11.05.2022
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Der Grenzübergang Röszke zwischen Serbien und Ungarn. Foto: PRO ASYL/ Wiebke Judith

Ein zwei Meter hoher Zaun mit Stacheldraht, dahinter ein zweiter elektrischer Zaun – so sieht die Grenze zwischen Serbien und dem EU-Land Ungarn aus. Wer hier in die EU will, um Schutz zu finden, muss ein brutales Katz-und-Maus-Spiel spielen - »the game«, wie es genannt wird. Wiebke Judith von PRO ASYL war vor Ort und berichtet von ihrem Eindruck.

Mit András Léde­rer vom Unga­ri­schen Hel­sin­ki Komi­tee, einer unga­ri­schen Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­ti­on, die 2018 den Men­schen­rechts­preis der Stif­tung PRO ASYL erhielt und für ihre Arbeit zu Push­backs von PRO ASYL unter­stützt wird, fah­re ich von Buda­pest aus nach Ser­bi­en. Wir pas­sie­ren die Gren­ze in Röskze. Im Nie­mands­land zwi­schen  zwei Grenz­pos­ten sieht man  die mitt­ler­wei­le lee­re Tran­sit­zo­ne: Metall­con­tai­ner und Sta­chel­draht. Laut András wer­den die Tran­sit­zo­nen seit kur­zem wie­der für Push­backs genutzt: die Men­schen wer­den hier­her­ge­bracht und zurück auf die ser­bi­sche Sei­te gezwun­gen. Über die gesam­te Län­ge des  Grenz­zauns gibt es immer wie­der Türen, durch die die Men­schen auf die ande­re Sei­te geschickt wer­den – wo außer Wie­se nichts ist. Gewalt­frei läuft das nicht ab, wie wir spä­ter erfah­ren wer­den. Laut András wur­den im Win­ter sogar Men­schen gezwun­gen, ihre Klei­dung aus­zu­zie­hen. Han­dys wer­den den Schutz­su­chen­den regel­mä­ßig von Grenz­be­am­ten abge­nom­men oder zerstört.

Asylrecht in Ungarn? Abgeschafft!

Ungarn hat die wohl schärfs­te Abschot­tungs­po­li­tik in der EU und ver­stößt damit gegen euro­päi­sches und inter­na­tio­na­les Recht. Seit 2016 gibt es ein Gesetz, das Push­backs an der Gren­ze natio­nal­recht­lich erlaubt, 2017 wur­de es auf das gan­ze Land aus­ge­wei­tet. Seit der Gerichts­hof der Euro­päi­schen Uni­on (EuGH) im Mai 2020 in einem wich­ti­gen Urteil fest­ge­stellt hat, dass das Fest­hal­ten von Men­schen in den Tran­sit­zo­nen am Grenz­über­gang Röszke rechts­wid­ri­ge Haft war, hat Ungarn zwar die Tran­sit­zo­nen geschlos­sen – aber auch das Asyl­recht  fak­tisch abge­schafft. Asyl­su­chen­de kön­nen im Land kei­nen Asyl­an­trag mehr stel­len, son­dern müs­sen dies zunächst in Bel­grad oder – mitt­ler­wei­le beson­ders absurd – in Kiew tun. Kur­ze Zeit spä­ter, im Dezem­ber 2020, stell­te der EuGH außer­dem die Rechts­wid­rig­keit des Push­back-Geset­zes fest. Der Euro­päi­sche Gerichts­hof für Men­schen­rech­te urteil­te 2021, dass sol­che Push­backs gegen die Euro­päi­sche Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on ver­sto­ßen. Doch die Regie­rung von Vik­tor Orbán igno­riert die Urtei­le. Jede Per­son – egal mit wel­cher Flucht­ge­schich­te, egal ob Frau, Mann oder Kind – wird wei­ter­hin nach Ser­bi­en gebracht, wenn sie in Ungarn von der Poli­zei auf­ge­grif­fen wird und kei­nen gül­ti­gen Auf­ent­halts­ti­tel hat oder ver­sucht, einen Asyl­an­trag zu stel­len. Die unga­ri­sche Poli­zei stellt die Push­backs sogar Stolz zur Schau und ver­öf­fent­licht eige­ne Zah­len. Laut die­sen wur­den allein von Janu­ar bis März 2022 19.283 Push­backs durchgeführt.

Leben im »jungle«. Ein klei­nes Zelt, in dem 2 Erwach­se­ne und 3 Kin­der leben. Foto: PRO ASYL/ Wieb­ke Judith
Eine ver­las­se­ne Farm im Grenz­ge­biet, in der Geflüch­te­te unter­kom­men. Foto: PRO ASYL / Wieb­ke Judith
Ein Jun­ge aus dem Lager hat den gan­zen Unter­schen­kel vol­ler Hun­de­bis­se. Foto: PRO ASYL / Wieb­ke Judith
Der Grenz­über­gang auf dem Rück­weg nach Ungarn. Beim Ver­such die Grenz­zäu­ne zu über­que­ren, wer­den Men­schen auf der Flucht immer wie­der bru­tal zurück­ge­drängt. Foto: PRO ASYL / Wieb­ke Judith
Wir kön­nen unkom­pli­ziert die Gren­ze nach Ungarn pas­sie­ren – Geflüch­te­te haben die­se Opti­on nicht, son­dern ris­kie­ren dabei ihr Leben. Foto: PRO ASYL/ Wieb­ke Judith

Wartestation Serbien

Auf dem Gelän­de einer ver­las­se­nen Farm zwi­schen der Gren­ze und dem ser­bi­schen Ort Subo­ti­ca sto­ßen wir auf eine Grup­pe von acht Män­nern aus Afgha­ni­stan und Paki­stan. Sie sind erst seit kur­zem in Ser­bi­en – haben aber zum Teil schon leid­vol­le Erfah­run­gen mit der euro­päi­schen Abschot­tungs­po­li­tik gemacht. Ein jun­ger Mann aus Afgha­ni­stan, der gutes Eng­lisch spricht, erzählt, dass er neun Mona­te in Xan­thi, im nörd­li­chen Grie­chen­land, inhaf­tiert war. Mit drei ande­ren aus der Grup­pe mach­te er sich dann von Grie­chen­land aus auf den Weg  über Nord­ma­ze­do­ni­en nach Ser­bi­en – wofür sie acht Anläu­fe zur Grenz­über­que­rung brauch­ten. Nur einer von ihnen hat bereits mehr­fach ver­sucht, nach Ungarn zu kom­men – und wur­de dabei fünf Mal auf­ge­grif­fen und zurückgebracht.

Gemein­sam will die Grup­pe es nun wie­der ver­su­chen. Sie wis­sen, dass vie­le zehn Mal oder noch häu­fi­ger »das Spiel« mit­ma­chen müs­sen, bis sie es durch Ungarn in ein Land schaf­fen, das ihnen even­tu­ell Schutz bietet.

Unge­stört ver­lief das Gespräch nicht, denn nach nur fünf Minu­ten tauch­te die ser­bi­sche Poli­zei auf. Schon zuvor hat­ten die Män­ner berich­tet, dass die ser­bi­sche Poli­zei bereits am Tag zuvor da gewe­sen war, es aber kei­ne Pro­ble­me gege­ben hät­te. Auch die­ses Mal schei­nen sie freund­lich, che­cken unse­re Päs­se und fah­ren wei­ter. Doch von Aktivist*innen, die wir zuvor in Subo­ti­ca getrof­fen haben, wis­sen wir, dass das auch anders aus­se­hen kann. In den letz­ten Wochen – mit dem wär­mer wer­den­den Wet­ter – sind ihrem Ein­druck nach wie­der deut­lich mehr Men­schen gekom­men, die ver­su­chen wol­len, nach Ungarn zu gelangen.

Auch das Vor­ge­hen der ser­bi­schen Poli­zei sei rabia­ter gewor­den. Immer wie­der wür­den sie Orte  wie die ver­las­se­ne Farm räu­men und dabei oft die weni­gen Gegen­stän­de der Men­schen zer­stö­ren. Wenn aus ihrer Sicht zu vie­le Men­schen in der Grenz­re­gi­on auf ihre Chan­ce war­ten, wer­den sie ein­ge­sam­melt und mit Bus­sen zu Camps an der maze­do­ni­schen Gren­ze gebracht – oder auch gleich dahin gepusht. Das ist laut den Aktivist*innen wohl auch mit den Geflüch­te­ten pas­siert, die sich vor der Grup­pe, die wir getrof­fen haben, in der ver­las­se­nen Farm auf­ge­hal­ten haben. Die acht Män­ner, mit denen wir spra­chen, wis­sen davon nichts. Sie berei­ten sich auf ihren ers­ten Ver­such vor, den Grenz­zaun zu über­win­den und der unga­ri­schen Poli­zei zu entgehen.

Pushback bedeutet oft Prügel oder sogar Hundebisse

Wie unan­ge­nehm und gefähr­lich es sein kann, der unga­ri­schen Grenz­po­li­zei in die Hän­de zu gera­ten, wird bei unse­rem nächs­ten Stopp deut­lich. Wir fah­ren nach Som­bor in der Grenz­re­gi­on Kroa­ti­en-Ser­bi­en-Ungarn. Hier gibt es ein grö­ße­res Lager und ein wei­te­res inof­fi­zi­el­les Lager.  In das offi­zi­el­le Lager dür­fen wir nicht hin­ein; wir wer­den vom Sicher­heits­dienst direkt weg­ge­schickt, als wir begin­nen, vor dem Ein­gang mit einem jun­gen Mann aus Marok­ko  zu sprechen.

Zufäl­lig tref­fe ich vor dem Lager, wo sich vie­le Men­schen auf­hal­ten, in Grup­pen sit­zen und zum Teil dort wohl auch die Näch­te ver­brin­gen, einen Syrer, der gut Deutsch spricht. Er habe in Syri­en Deutsch stu­diert, erzählt er. Im Gegen­satz zu der Grup­pe bei der ver­las­se­nen Farm haben er und sei­ne Freun­de  schon mehr­fach ver­sucht, nach Ungarn zu kom­men. Seit unge­fähr 15 Tagen sind sie vor Ort. Sie berich­ten, von den unga­ri­schen Beam­ten geschla­gen wor­den zu sein. Auch von aggres­si­ven Hun­den ist  die Rede. Kurz bevor wir wie­der los müs­sen, holen sie  einen Jun­gen, der einen Ver­band an sei­nem Unter­schen­kel abnimmt – der gan­ze Unter­schen­kel ist vol­ler Biss­wun­den. Er sieht noch sehr jung aus; auf Rück­fra­ge wird bestä­tigt: er ist erst 15 Jah­re alt.

Leben im »jungle«: keine Option zu bleiben

Auch wenn wir das Lager selbst nicht betre­ten kön­nen, wird  deut­lich, dass zumin­dest drum­her­um die Lebens­be­din­gun­gen schlecht sind. Eine kur­di­sche Frau aus Syri­en, die das Klein­kind ihres Bru­ders auf dem Arm hält, führt uns in den »jungle« zu ihrem klei­nen Zelt – eine der weni­gen Frau­en, die wir sehen. Dort wohnt sie mit ihrem Bru­der und des­sen drei Kin­dern. Die Mut­ter, so macht sie mit ein paar Bro­cken Eng­lisch und mit Ges­ten  deut­lich, ist  ver­schwun­den und sie wis­sen nicht, wo sie ist. Es riecht nach Kot und Urin, denn sani­tä­re Anla­gen scheint es in dem Teil des Lagers nicht zu geben. Das ist defi­ni­tiv kein Ort für Klein­kin­der, Min­der­jäh­ri­ge –  ja für nie­man­den!  Für uns bleibt die gro­ße Fra­ge, wie sie mit den Kin­dern den Grenz­zaun über­win­den wol­len. Doch dass sie dort nicht blei­ben kön­nen, ist eben­so klar.

Erst auf dem Rück­weg nach Ungarn sehen wir den Grenz­zaun selbst. Wäh­rend wir unkom­pli­ziert mit unse­ren Päs­sen die Gren­ze pas­sie­ren kön­nen, berei­ten sich die Men­schen, die wir getrof­fen haben, auf eine neue gefähr­li­che Run­de des »game« vor.

(wj)