17.08.2018
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Abgeschirmt von der Öffentlichkeit wurden am 14.08. erneut 46 afghanische Flüchtlinge abgeschoben. Foto: Michael Trammer

Die Abschiebungen nach Afghanistan gehen nicht nur weiter, seit Juli werden sie sogar ausgeweitet. Absurd, angesichts der Tatsache, dass es keinerlei Hinweise auf eine sich verbessernde Sicherheitslage gibt – im Gegenteil. Besonders irritierend ist dabei das Schweigen des Bundesaußenministers.

46 Betrof­fe­ne wur­den die­se Woche vom Flug­ha­fen in Mün­chen abge­scho­ben. Nicht ganz so vie­le, wie bei Horst See­ho­fers Geburts­tags­flie­ger mit 69 Insas­sen, aber immer noch deut­lich mehr als in der Ver­gan­gen­heit. Das liegt dar­an, dass eini­ge Bun­des­län­der nun auf die Beschrän­kun­gen ver­zich­ten und auch Men­schen abschie­ben, die nicht in die Kate­go­rien Straf­tä­ter, »Gefähr­der« oder sog. Iden­ti­täts­ver­wei­ge­rer fallen.

Wer wurde abgeschoben?

Es waren Men­schen aus 11 Bun­des­län­dern betrof­fen: Bran­den­burg, Ber­lin, Baden-Würt­tem­berg, Bay­ern, Hes­sen, Ham­burg, Nord­rhein-West­fa­len, Rhein­land-Pfalz, Schles­wig-Hol­stein, Saar­land und Sach­sen. Das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um (BMI) spricht von 22 Straf­tä­tern an Bord. Das heißt auch: Die Mehr­heit der Abge­scho­be­nen hat sich nichts zuschul­den kom­men lassen.

Das heißt auch: Die Mehr­heit der Abge­scho­be­nen hat sich nichts zuschul­den kom­men lassen.

Der Löwen­an­teil stamm­te dabei wie gewohnt aus Bay­ern (25 Betrof­fe­ne, davon 18 ohne Straf­ta­ten), außer­dem haben auch Sach­sen und Meck­len­burg-Vor­pom­mern erklärt, die Abschie­be­pra­xis aus­zu­wei­ten – im Fal­le Meck­len­burg-Vor­pom­merns mit der Ein­schrän­kung, dass afgha­ni­sche Flücht­lin­ge in Aus­bil­dung oder mit Arbeits­platz nicht betrof­fen sei­en. Mut­maß­lich wer­den aber auch aus Bran­den­burg nicht mehr aus­schließ­lich Straf­tä­ter abge­scho­ben, Hes­sen hat nach Anga­ben des ARD-Haupt­stadt­stu­di­os eben­so nicht klar erklärt, sich auf die bis­he­ri­gen Kate­go­rien zu beschränken.

Nicht genügend Straftäter für die gewünschte Erhöhung der Abschiebezahlen?

Neben zwei offen­bar sui­zid­ge­fähr­de­ten Per­so­nen aus Bran­den­burg (nach dem Selbst­mord eines Afgha­nen kurz nach sei­ner Abschie­bung im Juli ein beson­ders sen­si­bles The­ma) wur­de auch aus Bay­ern min­des­tens eine schwer trau­ma­ti­sier­te Per­son abge­scho­ben – und das nur vier Tage nach einer Ope­ra­ti­on am Bauch, ohne dass die Fäden bereits gezo­gen wur­den. Wei­ter­hin waren erneut jun­ge Men­schen mit­ten in ihrer Aus­bil­dung betrof­fen, wie der Baye­ri­sche Flücht­lings­rat berich­tet.

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Hun­der­te Men­schen pro­tes­tier­ten am 14.08. in Mün­chen gegen die neu­er­li­chen Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan. Foto: Gün­ther Gerstenberg

Für das Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­um ist das das Mit­tel, um wie gewünscht »die Zahl der Rück­füh­run­gen nach Afgha­ni­stan deut­lich zu erhö­hen« – denn dafür gibt es offen­bar ein­fach nicht genü­gend afgha­ni­sche Straf­tä­ter und Gefähr­der. Ohne­hin han­delt es sich dabei um vor­ran­gig um Poli­tik zum Zwe­cke der Abschre­ckung, denn um die immer neu­en, alar­mie­ren­den Mel­dun­gen aus Afgha­ni­stan zu igno­rie­ren und von einer ver­bes­ser­ten Lage zu spre­chen, benö­tigt es eine gehö­ri­ge Por­ti­on Realitätsverweigerung.

Um von einer ver­bes­ser­ten Lage in Afgha­ni­stan zu spre­chen, benö­tigt es eine gehö­ri­ge Por­ti­on Realitätsverweigerung.

Tausend Taliban greifen Provinzhauptstadt an

Ghaz­ni, eine Pro­vinz­haupt­stadt mit über 100.000 Ein­woh­nern, nicht weit von Kabul ent­fernt, wird von Tali­ban ange­grif­fen und ist tage­lang umkämpft, neben mehr als 200 Sol­da­ten ster­ben auch über 150 Zivi­lis­ten. Kurz spä­ter explo­diert in einer Schu­le in Kabul eine Bom­be und for­dert min­des­tens 48 Todes­op­fer. So sieht der All­tag in Afgha­ni­stan aus.

Und der Ein­fluss der Tali­ban steigt. Sie sind, Exper­ten zufol­ge, mitt­ler­wei­le in der Lage, an ver­schie­dens­ten Orten im Land gleich­zei­tig zu ope­rie­ren. Ein Bei­spiel dafür gibt der Bericht des UN-Gene­ral­se­kre­tärs zur Situa­ti­on im Land: Am 25. April, als die Tali­ban ihre jähr­li­che Früh­lings­of­fen­si­ve star­te­ten, kam es an nur einem Tag zu über 50 Sicher­heits­vor­fäl­len in 21 ver­schie­de­nen Pro­vin­zen. Dabei rücken sie offen­bar auch, nur zwei Mona­te vor den anste­hen­den Wah­len, immer näher an die Haupt­stadt Kabul her­an.

FAST die Hälfte umkämpft oder bereits verloren

Im Mai 2018 berich­tet der US-Spe­cial Inspec­tor für den Wie­der­auf­bau in Afgha­ni­stan (SIGAR), nur 56 Pro­zent der Distrik­te sei­en unter Kon­trol­le oder maß­geb­li­chem Ein­fluss der afgha­ni­schen Regie­rung. Vor zwei Jah­ren, im Mai 2016 waren es noch 66 Pro­zent. Zu beach­ten ist dabei auch: Der Kon­flikt in Afgha­ni­stan ist viel­schich­tig. Der genann­te Anschlag in Kabul wur­de bei­spiels­wei­se nicht von Tali­ban, son­dern von IS-Kämp­fern durchgeführt.

Wo sind die vernünftigen Zustände?

Aber wie sieht es dort aus, wo die Regie­rung noch die Kon­trol­le inne­hat?  Im Gespräch mit dem Deutsch­land­funk behaup­te­te der CDU-Abge­ord­ne­te Phil­ipp Amt­hor, »dass in 60 Pro­zent des Lan­des durch­aus ver­nünf­ti­ge Zustän­de herr­schen«. Da kei­ne kon­kre­ten Regio­nen genannt wur­den, ist davon aus­zu­ge­hen, dass er die Gebie­te meint, die unter Regie­rungs­kon­trol­le oder –ein­fluss ste­hen. Aber mit die­ser Pau­scha­li­sie­rung macht er es sich viel zu einfach.

»Seve­ral are­as of the map show a high num­ber of vio­lent events in are­as […] asses­sed as under the con­trol or influence of the Afghan Government«

SIGAR Quar­ter­ly Report Juli 2018, S. 73

Wie der, sehr aus­führ­li­che, SIG­AR-Bericht zeigt, gibt es in einer Viel­zahl der unter Regie­rungs­kon­trol­le ste­hen­den Dis­trike etli­che Sicher­heits­vor­fäl­le. Gan­ze 36 Pro­zent der dort genann­ten vio­lent events fan­den in sol­chen Gebie­ten statt.

63

„secu­ri­ty inci­dents“ zählt die UN in Afgha­ni­stan. Jeden Tag.

36%

der „vio­lent events“ ereig­nen sich dabei in Gebie­ten unter Regierungskontrolle.

Da, wo Taliban herrschen oder da, wo Bomben fliegen?

Und von die­sen Vor­fäl­len gibt es vie­le. Durch­schnitt­lich zäh­len die Ver­ein­ten Natio­nen rund 63 secu­ri­ty inci­dents pro Tag. Auf­fal­lend dabei ist auch, dass dort wo bewaff­ne­te Grup­pie­run­gen – in der Regel die Tali­ban – die Kon­trol­le haben, die Zahl der Vor­fäl­le erheb­lich gerin­ger ist (SIGAR spricht von ledig­lich 1 Pro­zent der vio­lent events in die­sen Gebieten).

Das heißt: Dort bleibt man zwar mög­li­cher­wei­se von Kämp­fen, Anschlä­gen und sons­ti­gen Kriegs­hand­lun­gen ver­schont (viel­leicht wird aber auch ein­fach nichts dar­über bekannt, da es in jenen Gegen­den schwie­rig ist, unab­hän­gi­ge Infor­ma­tio­nen nach außen zu tra­gen) – aber man lebt eben unter der Herr­schaft der Tali­ban und fügt sich deren Zumu­tun­gen. Frag­lich, ob die­ser Zustand für Herrn Amt­hor als »durch­aus ver­nünf­tig« gilt.

Hunderte neue Binnenflüchtlinge täglich

Ein ähn­li­ches Bild zeich­nen die Sta­tis­ti­ken zu den Bin­nen­ver­trie­be­nen. Auch die­ses Jahr muss­ten bereits über 130.000 Men­schen ihre Hei­mat­or­te ver­las­sen und sind inner­halb des Lan­des auf der Flucht. Sie gesel­len sich zu den Mil­lio­nen ver­trie­be­nen Afghan*innen im Land oder den Nach­bar­län­dern Paki­stan und Iran. 38 Pro­zent der in 2018 ver­trie­be­nen Men­schen leb­ten dabei in Gebie­ten, die von der Regie­rung kon­trol­liert oder beein­flusst wer­den, 28 Pro­zent stam­men aus umkämpf­ten Distrik­ten, 34 Pro­zent aus Regio­nen, in denen bewaff­ne­te Grup­pen die Ober­hand haben. All das wirft die Fra­ge auf, wo genau die »durch­aus ver­nünf­ti­gen« Zustän­de im Sin­ne von Herrn Amt­hor gefun­den wer­den können?

All das wirft die Fra­ge auf, wo genau die »durch­aus ver­nünf­ti­gen« Zustän­de im Sin­ne von Herrn Amt­hor gefun­den wer­den können?

Ausweitung der Abschiebungen fußt nicht auf Fakten

Nicht umsonst macht auch der Lage­be­richt des Aus­wär­ti­gen Amtes (AA) kei­ne kon­kre­ten Aus­sa­gen zu siche­ren Gebie­ten und benennt die Sicher­la­ge als vola­til. Umso irri­tie­ren­der ist es, dass vom zustän­di­gen Bun­des­au­ßen­mi­nis­te­ri­um kei­ne eigen­stän­di­ge Inter­pre­ta­ti­on ver­tre­ten wird. Die müss­te hei­ßen: Die Dar­stel­lung der Sicher­heits­la­ge im Lage­be­richt recht­fer­tigt auf gar kei­nen Fall eine Aus­wei­tung der Afghanistan-Abschiebungen.

Statt­des­sen schweigt Hei­ko Maas und über­lässt den Hard­li­nern und ihren eigen­wil­li­gen Inter­pre­ta­tio­nen das Feld. Und die ist im Zwei­fel lebens­ge­fähr­lich:  Der UNAMA (United Nati­ons Assis­tance Mis­si­on Afgha­ni­stan) zufol­ge kamen bei den diver­sen Kampf­hand­lun­gen von Janu­ar bis Juni 1.692 Zivi­lis­ten ums Leben, über 3000 wei­te­re wur­den ernst­haft ver­letzt. Auch das ein Wert, der seit Jah­ren nicht rück­läu­fig ist.

(mk)