07.09.2018
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Straßenbild in Kabul, Januar 2017. Foto: Erik Marquardt

UNHCR hat seine neuen Richtlinien zu Afghanistan veröffentlicht und bringt es auf den Punkt: Geflüchtete Afghan*innen können nicht nach Kabul geschickt werden! PRO ASYL fordert, die nächste geplante Sammelabschiebung für kommenden Dienstag, 11.09., akut auszusetzen. Entscheidungen über Leib und Leben dürfen diese Erkenntnisse nicht ignorieren.

Das neue 120-Sei­ten-Papier des UNHCR beschreibt unter detail­lier­ter Quel­len­an­ga­be, wie sich die Sicherheits‑, Men­schen­rechts- und huma­ni­tä­re Lage in Afgha­ni­stan wei­ter ver­än­dert hat. Die­se Beschrei­bung ver­läuft dia­me­tral zur der­zei­ti­gen Pra­xis der Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan, kon­kret nach Kabul. Gera­de für die ent­schei­den­de Fra­ge der Situa­ti­on in der Haupt­stadt heißt es näm­lich, dass dort kein Schutz zu fin­den ist (S. 114):

»UNHCR con­siders that given the cur­rent secu­ri­ty, human rights and huma­ni­ta­ri­an situa­ti­on in Kabul, an IFA/IRA [inter­ne Schutz- oder Neu­an­sied­lungs­al­ter­na­ti­ve] is gene­ral­ly not available in the city

UNHCR beschreibt aus­drück­lich die Gefah­ren, die sich durch die ver­schärf­te Sicher­heits­la­ge für Zivilist*innen erge­ben (S. 112):

»(…) civi­li­ans who par­ta­ke in day-to-day eco­no­mic and social acti­vi­ties in Kabul are expo­sed to a risk of fal­ling vic­tim to the gene­ra­li­zed vio­lence that affects the city.«

»In Hin­blick auf die gegen­wär­ti­ge Sicher­heits- und Men­schen­rechts­la­ge, sowie die huma­ni­tä­re Situa­ti­on, ist Kabul kei­ne gene­rel­le inter­ne Fluchtalternative.«

UNHCR, August 2018

Kein interner schutz 

Die Eli­gi­bi­li­ty Gui­de­lines beschrei­ben aus­drück­lich die Gefah­ren, die sich durch die ver­schärf­te Sicher­heits­la­ge für Zivi­lis­tIn­nen erge­ben. Die von UNHCR genann­ten Bedin­gun­gen für eine inter­ne Flucht­al­ter­na­ti­ve (dau­er­haf­ter Schutz und Sicher­heit, Exis­tenz­si­che­rungs­mög­lich­kei­ten, not­wen­di­ge Infra­struk­tur) sind in Kabul nicht gegeben.

Das heißt inter­ne Flucht­al­ter­na­ti­ven gibt es für die Betrof­fe­nen in der Rea­li­tät nicht und wenn es sie gäbe, sind sie nicht erreich­bar. Die Über­land­stras­sen wer­den von den Tali­ban kon­trol­liert – was auch das Aus­wär­ti­ge Amt (AA) in sei­nem aktu­el­len Lage­be­richt vom 31. Mai ein­deu­tig fest­stellt hat. Das AA beschreibt die Lage als »vola­til« – das ist eine diplo­ma­ti­sche Beschrei­bung ange­sichts der Tat­sa­che, dass die Tabi­lan Städ­te wie Kun­dus und Ghaz­ni bereits vor­über­ge­hend ein­ge­nom­men haben und mili­tä­risch erstar­ken. Was die­se neue Ein­schät­zung für Fol­gen haben muss, zeigt Finn­land – bis­lang hin­sicht­lich Afgha­ni­stan eines der weni­gen Abschie­be­län­der: Unmit­tel­bar nach die­sem Bericht hat es zur­zeit die Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan gestoppt.

Auch in Deutsch­land kommt der Bericht zur rich­ti­gen Zeit: Für nächs­ten Diens­tag ist erneut eine Sam­mel­ab­schie­bung nach Kabul geplant. Zum 16. Mal in Fol­ge sol­len afgha­ni­sche Flücht­lin­ge in die Haupt­stadt Afgha­ni­stans abge­scho­ben wer­den, der Flug soll in Mün­chen starten.

Kabul als Alternative war Grundlage vieler Ablehnungen

Das Pro­blem: Immer mehr Afghan*innen wur­den schon vom Bun­des­amt für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge (BAMF) trotz mög­li­cher Vor­ver­fol­gung mit der Begrün­dung abge­lehnt, sie könn­ten doch in Kabul Schutz fin­den (sog. »inter­ne Schutz­al­ter­na­ti­ve«). Abschie­bungs­ver­bo­te nach Kabul wur­den oft­mals nicht fest­ge­stellt. Seit über einem Jahr schie­ben Aus­län­der­be­hör­den in die Haupt­stadt ab. Nun aber dür­fen die Behör­den und Gerich­te sich die­sen neu­en Erkennt­nis­sen nicht ver­schlie­ßen, schließ­lich kom­men sie aus dem UN-Flücht­lings­hoch­kom­mis­sa­ri­at als einer zwin­gend zu berück­sich­ti­gen­den Quelle.

Auch das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat in sei­nem Beschluss vom 25. April 2018 betont, dass die »tages­ak­tu­el­len« ent­schei­dungs­er­heb­li­chen Tat­sa­chen­grund­la­gen zu erfas­sen und zu bewer­ten sind. Auf­grund der Dyna­mik des dort herr­schen­den Kon­flikts gera­de bei einem Land wie Afgha­ni­stan. Ein Blick in die Pres­se beweist das: Am 5. Sep­tem­ber hat der sog. »Isla­mi­sche Staat« mit einem Dop­pel­an­schlag auf einen Sport­klub in Kabul min­des­tens 20 Men­schen getö­tet und 70 wei­te­re ver­letzt, einen Tag spä­ter erfolg­ten Anschlä­ge der Tali­ban in den Pro­vin­zen Badghis und Tachar.

72,4%

der städ­ti­schen Bevöl­ke­rung lebt in Slums

Fehlende Sicherheit, fehlende Aufnahmekapazitäten, fehlender Zugang

Auch für ande­re Städ­te betont UNHCR, dass gera­de Zivilist*innen im all­täg­li­chen Leben Opfer der dort herr­schen­den Gewalt wer­den kön­nen. Ohne­hin muss zwin­gend eine ganz kon­kre­te orts- und per­so­nen­be­zo­ge­ne Ein­zel­fall­prü­fung der (Über-)Lebensbedingungen auf­grund aktu­el­ler Erkennt­nis­se erfolgen.

Pro­ble­ma­tisch ist in Kabul wie in ande­ren Orten z.B. – neben der Lebens­mit­tel- und Gesund­heits­ver­sor­gung – der erfor­der­li­che Zugang zu Wohn­raum: 72,4 Pro­zent der städ­ti­schen Bevöl­ke­rung lebt in Slums, infor­mel­len Sied­lun­gen oder unzu­läng­li­chen Unter­künf­ten (S. 111). Ganz abge­se­hen davon, dass geprüft wer­den muss, ob die­se Orte über­haupt sicher und legal zu errei­chen sind (S. 110). Eben­so beschreibt der Bericht beson­de­re Risi­ko­grup­pen, die auf Schutz ange­wie­sen sein kön­nen – bei­spiels­wei­se Män­ner im wehr­fä­hi­gen Alter oder »ver­west­lich­te« Per­so­nen (Kapi­tel III).

Die der­zei­ti­ge Asy­l­ent­schei­dungs- und Abschie­be­pra­xis wider­spricht den Fakten!

Nicht nur UNHCR, schon das Aus­wär­ti­ge Amt hat in sei­nem bereits erwähn­ten Lage­be­richt erheb­li­che Ver­schär­fun­gen fest­ge­stellt. Auch des­halb ist drin­gend eine neue, ein­zel­fall­be­zo­ge­ne Prü­fung erforderlich.

Die Innen­mi­nis­ter der Bun­des­län­der müs­sen Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan stop­pen, Behör­den und Gerich­te die­se neu­en Berich­te ernst neh­men. Die der­zei­ti­ge Asy­l­ent­schei­dungs- und Abschie­be­pra­xis wider­spricht den Fakten.

(beb)