei­gen auch die­se Dimen­si­on. Bei eini­gen der ver­zeich­ne­ten Mel­dun­gen sind Tali­ban – oder auch IS-Kämp­fer – die Opfer. Aber auch das bedeu­tet, dass sie in den jewei­li­gen Regio­nen zunächst ein­mal mili­tä­risch prä­sent sind.

Deutsche Behörden blenden die Fakten aus

Die deut­sche Recht­spre­chung blen­det die Fak­ten über­wie­gend aus.  Es über­wiegt ein arith­me­ti­sches Modell der Sicher­heit bei der Prü­fung von Abschie­bungs­hin­der­nis­sen: Bevöl­ke­rungs­zahl einer Pro­vinz in Rela­ti­on zu Toten und Ver­letz­ten durch Kampf­hand­lun­gen und Anschlä­ge. Im Ergeb­nis: Risi­ko im Pro­mil­le­be­reich. Das Aus­wär­ti­ge Amt behaup­tet in sei­nen Lage­be­rich­ten zu Afgha­ni­stan immer wie­der, es gebe ein mili­tä­ri­sches Patt zwi­schen Regie­rung und Auf­stän­di­schen – unge­ach­tet der stän­dig pro­ble­ma­ti­sche­ren Sicherheitslage.

Das wäre lächer­lich, wenn es nicht ein Schwei­gen über so viel Leid und die zuneh­men­de Unsi­cher­heit der Men­schen in Afgha­ni­stan ein­schlös­se.  Das Patt ist die klas­si­sche Lüge in Zei­ten des Krie­ges, wenn der Sieg längst außer Sicht ist. Ange­sichts der ange­kün­dig­ten Redu­zie­rung der US-Trup­pen kann es sein, dass es zu dra­ma­ti­schen Ent­wick­lun­gen kommt. Die USA und ihre Ver­bün­de­ten könn­ten nicht zum ers­ten Mal einen Krieg ver­lie­ren.  Am Ende des »Patts« von Sai­gon stand auch eine Mas­sen­flucht vor den Umer­zie­hungs­la­gern der Sieger.

(bm / mk)