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»Ich rief verzweifelt nach Hilfe. Doch die Antwort waren weitere Schläge«
Auf der Flucht wurde Akram Abdulkadir in Griechenland schwer krank. Doch statt ihm zu helfen, inhaftierten und misshandelten griechische Sicherheitskräfte ihn. Während eines Pushbacks starb er qualvoll in den Armen seines Bruders Hassan. Der lebt inzwischen in Deutschland und hat mit Hilfe von PRO ASYL Anzeige in Griechenland erstattet.
Triggerwarnung: Dieses Interview enthält explizite Schilderungen von körperlicher Gewalt und vom Tod eines Menschen.
Hassan, Sie haben Anzeige erstattet gegen griechische Sicherheitskräfte. Vertreten werden Sie von Marianna Tzeferakou, einer Anwältin unserer griechischen Partnerorganisation (RSA). Dabei geht es neben unmenschlicher Behandlung und illegaler Inhaftierung vor allem um unterlassene Hilfeleistung mit Todesfolge. Was steckt hinter dieser Anzeige?
Dass mein Bruder Akram in Griechenland elend gestorben ist, weil niemand ihm geholfen hat. Wir beide sind von griechischen Sicherheitskräften verhaftet worden, waren einen Tag lang in ihrer Gewalt. Von Anfang an habe ich die Beamten angefleht, meinen kranken Bruder ins Krankenhaus zu bringen – aber sie haben nichts unternommen. Im Gegenteil: Sie warfen uns in eine Zelle, ein Wärter hat meinem todkranken Bruder Akram zwei Mal einen Stock in den Bauch gerammt. Er hat danach Blut gespuckt und das Bewusstsein verloren. Akram starb schließlich in meinen Armen in einem Transporter, in dem wir mit anderen zur Grenze transportiert wurden. Wir sollten illegal in die Türkei abgeschoben werden. Es war und ist wie ein Albtraum, der nie endet.
Ein entsetzlicher Albtraum, der leider Realität ist. Mögen Sie berichten, wie Sie da rein geraten sind?
Wir kommen aus Syrien, aus der Nähe von Idlib, und waren in die Türkei geflohen. Doch dort hatten wir Angst, dass wir nach Syrien abgeschoben werden. Dort droht uns Lebensgefahr. Darum wollten wir weiter fliehen nach Europa, weil wir dachten, dass wir dort Schutz und Sicherheit finden und einen Antrag auf Asyl stellen können. Anfang Juli flohen wir zusammen mit anderen in einem Boot über den Grenzfluss Evros von der Türkei nach Griechenland.
Wie ging es Ihrem Bruder?
Zuerst ging es ihm gut, wie uns anderen auch. Aber plötzlich fühlte er sich sehr schlecht, fühlte sich schwach, sein Bauch tat weh, er musste sich übergeben, hatte Schüttelfrost, er fiel immer wieder hin und hatte dann sogar Halluzinationen. Ich weiß nicht, was er hatte, er war immer gesund gewesen. Obwohl wir große Angst hatten, beschloss ich, Hilfe zu holen, um sein Leben zu retten. Akram hatte ein Handy, damit rief ich in der Nacht die Notfallnummer an und bat dringend um einen Arzt. Doch ich wurde mit der Polizei verbunden. Sie sagten, wir sollten zur Hauptstraße kommen. Mit großer Mühe haben wir das dann am nächsten Morgen geschafft, ich dachte, es kommt ein Krankenwagen.
Und kam ein Krankenwagen?
Nein. Es kamen Beamte in Polizeiuniform, zwei Männer und eine Frau, in einem Polizeiwagen. Sie nahmen uns fest und nahmen das Mobiltelefon meines Bruders weg. Ich habe sie angefleht, meinen Bruder ins Krankenhaus zu bringen. Doch nichts passierte, keine ärztliche Hilfe. Und sie haben uns auch nicht registriert. Stattdessen kam ein geschlossener Lieferwagen mit zwei schwarz gekleideten Männern. Ich hatte schon von solchen Männern gehört, die nicht wie Polizisten aussehen, aber wohl mit ihnen zusammenarbeiten, von Flüchtlingen werden sie Kommandos genannt.
Wo war der Rest Ihrer Gruppe?
Die haben sich versteckt, konnten aber von dort aus alles sehen. Aber helfen konnten sie uns natürlich auch nicht. Drei von ihnen habe ich hier in Deutschland wiedergetroffen, sie sind bereit, als Zeugen auszusagen.
Immer wieder bettelte ich nach einem Arzt. Doch der Lieferwagen fuhr zu einem Gebäude mit mehreren Zellen, wir waren noch immer in Griechenland. Dort nahmen uns Männer alle Sachen und unser Geld weg, wir mussten uns vor allen nackt ausziehen. Sie beleidigten meinen Bruder und mich. Und die ganze Zeit konnten sie sehen, dass mein Bruder vor Schwäche nicht einmal mehr sprechen konnte und nur schwer atmen konnte.
Was passierte in dem Gebäude?
Wir wurden in eine schmutzige und erbärmliche Zelle gesteckt. Es war eng und stickig und immer mehr Menschen wurden hineingequetscht, Männer, Frauen und Kinder. Wir waren zusammengepfercht wie Tiere. Nicht einmal Wasser bekamen wir, mitten im Sommer. Nur einmal durfte ich in den Taschen, die sie uns und anderen weggenommen hatten, nach einer Flasche mit Wasser suchen. Hilfe konnten wir auch nicht holen, denn sie hatten ja auch unsere Telefone.
Und meinem Bruder ging es schlechter und schlechter, er konnte kaum noch atmen. Ich schlug an die Gittertür und schrie. Da kam ein Mann und hat meinem röchelnden Bruder zweimal seinen Holzstock in den Bauch gerammt. Ich warf mich vor meinen Bruder, aber es half nichts. Nach ein paar Minuten spuckte mein Bruder Blut und verlor das Bewusstsein.
Ich war verzweifelt und versuchte, Akram zu trösten und sagte, dass wir bald ins Krankenhaus gehen würden – obwohl ich schon ahnte, dass sie uns illegal in die Türkei zurückschicken würden. Mein Bruder wurde immer wieder ohnmächtig, und als er kurz zu sich kam, fragte er mich, warum er noch nicht im Krankenhaus sei. Ich habe Angst, ich sterbe, sagte er. Ich flehte und rief verzweifelt nach Hilfe. Doch die Antwort waren weitere Schläge für mich.
Ihr Bruder hatte keine Chance, dieses Martyrium zu überleben.
Nein, das hatte er nicht. Gegen Abend wurden wir mit Schlägen in einen Lieferwagen getrieben, mein Bruder musste von zwei anderen Gefangenen getragen werden. Wir waren völlig hilflos und den Männern ausgeliefert. Mit etwa 20 Flüchtlingen waren wir in dem Lieferwagen eingepfercht, Akram konnte nicht mehr atmen. Ich hielt meinen Bruder im Arm, hörte ihn röcheln, spürte, wie sein Körper schwer wurde – und er fiel tot aus meinen Armen. In meiner Verzweiflung versuchte ich, ihn im Wagen wiederzubeleben, während ich um Hilfe schrie.
Nach wenigen Minuten stoppten sie am Ufer des Evros und trieben alle aus dem Wagen. Ich musste die Leiche meines Bruders mit einer Decke zum Flussufer schleppen. Immer mehr Gefangene aus unterschiedlichen Ländern wurden gebracht. Ein Mann befahl zwei anderen Männern, dass sie die Leiche meines Bruders in den Fluss werfen sollten.
Ich wollte aber meinen toten Bruder mit in die Türkei nehmen und wehrte mich. Der Mann prügelte mich, zwei Männer sollten mich wegschleppen vom toten Körper meines Bruders, ich sollte in ein Boot steigen. Ich stand völlig unter Schock, weigerte mich und schrie, bis sie mir eine Pistole an den Kopf hielten. Ich wurde getreten und in den Fluss geworfen. Das war lebensgefährlich. Ich schwamm um mein Leben und habe irgendwann die türkische Seite des Flusses erreicht.
Wurde der Leichnam Ihres Bruders gefunden?
Ja, ich habe von der Türkei aus meine Brüder informiert, die in Schweden und Deutschland leben. Sie haben sich sofort ins nächste Flugzeug gesetzt und haben in Griechenland und der Türkei alle möglichen Krankenhäuser abgeklappert in der Hoffnung, Akram zu finden. Schließlich hat mein Bruder ihn in der Leichenhalle eines türkischen Krankenhauses identifiziert.
»Wieder hatte ich schreckliche Angst, weil ich mit einem Bein im Leben und mit dem anderen im Tod stand. «
Nach all diesen traumatischen Erlebnissen waren Sie selbst noch immer nicht in Sicherheit. Sie haben erneut versucht, aus der Türkei zu fliehen?
Ja. Beim zweiten Versuch kam ich bis in die Nähe von Thessaloniki. Zusammen mit anderen wurde ich aber aufgegriffen, wieder in einem geschlossenen Lieferwagen abtransportiert und in eine Haftanstalt gebracht. Wieder bekamen wir weder Wasser noch Essen. Von dort aus wurde ich in dieselbe Haftanstalt gebracht, in der ich mit meinem Bruder gewesen war. Es war schrecklich dort, wir durften nicht einmal den Kopf heben, lebten in absoluter Angst und unter Schlägen. Die Wächter schlugen mich und ich sah, wie andere geschlagen wurden. Wieder wurden wir in Gruppen mit einem Lieferwagen in die Nähe des Flusses gebracht, um erneut abgeschoben zu werden. Wir waren ihnen völlig ausgeliefert. Wieder hatte ich schreckliche Angst, weil ich mit einem Bein im Leben und mit dem anderen im Tod stand.
Sie haben überlebt. Was für ein Gefühl ist das?
Ich selbst fühle mich sicherer, inzwischen lebe ich als Asylbewerber in Deutschland. Aber mein Bruder ist tot, elend gestorben, weil niemand einen Arzt geholt hat. Ich habe alles versucht. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich Akram nicht geholfen habe. Jede Nacht träume ich, dass Akram nach mir ruft, dass ich ihn aber nicht sehen kann, dass ich ihm nicht helfen kann.
Dennoch haben Sie sich entschieden, in die Öffentlichkeit zu gehen, eine Anzeige zu erstatten, vom Tod ihres Bruders, von den Schlägen und Demütigungen, dem Sadismus der Wärter, der verweigerten Hilfe, den illegalen Pushbacks zu erzählen. Warum tun Sie das?
Akram ist tot und wird dadurch nicht zurückkommen. Aber er ist nicht der Einzige, der an der griechisch-türkischen Grenze gestorben ist. Was wir durchmachen mussten, ist in Griechenland an der Tagesordnung. Mein Wunsch ist, dass ich dazu beitragen kann, dass keine Menschen auf der Flucht mehr sterben. Dass ganz einfach den Menschen geholfen wird, die Hilfe brauchen.
Auch Menschenrechtsorganisationen wie PRO ASYL und Refugee Support Aegean in Griechenland gehen davon aus, dass Misshandlungen und illegale Pushbacks in Griechenland nicht die Ausnahme sind, sondern zum grausamen System gehören. Doch sie kommen selten an die Öffentlichkeit, und wenn doch, wird den Geflüchteten oft nicht geglaubt. Wieso kann das bei Ihnen anders sein?
Weil ich Kontakt zu mehreren Zeugen habe, die gesehen haben, was mit meinem Bruder und mir passiert ist. Und sie sind bereit, darüber auszusagen. Außerdem gibt es GPS-Daten sowie Fotos und Nachrichten, die wir von griechischem Boden aus an meine Brüder geschickt haben, solange wir das Handy noch hatten.
Es gibt viele Berichte, dass an den Misshandlungen und den Pushbacks unterschiedliche Gruppen beteiligt sind. Was haben Sie beobachtet?
Während der gesamten Operation am Fluss, vom Aussteigen aus dem Transporter bis ich in den Fluss geworfen wurde, sah ich unterschiedliche griechische Sicherheitskräfte, einige in schwarzer Kleidung, andere in grüner Kleidung, mit einer griechischen Flagge am Ärmel, einige in Militärkleidung, einige mit Waffen. Es gab auch eine Gruppe, die wir unter uns Syrern als Söldner bezeichnen, weil es Männer sind, die arabisch sprechen. Ihre Gesichter haben sie bedeckt. Diese Gruppe handelte auf Anweisung der griechischen Beamten und hat die Pushbacks am Fluss ausgeführt.
Sie waren insgesamt mehrere Tage auf griechischem Boden und in der Gewalt von Sicherheitskräften. Hat jemand in dieser ganzen Zeit nach Ihren Daten gefragt und Fingerabdrücke genommen? Konnten Sie einen Asylantrag stellen?
Nein. Unsere Personalien oder Fingerabdrücke wurden nicht erfasst, und wir wurden nie über unseren Status und unsere Rechte informiert. Das Recht auf einen Asylantrag wurde uns verweigert. Auch unsere Verhaftung und Inhaftierung wurden von den Behörden nicht registriert. Die Behörden leugnen unsere Existenz, so, als wären wir gar nicht da gewesen. Sie haben uns sozusagen gewaltsam verschwinden lassen.
(wr, ame)
Über Akram und Hassan hat auch die Frankfurter Rundschau berichtet.