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Afghanistan: Die Bundesregierung und ihre Realitätsverweigerung
Die Abschiebungen nach Afghanistan gehen nicht nur weiter, seit Juli werden sie sogar ausgeweitet. Absurd, angesichts der Tatsache, dass es keinerlei Hinweise auf eine sich verbessernde Sicherheitslage gibt – im Gegenteil. Besonders irritierend ist dabei das Schweigen des Bundesaußenministers.
46 Betroffene wurden diese Woche vom Flughafen in München abgeschoben. Nicht ganz so viele, wie bei Horst Seehofers Geburtstagsflieger mit 69 Insassen, aber immer noch deutlich mehr als in der Vergangenheit. Das liegt daran, dass einige Bundesländer nun auf die Beschränkungen verzichten und auch Menschen abschieben, die nicht in die Kategorien Straftäter, »Gefährder« oder sog. Identitätsverweigerer fallen.
Wer wurde abgeschoben?
Es waren Menschen aus 11 Bundesländern betroffen: Brandenburg, Berlin, Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Saarland und Sachsen. Das Bundesinnenministerium (BMI) spricht von 22 Straftätern an Bord. Das heißt auch: Die Mehrheit der Abgeschobenen hat sich nichts zuschulden kommen lassen.
Das heißt auch: Die Mehrheit der Abgeschobenen hat sich nichts zuschulden kommen lassen.
Der Löwenanteil stammte dabei wie gewohnt aus Bayern (25 Betroffene, davon 18 ohne Straftaten), außerdem haben auch Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern erklärt, die Abschiebepraxis auszuweiten – im Falle Mecklenburg-Vorpommerns mit der Einschränkung, dass afghanische Flüchtlinge in Ausbildung oder mit Arbeitsplatz nicht betroffen seien. Mutmaßlich werden aber auch aus Brandenburg nicht mehr ausschließlich Straftäter abgeschoben, Hessen hat nach Angaben des ARD-Hauptstadtstudios ebenso nicht klar erklärt, sich auf die bisherigen Kategorien zu beschränken.
Nicht genügend Straftäter für die gewünschte Erhöhung der Abschiebezahlen?
Neben zwei offenbar suizidgefährdeten Personen aus Brandenburg (nach dem Selbstmord eines Afghanen kurz nach seiner Abschiebung im Juli ein besonders sensibles Thema) wurde auch aus Bayern mindestens eine schwer traumatisierte Person abgeschoben – und das nur vier Tage nach einer Operation am Bauch, ohne dass die Fäden bereits gezogen wurden. Weiterhin waren erneut junge Menschen mitten in ihrer Ausbildung betroffen, wie der Bayerische Flüchtlingsrat berichtet.
Für das Bundesinnenministerium ist das das Mittel, um wie gewünscht »die Zahl der Rückführungen nach Afghanistan deutlich zu erhöhen« – denn dafür gibt es offenbar einfach nicht genügend afghanische Straftäter und Gefährder. Ohnehin handelt es sich dabei um vorrangig um Politik zum Zwecke der Abschreckung, denn um die immer neuen, alarmierenden Meldungen aus Afghanistan zu ignorieren und von einer verbesserten Lage zu sprechen, benötigt es eine gehörige Portion Realitätsverweigerung.
Um von einer verbesserten Lage in Afghanistan zu sprechen, benötigt es eine gehörige Portion Realitätsverweigerung.
Tausend Taliban greifen Provinzhauptstadt an
Ghazni, eine Provinzhauptstadt mit über 100.000 Einwohnern, nicht weit von Kabul entfernt, wird von Taliban angegriffen und ist tagelang umkämpft, neben mehr als 200 Soldaten sterben auch über 150 Zivilisten. Kurz später explodiert in einer Schule in Kabul eine Bombe und fordert mindestens 48 Todesopfer. So sieht der Alltag in Afghanistan aus.
Und der Einfluss der Taliban steigt. Sie sind, Experten zufolge, mittlerweile in der Lage, an verschiedensten Orten im Land gleichzeitig zu operieren. Ein Beispiel dafür gibt der Bericht des UN-Generalsekretärs zur Situation im Land: Am 25. April, als die Taliban ihre jährliche Frühlingsoffensive starteten, kam es an nur einem Tag zu über 50 Sicherheitsvorfällen in 21 verschiedenen Provinzen. Dabei rücken sie offenbar auch, nur zwei Monate vor den anstehenden Wahlen, immer näher an die Hauptstadt Kabul heran.
FAST die Hälfte umkämpft oder bereits verloren
Im Mai 2018 berichtet der US-Special Inspector für den Wiederaufbau in Afghanistan (SIGAR), nur 56 Prozent der Distrikte seien unter Kontrolle oder maßgeblichem Einfluss der afghanischen Regierung. Vor zwei Jahren, im Mai 2016 waren es noch 66 Prozent. Zu beachten ist dabei auch: Der Konflikt in Afghanistan ist vielschichtig. Der genannte Anschlag in Kabul wurde beispielsweise nicht von Taliban, sondern von IS-Kämpfern durchgeführt.
Wo sind die vernünftigen Zustände?
Aber wie sieht es dort aus, wo die Regierung noch die Kontrolle innehat? Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk behauptete der CDU-Abgeordnete Philipp Amthor, »dass in 60 Prozent des Landes durchaus vernünftige Zustände herrschen«. Da keine konkreten Regionen genannt wurden, ist davon auszugehen, dass er die Gebiete meint, die unter Regierungskontrolle oder –einfluss stehen. Aber mit dieser Pauschalisierung macht er es sich viel zu einfach.
»Several areas of the map show a high number of violent events in areas […] assessed as under the control or influence of the Afghan Government«
Wie der, sehr ausführliche, SIGAR-Bericht zeigt, gibt es in einer Vielzahl der unter Regierungskontrolle stehenden Distrike etliche Sicherheitsvorfälle. Ganze 36 Prozent der dort genannten violent events fanden in solchen Gebieten statt.
Da, wo Taliban herrschen oder da, wo Bomben fliegen?
Und von diesen Vorfällen gibt es viele. Durchschnittlich zählen die Vereinten Nationen rund 63 security incidents pro Tag. Auffallend dabei ist auch, dass dort wo bewaffnete Gruppierungen – in der Regel die Taliban – die Kontrolle haben, die Zahl der Vorfälle erheblich geringer ist (SIGAR spricht von lediglich 1 Prozent der violent events in diesen Gebieten).
Das heißt: Dort bleibt man zwar möglicherweise von Kämpfen, Anschlägen und sonstigen Kriegshandlungen verschont (vielleicht wird aber auch einfach nichts darüber bekannt, da es in jenen Gegenden schwierig ist, unabhängige Informationen nach außen zu tragen) – aber man lebt eben unter der Herrschaft der Taliban und fügt sich deren Zumutungen. Fraglich, ob dieser Zustand für Herrn Amthor als »durchaus vernünftig« gilt.
Hunderte neue Binnenflüchtlinge täglich
Ein ähnliches Bild zeichnen die Statistiken zu den Binnenvertriebenen. Auch dieses Jahr mussten bereits über 130.000 Menschen ihre Heimatorte verlassen und sind innerhalb des Landes auf der Flucht. Sie gesellen sich zu den Millionen vertriebenen Afghan*innen im Land oder den Nachbarländern Pakistan und Iran. 38 Prozent der in 2018 vertriebenen Menschen lebten dabei in Gebieten, die von der Regierung kontrolliert oder beeinflusst werden, 28 Prozent stammen aus umkämpften Distrikten, 34 Prozent aus Regionen, in denen bewaffnete Gruppen die Oberhand haben. All das wirft die Frage auf, wo genau die »durchaus vernünftigen« Zustände im Sinne von Herrn Amthor gefunden werden können?
All das wirft die Frage auf, wo genau die »durchaus vernünftigen« Zustände im Sinne von Herrn Amthor gefunden werden können?
Ausweitung der Abschiebungen fußt nicht auf Fakten
Nicht umsonst macht auch der Lagebericht des Auswärtigen Amtes (AA) keine konkreten Aussagen zu sicheren Gebieten und benennt die Sicherlage als volatil. Umso irritierender ist es, dass vom zuständigen Bundesaußenministerium keine eigenständige Interpretation vertreten wird. Die müsste heißen: Die Darstellung der Sicherheitslage im Lagebericht rechtfertigt auf gar keinen Fall eine Ausweitung der Afghanistan-Abschiebungen.
Stattdessen schweigt Heiko Maas und überlässt den Hardlinern und ihren eigenwilligen Interpretationen das Feld. Und die ist im Zweifel lebensgefährlich: Der UNAMA (United Nations Assistance Mission Afghanistan) zufolge kamen bei den diversen Kampfhandlungen von Januar bis Juni 1.692 Zivilisten ums Leben, über 3000 weitere wurden ernsthaft verletzt. Auch das ein Wert, der seit Jahren nicht rückläufig ist.
(mk)