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Lagebericht zu Afghanistan: Verharmlosend und veraltet
Der neue Lagebericht des Auswärtigen Amtes zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Afghanistan ist bereits jetzt veraltet und bagatellisiert die drastische Verschlechterung der Sicherheitslage seit dem Abzug der NATO-Truppen und dem Vormarsch der Taliban sowie die Situation Abgeschobener.
Mitte Juli 2021 hat das Auswärtige Amt einen »Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan« herausgegeben, wie der offizielle Titel des Lageberichts lautet, den der Afghanistan-Spezialist Thomas Ruttig bereits am 23.07.2021 ausführlich in der taz besprach.
Doch wer meint, in dem Lagebericht würden etwa die enormen Gebietsgewinne der Taliban seit dem Abzug der NATO-Truppen geschildert und die damit einhergehenden heftigen Kämpfe, wird enttäuscht. Denn der Lagebericht ist zwar am 15. Juli 2021 herausgegeben worden – unter der Überschrift findet sich indessen die Angabe, dass Stand des Berichts Mai 2021 ist.
Am 14. April 2021 hatte der NATO-Rat – nachdem die USA bereits zuvor die Beendigung des Einsatzes angekündigt und sich die übrigen NATO-Partner angeschlossen hatten – das Ende der Mission Resolute Support in Afghanistan offiziell beschlossen. Am 01. Mai begann hierauf der Abzug der internationalen Truppen. Anfang Juli wurde von den US-Streitkräften und deren Verbündeten bereits der größte Militärstützpunkt und Luftwaffenstützpunkt in Bagram geräumt. Und am 30. Juni kamen die letzten Bundeswehrsoldaten in Deutschland an.
Den Zeitraum seit Beginn des Abzugs der NATO-Truppen – mit dem die nach wie vor andauernde erfolgreiche Offensive der Taliban begann – deckt der Lagebericht des Auswärtigen Amtes nicht ab.
Den Zeitraum seit Beginn des Abzugs der NATO-Truppen – mit dem die nach wie vor andauernde erfolgreiche Offensive der Taliban begann – deckt der Lagebericht des Auswärtigen Amtes nicht ab: Anfang Mai hatten die Taliban noch 32 Distrikte in ihrer Gewalt, mittlerweile sind es über 200 von insgesamt 388 Distrikten Afghanistans. Lediglich 15 davon vermochten die Regierungstruppen zurückzuerobern.
Auch größere Städte drohen den Taliban in die Hände zu fallen. Die Provinzhauptstadt Mazar‑i Sharif wurde beispielsweise unmittelbar nach dem Abzug der Bundeswehr, die dort mit dem Camp Marmal ihr größtes Feldlager außerhalb des Bundesgebietes unterhalten hatte, von den Taliban umzingelt. Es ist aller Wahrscheinlichkeit nach nur eine Frage der Zeit, bis die Stadt von ihnen eingenommen wird. Auch zahlreiche andere Provinz-Hauptstädte könnten bald in die Hände der Taliban fallen. Auf einer interaktiven Landkarte lassen sich die Gebietsgewinne der Taliban in den vergangenen Wochen eindrücklich nachvollziehen
Zahl der getöteten Frauen und Mädchen hat sich verdoppelt
Ein am 26.07.2021 erschienener Bericht der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) zeigt auf, dass sich die Sicherheitslage in der ersten Hälfte des Jahres 2021 gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres extrem verschärft hat. Die Gesamtzahl der getöteten und verletzten Zivilisten stieg demnach um 47 Prozent im Vergleich zur ersten Hälfte des Jahres 2020. Zugleich kehrte sich der Trend der letzten vier Jahre um, in denen die Zahl der zivilen Opfer in den ersten sechs Monaten des Jahres jeweils sank. Die Zahl der zivilen Opfer stieg wieder auf das Rekordniveau der ersten sechs Monate der Jahre 2014 bis 2018.
Besonders besorgniserregend ist, dass UNAMA Rekordzahlen von getöteten und verletzten Mädchen und Frauen sowie eine Rekordzahl an getöteten Kindern dokumentiert: Im Vergleich zu den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 hat sich die Anzahl der Mädchen und Frauen, die getötet oder verletzt wurden, fast verdoppelt. Die Zahl der zivilen Opfer unter Jungen stieg um 36 Prozent.
Wörtlich heißt es in dem UNAMA-Bericht zudem:
»UNAMA ist besorgt über die gestiegene Zahl von zivilen Opfern seit der Ankündigung des Abzugs der internationalen Streitkräfte aus Afghanistan im April und dessen kurz darauf erfolgten Beginns, nach welchem die Taliban eine beträchtliche Anzahl von Distrikt-Verwaltungszentren eroberten«.
»Die Zahl der zivilen Opfer im Mai – Juni 2021 war die höchste Zahl an zivilen Opfern in diesen beiden Monaten, seit UNAMA im Jahr 2009 mit der systematischen Dokumentation begann.«
Und weiter: »Zwischen dem 1. Mai und dem 30. Juni 2021 verzeichnete die UNAMA 2.392 zivile Opfer, fast so viele wie in den gesamten vier vorangegangenen Monaten dokumentiert wurden. Die Zahl der zivilen Opfer im Mai-Juni 2021 war die höchste Zahl an zivilen Opfern in diesen beiden Monaten, seit UNAMA im Jahr 2009 mit der systematischen Dokumentation begann«.
Doch von all dem ist im Lagebericht des Auswärtigen Amtes nichts zu lesen. Darin findet sich stattdessen eine Formulierung, die sich fast wortgleich mit jener im vorangegangenen Lagebericht deckt. Demnach befinde sich Afghanistan nach Jahrzehnten gewaltsamer Konflikte »weiterhin in einer schwierigen Aufbauphase mit einer volatilen Sicherheitslage«. Das klingt so, als ob Afghanistan insgesamt auf einem guten Weg sei. Wie dargestellt, könnte nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein.
Beschönigung der Situation von Abgeschobenen
Aber der Lagebericht des Auswärtigen Amtes ist nicht nur in Bezug auf die Sicherheitslage überholt. In ihm wird auch die Lage für Rückkehrer beschönigt. Auf Seite 24 des Lageberichtes heißt es, es seien dem Auswärtigen Amt keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrende nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden.
Dem stehen die Erkenntnisse Friederike Stahlmanns gegenüber, die in einem im Juni 2021 herausgegebenen Gutachten die »Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen« (so auch der Titel des Gutachtens) in den Blick genommen hat.
Darin zeigt die Sozialwissenschaftlerin und Afghanistan-Expertin auf, dass Abgeschobene »allein aufgrund der Tatsache, dass sie in Europa waren, nicht nur durch die Taliban, sondern auch durch staatliche Akteure und das soziale Umfeld von Gewalt bedroht sind«. Aus der quantitativen Analyse ergibt sich, dass »über 50 Prozent wegen ihres Aufenthalts in Europa von Gewalt gegen sie oder ihre Familien betroffen waren«. Von den Taliban werde den Betroffenen ein »Überlaufen« zu deren Gegnern unterstellt. Verfolgung drohe ihnen jedoch nicht nur von den Taliban, sondern auch von ihren eigenen Familien, staatlichen Akteuren und der afghanischen Öffentlichkeit wegen vermeintlicher oder tatsächlicher Normbrüche während ihres Aufenthalts in Europa, wegen »Verwestlichung« und zugeschriebener Apostasie.
Hinzu kommt: Wegen noch bestehender Schulden für die Flucht nach Europa gerieten Abgeschobene oftmals ins Fadenkreuz ihrer Gläubiger. Die Annahme, dass Europa-Rückkehrer wohlhabend seien, führe zu dem Risiko, Opfer krimineller Handlungen zu werden. Der mit ihrer Stigmatisierung erfolgende soziale Ausschluss erhöhe außerdem die Gefahr, Opfer von allgemeiner Gewalt zu werden. Hierzu gehören Kampfhandlungen, Zwangsrekrutierungen durch Taliban und Weiterverfolgung im Falle von Vorverfolgungen.
Re-Integrationsprojekte erreichen Abgeschobene nicht
Auf Seite 22 des Lageberichts wird von Re-Integrationsprojekten für Rückkehrer berichtet. Dabei sticht zunächst eine Aussage ins Auge: Von den meisten Re-Integrationsprojekten können nur Personen profitieren, die freiwillig nach Afghanistan ausgereist sind.
Diesbezüglich muss man wissen, dass Rückkehrhilfen dieser Art gleichwohl auch abgeschobenen Afghanen – die also gar nicht von ihnen profitieren können – entgegengehalten werden. So heißt es beispielsweise in einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 05.03.2021 (A 8 K 3716/17):
»Auf die Inanspruchnahme finanzieller Hilfen im Falle der freiwilligen Rückkehr muss sich auch derjenige verweisen lassen, der eine freiwillige Ausreise nicht in Betracht zieht, sondern abgeschoben wird. Denn grundsätzlich bedarf derjenige keines Schutzes in der Bundesrepublik Deutschland, der eine geltend gemachte Gefährdung in seinem Heimatland durch zumutbares eigenes Verhalten abwenden kann, wozu insbesondere die freiwillige Ausreise und Rückkehr in den Heimatstaat gehört«.
Außerdem stellt sich die Frage, wie lange Organisationen, die bislang Rückkehrhilfen anbieten (etwa IOM oder IPSO) angesichts der sich täglich verschlechternden Sicherheitslage und des Vordringens der Taliban überhaupt noch Hilfe vor Ort anbieten werden.
Ignoranz der tatsächlichen Sicherheitslage
Zusammenfassend lässt sich über den »neuen« Lagebericht des Auswärtigen Amtes sagen: Es ist peinlich, dass Deutschland in einer solch dramatischen Situation, in der zahlreiche Afghan*innen in Lebensgefahr sind, die aktuelle Sicherheitslage ignoriert. Zwar ist es üblich, dass die von den jeweiligen Botschaften zusammengetragenen Informationen – in diesem Fall von jener in Kabul – erst verschiedene Stationen im Auswärtigen Amt durchlaufen, ehe ein neuer Lagebericht erscheint.
Deutlich wird das politische Kalkül dahinter: Die Gefahren werden heruntergespielt, um weiterhin Afghanen abschieben zu können. Mit einer akkuraten und ehrlichen Analyse hat dieser Lagebericht nichts zu tun.
Im Falle Afghanistans und der sich seit Beginn des Abzugs der NATO-Truppen überschlagenden Ereignisse wäre das Auswärtige Amt allerdings gut beraten gewesen, einen Ad-hoc-Bericht verfassen zu lassen, anstatt bereits veraltete und überkommene Informationen zu veröffentlichen, die als Grundlage für Entscheidungen in Asylverfahren dienen. Deutlich wird das politische Kalkül dahinter: Die Gefahren werden heruntergespielt, um weiterhin Afghanen abschieben zu können. Mit einer akkuraten und ehrlichen Analyse hat dieser Lagebericht nichts zu tun.
Die aktuellen hier zusammen getragenen Erkenntnisse zu Afghanistan machen deutlich: es braucht dringend einen Abschiebungsstopp! Das fordert auch die afghanische Regierung selbst ein und andere europäische Staaten haben bereits entsprechend reagiert. Gemeinsam mit einem breiten europäisches Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen, u.a. mit Human Rights Watch, dem Europäischen Flüchtlingsrat ECRE, Caritas Europe, Oxfam und weiteren, hat PRO ASYL die Forderung nach einem Abschiebungsstopp für Afghanistan erst kürzlich erneuert.
(pva)