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Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg Foto: Pixabay

Am 16. November urteilte der EuGH, dass das 2018 von der Orbán-Regierung verabschiedete »Stop Soros«-Gesetz gegen EU-Recht verstößt. Das Gesetz kriminalisiert zahlreiche Aktivitäten von zivilgesellschaftlichen Organisationen im Bereich Asyl und Migration. Die Europäische Kommission hatte 2018 ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.

Ein Inter­view mit Ani­kó Bak­onyi, Seni­or Pro­gram­me Offi­cer beim Unga­ri­schen Hel­sin­ki Komitee.

Ani­kó, du und dei­ne Kolleg*innen vom Unga­ri­schen Hel­sin­ki Komi­tee haben von Beginn an gegen das soge­nann­te »Stop Sor­os«-Gesetz gekämpft. Die­ses Urteil ist ein auch ein Ergeb­nis eurer Arbeit. Was sind die wich­tigs­ten Punk­te des Urteils? Wie haben du und dei­ne Kolleg*innen reagiert, als ihr es erhal­ten habt?

Das Urteil des Euro­päi­schen Gerichts­hofs hat bestä­tigt, dass das »Stop Soros«-Gesetz, das poten­zi­el­le straf­recht­li­che Fol­gen für die­je­ni­gen vor­sieht, die Asyl­su­chen­den Hil­fe leis­ten, gegen EU-Recht ver­stößt. Es bestä­tig­te auch den Ver­stoß gegen EU-Richt­li­ni­en von Rege­lun­gen zur Beschrän­kung des Zugangs zu Asyl, die mit dem­sel­ben Gesetz ein­ge­führt wurden.

Und was unse­re Reak­ti­on angeht, so waren wir wegen Coro­na an vie­len ver­schie­de­nen Orten ver­teilt. Eini­ge waren online, ande­re waren im Büro. Aber auf­grund der Schluss­an­trä­ge des Gene­ral­an­walts hat­ten wir auf ein Urteil wie die­ses gehofft und wir sind sehr froh darüber.

Das ist ein­deu­tig ein Sieg für die unga­ri­sche Zivil­ge­sell­schaft. Wie haben sich die Geset­ze auf die Zivil­ge­sell­schaft aus­ge­wirkt? Glaubst du, dass das Urteil die Situa­ti­on von NGOs und Men­schen­rechts­ver­tei­di­gern in Ungarn ver­bes­sern wird?

Es wird auf jeden Fall Ver­bes­se­run­gen bewir­ken. Allein die Fest­stel­lung, dass die Kri­mi­na­li­sie­rung von Soli­da­ri­tät gegen EU-Recht ver­stößt, ist für alle gut – nicht nur für uns in Ungarn. Hier erzeug­te das Gesetz das Gefühl eines star­ken Kon­flikts zwi­schen dem, was man für rich­tig hält und dem, was straf­recht­lich sank­tio­niert wird. Das Gesetz hat­te mehr als nur eine abschre­cken­de Wir­kung auf die Zivilgesellschaft.

»Wenn man Glück hat, wird man wäh­rend des Push­backs nicht verprügelt.«

Ich bin mir sicher, dass ande­re Orga­ni­sa­tio­nen beschlos­sen haben, vor­sich­ti­ger zu sein. Es hat Aus­wir­kun­gen auf die Prio­ri­tä­ten einer Orga­ni­sa­ti­on, wenn jemand ohne Papie­re ist und man mit einer Straf­an­zei­ge bedroht wird, wenn man die­ser Per­son hilft. Die­je­ni­gen, die von dem Gesetz am stärks­ten betrof­fen sind, sind dann letzt­end­lich die­je­ni­gen, die die Unter­stüt­zung erhal­ten sollten.

1800

Schutz­su­chen­den hat das HHC trotz des »Stop Soros«-Gesetz geholfen.

Unge­ach­tet die­ser Gesetz­ge­bung hat das HHC seit Inkraft­tre­ten des Geset­zes 1800 Schutz­su­chen­den gehol­fen. Und wir haben wei­te­re bedeu­ten­de Sie­ge errun­gen. So haben die Gerich­te in Straß­burg und Luxem­burg fest­ge­stellt, dass die will­kür­li­che Inhaf­tie­rung in den Tran­sit­zo­nen an der Gren­ze und die sys­te­ma­ti­schen und oft gewalt­sa­men Push­backs gegen die euro­päi­schen und men­schen­recht­li­chen Ver­pflich­tun­gen Ungarns verstoßen.

Neben der Zivil­ge­sell­schaft zielt das Gesetz auch auf das unga­ri­sche Asyl­sys­tem ab. Es gibt meh­re­re Ver­trags­ver­let­zungs­ver­fah­ren gegen Ungarn im Bereich Asyl und Migra­ti­on. Das Recht auf Asyl ist de fac­to abge­schafft wor­den. Wer in Ungarn Asyl bean­tra­gen will, muss zunächst eine »Absichts­er­klä­rung« bei der unga­ri­schen Bot­schaft in Bel­grad oder Kiew ein­rei­chen. Wie funk­tio­niert das neue Sys­tem und was geschieht mit Asyl­be­wer­bern, die ohne Rei­se­ge­neh­mi­gung in das unga­ri­sche Hoheits­ge­biet einreisen?

Seit der Ein­füh­rung des soge­nann­ten Bot­schafts­sys­tems im Mai 2020 sind drei ira­ni­sche Fami­li­en, bestehend aus zwölf Per­so­nen, mit einer Rei­se­ge­neh­mi­gung der Bot­schaft in Bel­grad nach Ungarn ein­ge­reist. Nach­dem sie die Emp­feh­lung erhal­ten hat­ten, konn­ten sie nach Ungarn rei­sen und in Buda­pest einen Asyl­an­trag stel­len. Dar­auf­hin wur­den die Antragsteller*innen in einem Auf­nah­me­zen­trum untergebracht.

Mehr als 46.000

Push­backs wur­den allein 2021 in Ungarn registriert.

Wer ohne gül­ti­ge Doku­men­te nach Ungarn ein­reist, wird höchst­wahr­schein­lich von der Poli­zei ille­gal nach Ser­bi­en zurück­ge­scho­ben. Wenn man Glück hat, wird man wäh­rend des Push­backs nicht ver­prü­gelt. Laut der offi­zi­el­len Poli­zei­sta­tis­tik hat es seit 2016 über 100.000 Push­backs gege­ben. Im Dezem­ber 2020 hat der Euro­päi­sche Gerichts­hof (EuGH) und im Juli 2021 der Euro­päi­sche Gerichts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR) die unga­ri­sche Push­back-Pra­xis für rechts­wid­rig erklärt. Fron­tex been­de­te im Janu­ar ihre Ope­ra­ti­on. Doch die Zahl der Push­backs ist in die­sem Jahr sogar noch gestie­gen, mehr als 46.000 Push­backs wur­den allein 2021 registriert.

»Es besteht die Mög­lich­keit, dass sich die Orbán-Regie­rung nicht an das Urteil des EuGH hal­ten wird.«

Du hast in unse­rem letz­ten Inter­view erwähnt, dass man, wenn man wis­sen will, wie die Zukunft Ungarns aus­sieht, einen Blick auf die Ent­wick­lun­gen in Polen und Russ­land wer­fen soll­te. In Polen hat das Ver­fas­sungs­ge­richt ent­schie­den, dass Tei­le des EU-Rechts nicht mit der pol­ni­schen Ver­fas­sung ver­ein­bar sind, und damit den Vor­rang des EU-Rechts in Fra­ge gestellt. Das »Stop Sor­os«-Gesetz war einer der Höhe­punk­te von Orbáns kon­ti­nu­ier­li­cher Pro­pa­gan­da gegen Brüs­sel und die EU-Insti­tu­tio­nen, von denen er behaup­tet, sie wür­den vom unga­risch-ame­ri­ka­ni­schen Mil­li­ar­där Geor­ge Sor­os gesteu­ert. Hältst du es für mög­lich, dass sich die Orbán-Regie­rung nicht an das Urteil des EuGH hal­ten wird?

Wir hof­fen, dass sie es tun wird. Aber es besteht die Mög­lich­keit, dass sie es nicht tun. Wie ich gera­de sag­te, wur­den die Urtei­le zu den Push­backs nicht respek­tiert. Dies­mal erklär­te der Regie­rungs­spre­cher, man respek­tie­re das Urteil, behal­te sich aber das Recht vor, Ungarn zu schüt­zen. Einer­seits respek­tie­ren sie also das Urteil, aber ande­rer­seits wer­den sie die Mit­tel ein­set­zen, die sie wollen?

Sie müs­sen das Gesetz zurück­neh­men, wenn sie dem Urteil nach­kom­men wol­len. Ich fra­ge mich, ob sie das tun wer­den. Als die Regie­rung beschloss, das »Lex NGO«-Gesetz (zu aus dem Aus­land finan­zier­te Orga­ni­sa­tio­nen) zurück­zu­neh­men, setz­te sie ein ande­res Gesetz an des­sen Stelle.

Als wir nach der Ver­ab­schie­dung des »Stop Sor­os«-Geset­zes mit­ein­an­der gespro­chen haben, hast du gesagt, dass ihr »ihnen nicht den Gefal­len tun wer­det, auf­zu­ge­ben«. Nach den Urtei­len des EuGH und des EGMR gegen die Inhaf­tie­rung von Asyl­be­wer­bern in den Tran­sit­zo­nen und gegen die Push­backs von Asyl­su­chen­den ist die­ses Urteil ein wei­te­rer Erfolg gegen die repres­si­ve Poli­tik der unga­ri­schen Regie­rung. Was bedeu­ten sol­che Urtei­le für euch und was muss jetzt geschehen?

Man kann immer noch sehen, dass es sich lohnt, den Kampf anzu­neh­men. Wir kön­nen gewin­nen, also machen wir wei­ter! Ich glau­be nicht, dass sich die Situa­ti­on in Ungarn vom einen auf den ande­ren Tag ändern wird, dass das Asyl­sys­tem wie­der funk­tio­niert und dass die NGOs an der Regie­rungs­po­li­tik betei­ligt wer­den. Aber selbst wenn es ein lan­ger recht­li­cher Kampf ist, lohnt es sich, das juris­ti­sche Fach­wis­sen, die Zeit und die Res­sour­cen zu investieren.

 

(dm)