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Hartherziger Kurswechsel beim Familiennachzug: Eltern dürfen einreisen, Kinder nicht
Eine neue, härtere Praxis beim Familiennachzug zu anerkannten minderjährigen Flüchtlingen in Deutschland macht diesen Prozess noch schwieriger als er ohnehin schon ist. Eltern werden so von ihren Kindern auf Jahre getrennt.
Der härtere Kurs wird von Ausländerbehörden verschiedener Bundesländer, u. a. in Baden-Württemberg, Hessen, NRW und Niedersachsen gefahren. Eltern dürfen zu anerkannten minderjährigen Flüchtlingen ziehen, minderjährigen Geschwistern wird zunehmend die Einreise verwehrt. De facto hat das die dauerhafte Trennung von Eltern und Kindern zufolge.
Familiennachzug wird eingedämmt
An dieser Praxis sind auch die deutschen Botschaften im Ausland beteiligt, bei denen die Anträge auf Visa zur Familienzusammenführung eingehen. Die Vermutung liegt nahe, dass mit Hilfe von Verwaltungsentscheidungen abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit eine bewusste Ausnutzung von Gesetzeslücken und damit systematisch eine Eindämmung des Familiennachzugs betrieben wird.
Mit dem grundgesetzlich und menschenrechtlich garantierten Schutz von Familien hat diese Praxis nichts zu tun.
Trennung von Familien: Für Botschaften kein Härtefall
In einem Fall lehnte die deutsche Botschaft in Beirut es ab, minderjährigen Geschwistern eines anerkannten minderjährigen Flüchtlings in Deutschland Visa zur Familienzusammenführung zu erteilen, damit sie zusammen mit den Eltern aus der vom IS umkämpften Stadt Qamishli in Sicherheit nach Deutschland gebracht werden können.
Der heute 16-jährige Kurde aus Qamishli im Nordosten Syriens kam vor etwa zwei Jahren allein nach Deutschland und wurde Anfang 2016 als Flüchtling im Sinne der Genfer Konvention anerkannt.
Daraufhin beantragten seine Eltern zusammen mit den drei jüngeren Geschwistern (6, 10 und 13 Jahre alt) bei der deutschen Botschaft in Beirut Visa für den Nachzug zu ihrem Sohn. Die Eltern bekamen diese Visa, ihre drei jüngeren Kinder jedoch nicht. In der Antwort der Botschaft an eines der drei Geschwister heißt es im mittlerweile gängigen Botschaftsjargon:
»Die mit der Versagung der Aufenthaltserlaubnis eintretenden Schwierigkeiten für den Erhalt der Familiengemeinschaft müssten nach ihrer Art und Schwere so ungewöhnlich und groß sein, dass im Hinblick auf den Zweck der Nachzugsvorschriften, die Herstellung und Wahrung der Familieneinheit zu schützen, die Ablehnung des Visums schlechthin unvertretbar wäre.
Aus Ihren Darlegungen ist nicht ersichtlich, dass Sie oder ein Mitglied Ihrer Familie auf dieLebenshilfe eines anderen Familienmitgliedes durch Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft dringend angewiesen und diese Lebenshilfe zumutbar … nur im Bundesgebiet erbringen lässt. Härtefallbegründende Umstände (z.B. Krankheit, Behinderung, Pflegebedürftigkeit, psychische Not) wurden nicht geltend gemacht.«
Dass ein Kind im Alter unter 10 Jahren mittlerweile »darlegen« muss, warum es auf seine Eltern angewiesen ist, ist leider nicht nur die Ansicht einzelner deutscher Auslandsvertretungen, sondern auch die einiger Ausländerbehörden in Deutschland. Denn auch die hier zuständige Behörde in Deutschland verweigerte ihre Zustimmung zur Erteilung des Visums.
Die Eltern sehen sich nunmehr vor die bittere Wahl gestellt, entweder zu ihrem Sohn nach Deutschland zu reisen und ihre anderen Kinder im vom IS terrorisierten Qamishli zurückzulassen, sich für einen unabsehbaren Zeitraum voneinander zu trennen, oder auf ihren Rechtsanspruch auf Nachzug zu ihrem Sohn in Deutschland zu verzichten.
Der Jugendliche indes, der mittlerweile fließend Deutsch spricht und sich auch in der Schule gut eingelebt hat, leidet seit Bekanntgabe der Entscheidungen unter schweren Konzentrationsschwierigkeiten und Schlafstörungen. So behindern die deutschen Behörden nicht nur den Nachzug von Familien, sondern auch die erfolgreiche Ankunft und Integration von minderjährigen Flüchtlingen, die schon in Deutschland leben.
Trennung von Eltern und Kindern sind für die deutsche Botschaft in Beirut mittlerweile kein Härtefall, auch dann nicht, wenn die minderjährigen Geschwister in einer von IS umkämpften Stadt im Nordirak zurückbleiben müssen.
Familien zur Trennung gezwungen
Auch die deutsche Botschaft in Ankara sieht Familientrennungen von Eltern und minderjährigen Kindern nicht als Fälle außergewöhnlicher Härte an, die die Erteilung von Visa und damit die Familienzusammenführung in Deutschland eigentlich dringend notwendig machen.
Zwei Jugendlichen aus Syrien (derzeit 19 und 16 Jahre alt), die in Deutschland bereits als Flüchtlinge anerkannt sind, wird von der deutschen Botschaft in Ankara ein Zusammenleben mit ihren Eltern und ihren jüngeren Geschwistern verwehrt.
Den Eltern der Kinder wurden Visa zum Nachzug zu ihrer 16-jährigen Tochter in Deutschland gewährt, allerdings müssten sie, so sie denn als Paar nach Deutschland kommen würden, ihre beiden kleineren Kinder (derzeit 9 und 7 Jahre alt) in Ankara zurücklassen. Eine außergewöhnliche Härte, so die Botschaft, liege für die Familie dadurch nicht vor.
Die Ablehnung für die jüngeren Geschwister wird unter anderem damit begründet, dass die bereits in Deutschland lebenden Jugendlichen keinen ausreichenden Wohnraum und Unterhalt für ihre jüngeren Geschwister sicherstellen könnten. Dass es allerdings für die Erteilung von Visa für jüngere Geschwister durchaus einen Ermessensspielraum gibt, räumt die Botschaft zumindest indirekt ein: »Soweit Ermessen eröffnet war, wurde dieses zu Ihren Ungunsten ausgeübt. Der Antrag muss daher abgelehnt werden.«
Die Eltern sehen sich also in die Lage gedrängt, sich für ein Zusammenleben mit ihren älteren oder ihren jüngeren Kindern entscheiden zu müssen. Zudem müssten sie schnell entscheiden, da die erteilten Visa nur für einen Monat gültig sind.
Zynische Ablehnungsbescheide
Die vorliegenden Ablehnungsbegründungen der deutschen Botschaft in Kairo sind an Zynismus nicht zu überbieten. So verweigert die deutsche Botschaft in Kairo einem unter prekären und ungesicherten Umständen in Ägypten lebenden syrischen Elternpaar mit minderjährigen Kindern die Familienzusammenführung mit ihrem minderjährigen als Flüchtling anerkannten Sohn in Deutschland u. a. mit der Begründung, das Elternpaar könne sich ja getrennt um die einzelnen minderjährigen Kinder kümmern:
»Da den Eltern vorliegend Visa erteilt werden können, besteht im Übrigen auch die Möglichkeit, sich getrennt um jeweils einzelne ihrer Kinder kümmern zu können, insbesondere bis zum Erreichen der Volljährigkeit der Referenzperson in Deutschland.«
Die deutsche Botschaft in Kairo verhindert, dass ein seit Jahren von seiner Familie getrennter und inzwischen in Deutschland als minderjähriger Flüchtling anerkannter Jugendlicher mit seiner Familie zusammenleben kann. Die Familie hat durch den Krieg in Syrien bereits einen Sohn verloren und lebt zu diesem Zeitpunkt fern von weiteren Verwandten in Ägypten.
Nach langer Wartezeit erteilte die Botschaft im August 2016 zwar den Eltern ein Ausreisevisum, seinen beiden jüngeren Geschwistern aber nicht. Als Begründung führt die Botschaft an:
»Die allgemeinen Umstände [der Geschwisterkinder] in Ägypten führen allein nicht zur Annahme einer außergewöhnlichen Härte. Der Wegzug nach Deutschland zur Betreuung der Referenzperson ist vorliegend die bewusste Entscheidung der Eltern und kein unvorhersehbares Ereignis. Zudem ist bisher nicht ausreichend glaubhaft gemacht, dass die Betreuung des Geschwisterkindes nicht durch andere Angehörige des Familienverbandes sichergestellt werden könnte.«
Voraussetzung für einen Nachzug der Geschwisterkinder sei, dass ihr älterer Bruder in Deutschland für ausreichenden Wohnraum für die gesamte Familie und für den Lebensunterhalt seiner jüngeren Geschwister garantiere. Dabei hatte die in Deutschland zuständige Stadt bereits zugesichert, sich um die Unterbringung der gesamten Familie zu kümmern.
Kurz nachdem die Mutter des Jugendlichen aus Mangel an besseren Alternativen tatsächlich allein nach Deutschland gereist war, wurde ihr Sohn volljährig. Damit erlosch ihr Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach §36 Abs. 1 AufenthG, genauso wie der des weiterhin in Ägypten ausharrenden Vaters. Inzwischen hat die Mutter selbst einen Antrag auf Asyl in Deutschland gestellt.
Bis ihr Verfahren abgeschlossen und ihr Aufenthaltsstatus geklärt ist, hat nun auch sie keine Möglichkeit, ihren Mann und ihre beiden jüngeren Kinder nach Deutschland zu holen. Genau auf diese Konstellation scheint es die Botschaft in Kairo bereits im Sommer angelegt zu haben. Die kurz bevorstehende Volljährigkeit des Sohnes vor Augen griff sie nämlich schon im August in ihrer Begründung der Ablehnung der Visa für die jüngeren Geschwister auf die gegenwärtige Situation der Mutter vor:
»Auf eine etwaige Aussicht auf Flüchtlingseigenschaft kommt es nicht an, da das Gesetz vom Besitz (nicht Aussicht) eines Aufenthaltstitels nach § 25 AufenthG, also der Flüchtlingseigenschaft spricht.«
Offen bleibt hingegen die Frage, warum die Botschaft nicht wie bis dato üblich ihren Ermessensspielraum zugunsten des Zusammenlebens der Familie nutzte. Da dies zum wiederholten Male geschieht, drängt sich die Vermutung auf, dass diese und ähnliche Entscheidungen auf interne Weisungen von höherer Stelle zurückzuführen sind.
Die Eltern werden von den Behörden also gezwungen, sich entweder für das Zusammenleben mit nur einem Teil ihrer Kinder oder aber gegen ihr Zusammenleben als Paar zu entscheiden.
Eine Trennung der Familien durch Flucht wird so nicht nur in Kauf genommen, sondern geradezu bewusst forciert – unter Umständen auf Jahre hinaus. Denn die Bewilligung des Familiennachzugs geht ohnehin mit vielen bürokratischen Hürden einher und ist in jedem Fall langwierig.
Familien müssen geschützt werden!
Der besondere Schutz der Familie ist nämlich in Art. 6 des deutschen Grundgesetzes und in Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verbrieft. Das Recht auf ein Zusammenleben von Kindern mit ihren Eltern wird darüber hinaus in Art. 9 und 10 der UN-Kinderrechtskonvention betont. In Deutschland ist der Nachzug der sog. Kernfamilie in § 29 AufenthG geregelt.
Dies bedeutet, dass bei einem erwachsenen Flüchtling Ehepartner*in und minderjährige Kinder einen Rechtsanspruch auf Einreise haben. Wird ein alleineinreisender minderjähriger Flüchtling aus Syrien in Deutschland als politisch verfolgt anerkannt, haben nach § 36 Absatz 1 AufenthG nur die Eltern einen Rechtsanspruch auf die Einreise, minderjährige Geschwister jedoch nicht.
Über viele Jahre hinweg erfolgte die Einreise der Geschwister im Rahmen einer Auslegung des Begriffes der außergewöhnlichen Härte nach § 36 Absatz 2 AufenthG, wonach auch sie einreisen durften. Doch was bisher überwiegend ganz selbstverständlich als Härte galt – nämlich die Trennung von Eltern und Kindern – wird jetzt gnadenlos weginterpretiert.