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Meinungsstark, aber faktenarm: Abschiebepolitik zu Afghanistan
Der neue Lagebericht zu Afghanistan enthält neue Fakten, die Abschiebungen eigentlich erschweren. Dennoch zieht die Bundeskanzlerin uneingeschränkte Abschiebungen nach Afghanistan in Betracht. Bayern lässt sich nicht zweimal bitten: Für den geplanten Sammelabschiebeflug sollen laut Flüchtlingsrat sogar Schüler und Kranke auf der Liste stehen.
Dem Bayerischen Flüchtlingsrat zufolge sind aktuell 18 Fälle bekannt, die von Bayern aus für den heutigen Sammelabschiebeflug vorgesehen sind. Aus den anderen Bundesländern seien bislang nur sieben Personen für den Flug von München aus vorgesehen. Damit stelle Bayern schon jetzt mehr als zwei Drittel der abzuschiebenden Personen.
Das Bundesland hat seit Beginn der Sammelabschiebungen nach Kabul im Dezember 2016 mit besonderer Härte die Abschiebepraxis umgesetzt und scheint die Abschiebungen massiv ausgeweitet zu haben: Selbst gut integrierte Personen sollen betroffen sein. Der Flüchtlingsrat meldet, dass sogar Schüler und kranke Personen für den heutigen Abschiebeflug auf der Liste stehen.
Der heutige Sammelabschiebeflug nach Kabul ist der erste seit dem Bekanntwerden des neuen Lageberichts des Auswärtigen Amtes (AA). Allen neuen Fakten zum Trotz war die Bundeskanzlerin unmittelbar danach der Auffassung, dass wieder unbeschränkt Abschiebungen nach Afghanistan möglich sind. Bayern mit seiner ohnehin rigiden Abschiebepraxis prescht jetzt voran. Fakten zählen in der von der CSU gegenwärtig mitgeschürten flüchtlingsfeindlichen Stimmung nichts.
PRO ASYL hat zum Lagebericht umfassend Stellung genommen: Die neuen Erkenntnisse machen eine Überprüfung aller Ablehnungen der vergangenen zwei Jahre zwingend. Zwei wesentliche Punkte sind neu.
Kein Überleben ohne soziales Netzwerk
Das AA erkennt im Unterschied zur früheren Lageeinschätzung die enorme Wichtigkeit der sozialen und familiären Netzwerke für den Schutz, Perspektive und Überlebensbedingungen von Betroffenen an. Ob eine sogenannte »inländische Ausweichmöglichkeit« existiert, hänge maßgeblich von der sozialen Verwurzelung, der Ethnie und der finanziellen Möglichkeiten ab und muss im Einzelfall überprüft werden. Die Annahme, Abschiebungen von Betroffenen ohne jegliche sozialen Kontakte oder Familienverbünde in Afghanistan seien generell möglich bzw. unbedenklich, findet sich im Lagebericht nicht mehr wieder.
Keine Anonymität in Großstädten
Für junge, gesunde Männer kann es auch zu Gefährdungen in Kabul oder anderen Großstädten kommen. Insbesondere bei Personen, die schon eine Vorverfolgung in bestimmten Regionen erlitten haben, verwies das Bundesamt bisher häufig auf die Zufluchtsalternative in Kabul und anderen großen Städten und die dort angeblich gegebene Anonymität. Im aktuellen Bericht erkennt das Auswärtige Amt erstmalig an, dass auch diese Städte keine Anonymität bieten. Rückkehrer können dort von ihren Verfolgern ausfindig gemacht werden und sind deshalb bedroht.
Afghanistan ist nirgendwo sicher
Der Lagebericht wird bei der Gefahrenlage konkreter. Das Auswärtige Amt erkennt an: Die Sicherheitslage in Afghanistan sei nach wie vor »volatil«. Zudem nimmt die Zahl der umkämpften oder durch die Taliban beherrschten Gebiete seit Jahren kontinuierlich zu, sodass das Sicherheitsargument immer weniger greift.
Auch diesmal wird das Argument zu regionalen Unterschieden zwischen mehr und minder sicheren Regionen herangezogen. Damit Pauschalablehnungen von Afghan*innen zu begründen, mit dem Verweis, es gebe »sichere Gebiete«, die die Betroffenen auch sicher erreichen können, ist nicht mehr möglich. Das Auswärtige Amt gesteht ein, dass die Taliban die Überlandstraßen kontrollieren.
Auch UNHCR warnt vor einer pauschalisierenden Bewertung der Lage in Afghanistan: »Die Situation ist nach wie vor schlecht, sowohl hinsichtlich der Gefahren aufgrund des bewaffneten Konflikts und der Terroranschläge, als auch im Hinblick auf die gezielten Menschenrechtsverletzungen gegenüber Einzelpersonen oder bestimmten Bevölkerungsgruppen«, so die Einschätzung. Auch eine Neuprüfung käme in Betracht.
Neue Entscheidungspraxis muss her!
Tausende Afghan*innen wurden in den vergangenen Jahren mit Hilfe veralteter Textbausteine abgelehnt. Mehr als 60 Prozent von Afghan*innen, die vor Gericht gegen die Ablehnungen klagten, wurde 2017 Recht zugesprochen. BMI und BAMF müssen endlich eine Entscheidungspraxis verfolgen, die der sich immer weiter verschärfenden Lage in Afghanistan gerecht wird. Alles andere setzt Menschenleben von Schutzsuchenden aufs Spiel.