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Neue Studie belegt akute Gefahr für abgeschobene Afghanen
Eine heute veröffentlichte Studie der Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann, herausgegeben von Diakonie und Brot für die Welt, dokumentiert die Bedrohungen, denen abgeschobene Afghanen in ihrer Heimat ausgesetzt sind. Diese neuen Erkenntnisse müssen von BAMF und Gerichten berücksichtigt werden.
Angesichts der eskalierenden und sich täglich verschlechternden Situation in Afghanistan und der Erkenntnisse einer heute veröffentlichten Studie zur Gefährdungslage Abgeschobener ist sowohl ein sofortiger Abschiebestopp, als auch ein neuer Lagebericht des Auswärtigen Amts notwendig. Aktuell ist für Dienstag, den 8. Juni, ein erneuter Abschiebeflieger nach Kabul angesetzt. Der Anfang Mai geplante Charter wurde kurzfristig abgesagt – die aktuelle Situation gebietet das auch für den Juni-Flieger und alle weiteren.
Asyl-Ablehnungen liegen oft lange zurück
Die Studie zeigt, dass es immer mehr Gründe gibt, die Richtigkeit der bisherigen Ablehnungs- und Abschiebungsentscheidungen anzuzweifeln und beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Folgeanträge zu stellen. Der Vollzug von Abschiebungen basiert häufig auf lange zurückliegenden negativen BAMF-Entscheidungen. Doch nun liegen neue Gefährdungsgründe vor. Das BAMF muss die neuen Erkenntnisse einbeziehen und die oft kurzfristig gestellten Folgeanträge sorgfältig prüfen.
In eine zusehends eskalierende Lage, in der die Taliban mit Terror und Attacken den Abzug der NATO begleiten, darf niemand abgeschoben werden.
Das Bundesinnenministerium (BMI) hat laut ARD-Tagesschau auf die Studie und die Entwicklungen reagiert und formuliert, die Bundesregierung verfolge »die Entwicklung in Afghanistan sorgfältig. Wie sich der Abzug der internationalen Truppen auf die Lage im Einzelnen auswirken wird, kann allerdings derzeit noch nicht abgeschätzt werden.«
Während die westlichen Truppen also evakuiert und in Sicherheit gebracht werden, soll gleichzeitig weiterhin in ein Kriegs- und Krisengebiet abgeschoben werden, in dem sich die Situation täglich zuspitzt.
Recherche widerspricht dem Lagebericht
Im Lagebericht des Auswärtigen Amts von Juli 2020, auf dessen Grundlage das BMI die Lage für Abzuschiebende einschätzt, heißt es laut tageschau.de: Dem Auswärtigen Amt seien »keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden«.
Nach den Erkenntnissen der Langzeitrecherche sind aus Deutschland abgeschobene Afghanen aber einer erneuten Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt. Ihnen wird wegen der Flucht nach Europa beispielsweise Verrat, Verwestlichung, unmoralisches Verhalten oder die Abkehr vom Islam vorgeworfen. Eine weitere, für Asylanträge fundamental wichtige Erkenntnis der Studie ist: Den Abgeschobenen fehlt das für das Überleben notwendige soziale Netz. Gerichte, darunter auch der Verwaltungsgerichtshof in Baden-Württemberg, haben bereits festgestellt, dass abgelehnten Afghanen eine Rückkehr ohne ein stabiles familiäres oder soziales Netzwerk in Afghanistan nicht zuzumuten ist.
Am Samstag protestieren bei einem bundesweiten Aktionstag verschiedene Organisationen in vielen deutschen Städten gegen die anstehende Abschiebung nach Afghanistan.
Im Folgenden dokumentieren wir die Zusammenfassung der Studie von Friederike Stahlmann, herausgegeben von Diakonie Deutschland, Diakonie Hessen und Brot für die Welt.
Im Rahmen einer mehrjährigen Forschung ist es der Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann gelungen, Erfahrungen von 113 der 908 zwischen Dezember 2016 und März 2020 aus Deutschland abgeschobenen Afghanen zu dokumentieren.
1) Die Mehrheit dieser Abgeschobenen erfuhr Gewalt gegen sich oder ihre Angehörigen, weil sie nach Europa geflohen sind, dort gelebt haben oder abgeschoben wurden: Sie wurden zum Beispiel von Seiten der Taliban aufgrund der Flucht nach Europa und dem damit unterstellten »Überlaufen zum Feind« als Gegner verfolgt. Der Vorwurf der Verwestlichung, von »unmoralischem« Verhalten in Europa, als auch der Apostasie, also dem Abfall vom muslimischen Glauben aufgrund der Assoziation mit Ungläubigen, droht ihnen nicht nur durch die Öffentlichkeit, die Taliban und staatliche Akteure, sondern von den eigenen Familien. Ein weiteres, erhebliches Gewaltrisiko besteht aufgrund der oft noch nicht bezahlten Schulden für die Finanzierung der Flucht nach Europa durch Kreditgeber.
Die Annahme, dass Europa-Rückkehrer wohlhabend seien, erhöht zudem das Risiko krimineller Übergriffe. All diese Gefahren bedrohen auch ihre Familien. Der soziale Ausschluss, dem sie aufgrund dieser Gefahren sowie der Stigmatisierung als »verwestlichte«, erfolglose Rückkehrer und vermeintliche Kriminelle ausgesetzt sind, erhöht zudem das Risiko, Opfer von allgemeiner Gewalt wie Kriegshandlungen, Kriminalität oder Verfolgung aus anderen Gründen zu werden. Afghanistan war 2019 und 2020 das unsicherste Land der Welt. Von dieser allgemeinen Gewalt waren über 60 Prozent der bekannten Abgeschobenen betroffen. Obwohl die meisten der durch die Studie dokumentierten Abgeschobenen besonderen Schutz in Verstecken erhalten konnten, die von privaten Unterstützerinnen und Unterstützern in Deutschland bezahlt werden, haben insgesamt rund 90 Prozent der Abgeschobenen Gewalterfahrungen gemacht.
2) Angesichts der extremen Armut, von der schon vor der rapiden Eskalation der humanitären Not durch die Corona-Pandemie 93 Prozent der Bevölkerung betroffen waren, haben Abgeschobene schon allein aufgrund ihres sozialen Ausschlusses keine realistische Chance, ihre Existenz zu sichern. 75 Prozent der Abgeschobenen haben hauptsächlich von privater Unterstützung aus dem Ausland gelebt, nur einer hatte existenzsichernde Arbeit und knapp 15 Prozent waren teilweise oder dauerhaft obdachlos und ohne Schutz vor Witterung. Die zeitlich befristete Teilfinanzierung durch Rückkehrhilfen, zu denen effektiv nur wenige Rückkehrer Zugang haben, kann an der Perspektiv- und Schutzlosigkeit nichts ändern. Für diejenigen, die weder dauerhaft unterstützungsfähige und ‑willige soziale Netzwerke in Afghanistan haben, noch die Chance auf eine Rückkehr per Visumsverfahren oder die Mittel für eine Flucht, bleibt als Überlebensstrategie in der Regel nur, sich den Kriegsparteien oder kriminellen Banden anzuschließen.
3) Knapp 70 Prozent der bekannten nach Afghanistan Abgeschobenen sind entweder per Visum wieder nach Deutschland zurückgekehrt oder haben das Land auf dem Fluchtweg verlassen, rund 27 Prozent sind wieder in Europa und rund 41 Prozent in Iran, Pakistan, Türkei und Indien. Von den in Afghanistan Verbliebenen plant derzeit nur eine Person, in Afghanistan zu bleiben, die restlichen 30 Prozent planen erneut die Flucht oder Rückkehr nach Deutschland per Visumsverfahren. An der Perspektivlosigkeit und den Gefahren, die Abgeschobene zum erneuten Verlassen des Landes zwingen, wird auch ein möglicher Friedensvertrag mit den Taliban nichts ändern.
Hintergrund:
Seit 42 Jahren herrscht in Afghanistan Bürgerkrieg und dieser Krieg eskaliert in den letzten Jahren erneut. Wie schon 2018 und 2019 war Afghanistan auch in 2020 das Land mit den absolut meisten dokumentierten Kriegstoten weltweit. Allein 2019 starben über 40.000 Afghaninnen und Afghanen, es war der Konflikt mit den meisten Todesopfern in diesem Jahr, und mehr als in Syrien und Jemen zusammen. Der Global Peace Index stufte Afghanistan 2020 wie auch schon 2019 als das gefährlichste Land weltweit ein. UN-OCHA geht davon aus, dass die Zahl kriegsbedingt Verletzter, die 2021 in Krankenhäusern behandelt werden müssen, auf 310.500 Fälle steigen wird. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes stuft Afghanistan weiterhin als das gefährlichste Land für Zivilisten weltweit ein.
Aufgrund der kriegsbedingt seit Jahren zunehmenden und durch Naturkatastrophen sowie die Folgen der Corona-Pandemie zusätzlich eskalierenden Not hat sich seit 2015 die Zahl derer, die in Afghanistan aufgrund von Hunger akute humanitäre Hilfe zum Überleben bräuchten, auf 16,9 Millionen verfünffacht. Voraussichtlich jedes zweite Kind unter fünf wird ohne Behandlung gegen Unterernährung in 2021 sterben. Schon 2019 – und somit vor dem zusätzlichen wirtschaftlichen Einbruch durch die Corona-Pandemie – lebten 93 Prozent der Bevölkerung in extremer Armut, wobei sich die Zahl derer, die akute humanitäre Hilfe bräuchten, um zu überleben, in 2020 nahezu verdoppelt hat. Insgesamt sind 2021 laut UN-OCHA 30,5 Millionen Menschen akut auf Unterstützung durch die Regierung oder internationale Akteure angewiesen, um die ökonomischen Folgen von Covid-19 zu überleben.
Dennoch haben sowohl die EU als auch Deutschland im Oktober 2016 ein Rückübernahmeabkommen mit Afghanistan geschlossen, demzufolge abgelehnte afghanische Asylbewerberinnen und Asylbewerber auch ohne Pass nach Afghanistan abgeschoben werden können. Die EU und die Regierung in Afghanistan haben diese Erklärung am 13. Januar 2021 verlängert, die offiziell »Joint Declaration on Migration Cooperation between Afghanistan and the EU« (JDMC) genannt wird. Seitdem organisieren deutsche Behörden unter Federführung des Bundesinnenministeriums (BMI) in regelmäßigen Abständen Sammelabschiebungen, um ausreisepflichtige afghanische Geflüchtete nach Kabul abzuschieben. Im Dezember 2016 ging der erste Flieger mit 34 Insassen. Seither wurden auf diese Weise insgesamt 1035 Menschen nach Afghanistan abgeschoben. Im Mai 2017 hatte die Bundesregierung Abschiebungen nach Afghanistan auf drei Personengruppen beschränkt: Straftäter, sogenannte Gefährder sowie »Personen, die sich hartnäckig ihrer Mitwirkung an der Identitätsfeststellung verweigern«. Im Juni 2018 hob die Bundesregierung sämtliche Beschränkungen bei Abschiebungen nach Afghanistan wieder auf, die meisten Bundesländer haben aufgrund ihrer eigenen Bewertung der Lage diese Kategorien allerdings beibehalten. Nur Bayern, Sachsen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Saarland und Mecklenburg-Vorpommern schieben wieder volljährige Männer ab, die nicht in diese Kategorien fallen.
Das Auswärtige Amt bewertet in seinem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan von Juni 2020 die Lage für Rückkehrer zurückhaltend (»Dem Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden.«, S. 22) Auch kämen größere Städte als innerstaatliche Fluchtalternative grundsätzlich in Betracht, S. 18). Die aufgrund der Studie gewonnenen Erkenntnisse sollten in den Bericht einfließen. Die Lageberichte sollen vor allem dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und den Verwaltungsgerichten als Entscheidungshilfe in Asylverfahren, aber auch den Innenbehörden bei ihrer Entscheidung über die Abschiebung ausreisepflichtiger Personen dienen.
Der VGH Baden-Württemberg hat in seiner am 03.02.2021 veröffentlichten Grundsatz-Entscheidung ein Abschiebungsverbot für alleinstehende gesunde Männer im arbeitsfähigen Alter ohne soziales oder familiäres Netzwerk In Afghanistan und ohne Vorliegen sonstiger begünstigender Umstände festgestellt. Die vorliegende Studie belegt nun, dass die Wahrscheinlichkeit für ein aufnahmewilliges Netzwerk sehr gering ist, denn die Abgeschobenen stellen aufgrund der weitverbreiteten Kollektivhaftung auch für ihre Familien eine Bedrohung dar. Das heißt, dass Familien sich entweder versuchen zu schützen, indem sie den Kontakt verweigern, oder Abgeschobene versteckt bleiben müssen. Dieser soziale Ausschluss aufgrund der spezifischen Sicherheitsrisiken macht eine Reintegration oder eine Existenzgründung für Abgeschobene auch unabhängig von der derzeitigen Eskalation der Not nahezu unmöglich.
Statistik:
Derzeit leben 271.805 afghanische Staatsangehörige in Deutschland, davon sind 26.850 hier geboren. Seit 2016 wurden insgesamt 1035 Menschen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben (2017: 121; 2018: 284; 2019: 362; 2020 trotz pandemiebedingter Aussetzung von April bis November: 137: 2021: 98)
Derzeit leben gut 30.000 afghanische Staatsangehörige ausreisepflichtig in Deutschland, diese Gruppe ist also potenziell von einer Abschiebung bedroht. (Quelle: Bundestag)
Viele afghanische Staatsangehörige haben derzeit eine Ausbildungs- oder Beschäftigungsduldung: Zum 31.3.2021 waren insgesamt 5.712 Personen mit einer Ausbildungsduldung nach §60c AufenthG im AZR erfasst. Die mit Abstand größte Gruppe bildeten dabei afghanische Geflüchtete (1.631). Zum 31.3.2021 waren insgesamt 2.365 Personen mit einer Beschäftigungsduldung nach §60d AufenthG im AZR erfasst. Bei den meisten handelte es sich auch hier um afghanische Flüchtlinge (681).
Das BAMF hat 2020 in 21.316 Fällen trotz der sich stets verschlechternder Lage einen Widerruf der Flüchtlingseigenschaft für afghanische Geflüchtete geprüft. In 2020 wurden 5.644 vom BAMF zunächst abgelehnte Asylentscheide für afghanische Flüchtlinge durch Verwaltungsgerichte wieder aufgehoben. Von 9.557 inhaltlich entschiedenen Klagen waren damit 59,1 Prozent erfolgreich.