27.07.2021
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Herat im Westen Afghanistans wurde von deutschen Behörden lange als »inländische Fluchtalternative« benannt. Das Bild zeigt die Zerstörung nach einem Autobombenanschlag mit mehreren Toten im März 2021. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Hamed Sarfarazi

Der neue Lagebericht des Auswärtigen Amtes zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Afghanistan ist bereits jetzt veraltet und bagatellisiert die drastische Verschlechterung der Sicherheitslage seit dem Abzug der NATO-Truppen und dem Vormarsch der Taliban sowie die Situation Abgeschobener.

Mit­te Juli 2021 hat das Aus­wär­ti­ge Amt einen »Bericht über die asyl- und abschie­bungs­re­le­van­te Lage in der Isla­mi­schen Repu­blik Afgha­ni­stan« her­aus­ge­ge­ben, wie der offi­zi­el­le Titel des Lage­be­richts lau­tet, den der Afgha­ni­stan-Spe­zia­list Tho­mas Rut­tig bereits am 23.07.2021 aus­führ­lich in der taz besprach.

Doch wer meint, in dem Lage­be­richt wür­den etwa die enor­men Gebiets­ge­win­ne der Tali­ban seit dem Abzug der NATO-Trup­pen geschil­dert und die damit ein­her­ge­hen­den hef­ti­gen Kämp­fe, wird ent­täuscht. Denn der Lage­be­richt ist zwar am 15. Juli 2021 her­aus­ge­ge­ben wor­den – unter der Über­schrift fin­det sich indes­sen die Anga­be, dass Stand des Berichts Mai 2021 ist.

Am 14. April 2021 hat­te der NATO-Rat – nach­dem die USA bereits zuvor die Been­di­gung des Ein­sat­zes ange­kün­digt und sich die übri­gen NATO-Part­ner ange­schlos­sen hat­ten – das Ende der Mis­si­on Reso­lu­te Sup­port in Afgha­ni­stan offi­zi­ell beschlos­sen. Am 01. Mai begann hier­auf der Abzug der inter­na­tio­na­len Trup­pen. Anfang Juli wur­de von den US-Streit­kräf­ten und deren Ver­bün­de­ten bereits der größ­te Mili­tär­stütz­punkt und Luft­waf­fen­stütz­punkt in Bagram geräumt. Und am 30. Juni kamen die letz­ten Bun­des­wehr­sol­da­ten in Deutsch­land an.

Den Zeit­raum seit Beginn des Abzugs der NATO-Trup­pen – mit dem die nach wie vor andau­ern­de erfolg­rei­che Offen­si­ve der Tali­ban begann – deckt der Lage­be­richt des Aus­wär­ti­gen Amtes nicht ab.

Über 200

Distrik­te (von ins­ge­samt 388) in Afgha­ni­stan sind in der Hand der Taliban

Den Zeit­raum seit Beginn des Abzugs der NATO-Trup­pen – mit dem die nach wie vor andau­ern­de erfolg­rei­che Offen­si­ve der Tali­ban begann – deckt der Lage­be­richt des Aus­wär­ti­gen Amtes nicht ab: Anfang Mai hat­ten die Tali­ban noch 32 Distrik­te in ihrer Gewalt, mitt­ler­wei­le sind es über 200 von ins­ge­samt 388 Distrik­ten Afgha­ni­stans. Ledig­lich 15 davon ver­moch­ten die Regie­rungs­trup­pen zurückzuerobern.

Auch grö­ße­re Städ­te dro­hen den Tali­ban in die Hän­de zu fal­len. Die Pro­vinz­haupt­stadt Mazar‑i Sha­rif wur­de bei­spiels­wei­se unmit­tel­bar nach dem Abzug der Bun­des­wehr, die dort mit dem Camp Mar­mal ihr größ­tes Feld­la­ger außer­halb des Bun­des­ge­bie­tes unter­hal­ten hat­te, von den Tali­ban umzin­gelt. Es ist aller Wahr­schein­lich­keit nach nur eine Fra­ge der Zeit, bis die Stadt von ihnen ein­ge­nom­men wird. Auch zahl­rei­che ande­re Pro­vinz-Haupt­städ­te könn­ten bald in die Hän­de der Tali­ban fal­len. Auf einer inter­ak­ti­ven Land­kar­te las­sen sich die Gebiets­ge­win­ne der Tali­ban in den ver­gan­ge­nen Wochen ein­drück­lich nachvollziehen

Zahl der getöteten Frauen und Mädchen hat sich verdoppelt

Ein am 26.07.2021 erschie­ne­ner Bericht der United Nati­ons Assis­tance Mis­si­on in Afgha­ni­stan (UNAMA) zeigt auf, dass sich die Sicher­heits­la­ge in der ers­ten Hälf­te des Jah­res 2021 gegen­über dem Ver­gleichs­zeit­raum des Vor­jah­res extrem ver­schärft hat. Die Gesamt­zahl der getö­te­ten und ver­letz­ten Zivi­lis­ten stieg dem­nach um 47 Pro­zent im Ver­gleich zur ers­ten Hälf­te des Jah­res 2020. Zugleich kehr­te sich der Trend der letz­ten vier Jah­re um, in denen die Zahl der zivi­len Opfer in den ers­ten sechs Mona­ten des Jah­res jeweils sank. Die Zahl der zivi­len Opfer stieg wie­der auf das Rekord­ni­veau der ers­ten sechs Mona­te der Jah­re 2014 bis 2018.

Beson­ders besorg­nis­er­re­gend ist, dass UNAMA Rekord­zah­len von getö­te­ten und ver­letz­ten Mäd­chen und Frau­en sowie eine Rekord­zahl an getö­te­ten Kin­dern doku­men­tiert: Im Ver­gleich zu den ers­ten sechs Mona­ten des Jah­res 2020 hat sich die Anzahl der Mäd­chen und Frau­en, die getö­tet oder ver­letzt wur­den, fast ver­dop­pelt. Die Zahl der zivi­len Opfer unter Jun­gen stieg um 36 Prozent.

Wört­lich heißt es in dem UNAMA-Bericht zudem:

»UNAMA ist besorgt über die gestie­ge­ne Zahl von zivi­len Opfern seit der Ankün­di­gung des Abzugs der inter­na­tio­na­len Streit­kräf­te aus Afgha­ni­stan im April und des­sen kurz dar­auf erfolg­ten Beginns, nach wel­chem die Tali­ban eine beträcht­li­che Anzahl von Distrikt-Ver­wal­tungs­zen­tren eroberten«.

»Die Zahl der zivi­len Opfer im Mai – Juni 2021 war die höchs­te Zahl an zivi­len Opfern in die­sen bei­den Mona­ten, seit UNAMA im Jahr 2009 mit der sys­te­ma­ti­schen Doku­men­ta­ti­on begann.«

Bericht der United Nati­ons Assis­tance Mis­si­on in Afghanistan

Und wei­ter: »Zwi­schen dem 1. Mai und dem 30. Juni 2021 ver­zeich­ne­te die UNAMA 2.392 zivi­le Opfer, fast so vie­le wie in den gesam­ten vier vor­an­ge­gan­ge­nen Mona­ten doku­men­tiert wur­den. Die Zahl der zivi­len Opfer im Mai-Juni 2021 war die höchs­te Zahl an zivi­len Opfern in die­sen bei­den Mona­ten, seit UNAMA im Jahr 2009 mit der sys­te­ma­ti­schen Doku­men­ta­ti­on begann«.

Doch von all dem ist im Lage­be­richt des Aus­wär­ti­gen Amtes nichts zu lesen. Dar­in fin­det sich statt­des­sen eine For­mu­lie­rung, die sich fast wort­gleich mit jener im vor­an­ge­gan­ge­nen Lage­be­richt deckt. Dem­nach befin­de sich Afgha­ni­stan nach Jahr­zehn­ten gewalt­sa­mer Kon­flik­te »wei­ter­hin in einer schwie­ri­gen Auf­bau­pha­se mit einer vola­ti­len Sicher­heits­la­ge«. Das klingt so, als ob Afgha­ni­stan ins­ge­samt auf einem guten Weg sei. Wie dar­ge­stellt, könn­te nichts wei­ter von der Wahr­heit ent­fernt sein.

Beschönigung der Situation von Abgeschobenen 

Aber der Lage­be­richt des Aus­wär­ti­gen Amtes ist nicht nur in Bezug auf die Sicher­heits­la­ge über­holt. In ihm wird auch die Lage für Rück­keh­rer beschö­nigt. Auf Sei­te 24 des Lage­be­rich­tes heißt es, es sei­en dem Aus­wär­ti­gen Amt kei­ne Fäl­le bekannt, in denen Rück­keh­ren­de nach­weis­lich auf­grund ihres Auf­ent­halts in Euro­pa Opfer von Gewalt­ta­ten wurden.

Dem ste­hen die Erkennt­nis­se Frie­de­ri­ke Stahl­manns gegen­über, die in einem im Juni 2021 her­aus­ge­ge­be­nen Gut­ach­ten die »Erfah­run­gen und Per­spek­ti­ven abge­scho­be­ner Afgha­nen« (so auch der Titel des Gut­ach­tens) in den Blick genom­men hat.

Dar­in zeigt die Sozi­al­wis­sen­schaft­le­rin und Afgha­ni­stan-Exper­tin auf, dass Abge­scho­be­ne »allein auf­grund der Tat­sa­che, dass sie in Euro­pa waren, nicht nur durch die Tali­ban, son­dern auch durch staat­li­che Akteu­re und das sozia­le Umfeld von Gewalt bedroht sind«. Aus der quan­ti­ta­ti­ven Ana­ly­se ergibt sich, dass »über 50 Pro­zent wegen ihres Auf­ent­halts in Euro­pa von Gewalt gegen sie oder ihre Fami­li­en betrof­fen waren«. Von den Tali­ban wer­de den Betrof­fe­nen ein »Über­lau­fen« zu deren Geg­nern unter­stellt. Ver­fol­gung dro­he ihnen jedoch nicht nur von den Tali­ban, son­dern auch von ihren eige­nen Fami­li­en, staat­li­chen Akteu­ren und der afgha­ni­schen Öffent­lich­keit wegen ver­meint­li­cher oder tat­säch­li­cher Norm­brü­che wäh­rend ihres Auf­ent­halts in Euro­pa, wegen »Ver­west­li­chung« und zuge­schrie­be­ner Apostasie.

Hin­zu kommt: Wegen noch bestehen­der Schul­den für die Flucht nach Euro­pa gerie­ten Abge­scho­be­ne oft­mals ins Faden­kreuz ihrer Gläu­bi­ger. Die Annah­me, dass Euro­pa-Rück­keh­rer wohl­ha­bend sei­en, füh­re zu dem Risi­ko, Opfer kri­mi­nel­ler Hand­lun­gen zu wer­den. Der mit ihrer Stig­ma­ti­sie­rung erfol­gen­de sozia­le Aus­schluss erhö­he außer­dem die Gefahr, Opfer von all­ge­mei­ner Gewalt zu wer­den. Hier­zu gehö­ren Kampf­hand­lun­gen, Zwangs­re­kru­tie­run­gen durch Tali­ban und Wei­ter­ver­fol­gung im Fal­le von Vorverfolgungen.

Re-Integrationsprojekte erreichen Abgeschobene nicht

Auf Sei­te 22 des Lage­be­richts wird von Re-Inte­gra­ti­ons­pro­jek­ten für Rück­keh­rer berich­tet. Dabei sticht zunächst eine Aus­sa­ge ins Auge: Von den meis­ten Re-Inte­gra­ti­ons­pro­jek­ten kön­nen nur Per­so­nen pro­fi­tie­ren, die frei­wil­lig nach Afgha­ni­stan aus­ge­reist sind.

Dies­be­züg­lich muss man wis­sen, dass Rück­kehr­hil­fen die­ser Art gleich­wohl auch abge­scho­be­nen Afgha­nen – die also gar nicht von ihnen pro­fi­tie­ren kön­nen – ent­ge­gen­ge­hal­ten wer­den. So heißt es bei­spiels­wei­se in einer Ent­schei­dung des Ver­wal­tungs­ge­richts Frei­burg vom 05.03.2021 (A 8 K 3716/17):

»Auf die Inan­spruch­nah­me finan­zi­el­ler Hil­fen im Fal­le der frei­wil­li­gen Rück­kehr muss sich auch der­je­ni­ge ver­wei­sen las­sen, der eine frei­wil­li­ge Aus­rei­se nicht in Betracht zieht, son­dern abge­scho­ben wird. Denn grund­sätz­lich bedarf der­je­ni­ge kei­nes Schut­zes in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, der eine gel­tend gemach­te Gefähr­dung in sei­nem Hei­mat­land durch zumut­ba­res eige­nes Ver­hal­ten abwen­den kann, wozu ins­be­son­de­re die frei­wil­li­ge Aus­rei­se und Rück­kehr in den Hei­mat­staat gehört«.

Außer­dem stellt sich die Fra­ge, wie lan­ge Orga­ni­sa­tio­nen, die bis­lang Rück­kehr­hil­fen anbie­ten (etwa IOM oder IPSO) ange­sichts der sich täg­lich ver­schlech­tern­den Sicher­heits­la­ge und des Vor­drin­gens der Tali­ban über­haupt noch Hil­fe vor Ort anbie­ten werden.

Ignoranz der tatsächlichen Sicherheitslage

Zusam­men­fas­send lässt sich über den »neu­en« Lage­be­richt des Aus­wär­ti­gen Amtes sagen: Es ist pein­lich, dass Deutsch­land in einer solch dra­ma­ti­schen Situa­ti­on, in der zahl­rei­che Afghan*innen in Lebens­ge­fahr sind, die aktu­el­le Sicher­heits­la­ge igno­riert. Zwar ist es üblich, dass die von den jewei­li­gen Bot­schaf­ten zusam­men­ge­tra­ge­nen Infor­ma­tio­nen – in die­sem Fall von jener in Kabul – erst ver­schie­de­ne Sta­tio­nen im Aus­wär­ti­gen Amt durch­lau­fen, ehe ein neu­er Lage­be­richt erscheint.

Deut­lich wird das poli­ti­sche Kal­kül dahin­ter: Die Gefah­ren wer­den her­un­ter­ge­spielt, um wei­ter­hin Afgha­nen abschie­ben zu kön­nen. Mit einer akku­ra­ten und ehr­li­chen Ana­ly­se hat die­ser Lage­be­richt nichts zu tun.

Im Fal­le Afgha­ni­stans und der sich seit Beginn des Abzugs der NATO-Trup­pen über­schla­gen­den Ereig­nis­se wäre das Aus­wär­ti­ge Amt aller­dings gut bera­ten gewe­sen, einen Ad-hoc-Bericht ver­fas­sen zu las­sen, anstatt bereits ver­al­te­te und über­kom­me­ne Infor­ma­tio­nen zu ver­öf­fent­li­chen, die als Grund­la­ge für Ent­schei­dun­gen in Asyl­ver­fah­ren die­nen. Deut­lich wird das poli­ti­sche Kal­kül dahin­ter: Die Gefah­ren wer­den her­un­ter­ge­spielt, um wei­ter­hin Afgha­nen abschie­ben zu kön­nen. Mit einer akku­ra­ten und ehr­li­chen Ana­ly­se hat die­ser Lage­be­richt nichts zu tun.

Die aktu­el­len hier zusam­men getra­ge­nen Erkennt­nis­se zu Afgha­ni­stan machen deut­lich: es braucht drin­gend einen Abschie­bungs­stopp! Das for­dert auch die afgha­ni­sche Regie­rung selbst ein und ande­re euro­päi­sche Staa­ten haben bereits ent­spre­chend reagiert. Gemein­sam mit einem brei­ten euro­päi­sches Bünd­nis zivil­ge­sell­schaft­li­cher Orga­ni­sa­tio­nen, u.a. mit Human Rights Watch, dem Euro­päi­schen Flücht­lings­rat ECRE, Cari­tas Euro­pe, Oxfam und wei­te­ren, hat PRO ASYL die For­de­rung nach einem Abschie­bungs­stopp für Afgha­ni­stan erst kürz­lich erneuert.

(pva)