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Griechenland: Der Kampf alleinerziehender afghanischer Frauen
Der neue Bericht unserer griechischen Partnerorganisation Refugee Support Aegean beleuchtet die Herausforderungen, denen sich alleinerziehende afghanische Frauen in Griechenland stellen müssen. Sechs geflüchtete Mütter berichten von Gewalt auf der Flucht, griechischen Lagern und ihrer Hoffnung auf ein sicheres Leben für sich und ihre Kinder.
Alleinerziehende geflüchtete Mütter sind in Griechenland mit besonderen Herausforderungen und Schutzrisiken konfrontiert. Viele von ihnen sind der Gefahr von Ausbeutung, geschlechtsspezifischer Gewalt sowie körperlichen Verletzungen ausgesetzt. Dies führt zu zusätzlichem psychosozialen Stress und Trauma nach der Ankunft in Griechenland. Auch für ihre Kinder besteht ein höheres Risiko körperlicher oder geistiger Schäden.
Das geht aus dem Bericht »In search of safety: The struggle of Afghan single mothers in Greece« (Auf der Suche nach Sicherheit: Der Kampf von alleinerziehenden afghanischen Müttern in Griechenland) hervor, den unsere griechische Partnerorganisation Refugee Support Aegean im Juli 2023 veröffentlichte.
Fünf der sechs Afghaninnen, mit denen unsere Kolleg*innen von Refugee Support Aegean (RSA) gesprochen haben, kamen im Winter 2022 über die Evros-Landgrenze nach Griechenland. Bei ihrer Ankunft in Athen waren die Frauen zunächst obdachlos. Mittlerweile leben alle in sogenannten »Controlled Access Centers« (»Zentren mit kontrolliertem Zugang«) auf dem griechischen Festland. Alle sechs Frauen werden rechtlich durch unsere griechische Partnerorganisation Refugee Support Aegean (RSA) vertreten.
Sie wurden in Afghanistan, im Transit oder in Griechenland von Teilen ihrer Familien getrennt. In einigen Fällen sind die Ehemänner verstorben oder verschwunden. In anderen Fällen haben sich diese Frauen scheiden lassen oder sind aus missbräuchlichen Beziehungen geflohen.
Im Folgenden werden die im RSA-Bericht aufgeführten Probleme von alleinerziehenden Frauen zusammenfassend wiedergegeben. Der vollständige Bericht ist hier abrufbar (Englisch).
Überlastung: Mutter, Anwältin und Ernährerin der Familie
Die Frauen berichten von der Schwierigkeit, alleine für die Versorgung ihrer Kinder zuständig zu sein und sich gleichzeitig im Asylverfahren für ihre Familie einsetzen zu müssen:
»In Griechenland muss eine alleinerziehende geflüchtete Mutter die Anwältin und Ernährerin ihrer Familie und gleichzeitig Mutter sein, während wir weder die Sprache noch das Gesetz kennen. Kannst du dir das vorstellen, mit all den schlechten Erinnerungen, die dich jede Nacht verfolgen?«
Marzia* (38), Asylsuchende, zwei Söhne im Alter von 16 und 6 Jahren in Griechenland und eine vermisste Tochter
Dass die Frauen unter den für Geflüchtete schwierigen Lebensbedingungen in Griechenland so viele Rollen gleichzeitig auszufüllen haben, stellt für die oftmals traumatisierten Mütter eine Überbelastung dar. Es lässt ihnen zudem wenig Zeit und Energie für sich selbst, etwa um vergangene Erfahrungen und Traumata zu verarbeiten.
Gleichzeitig müssen die Frauen mit dem Kulturschock fertig werden, der sich aus der plötzlichen Konfrontation mit anderen Vorstellungen von Geschlechterrollen, Familie, Rechten und dem Gesetz ergibt.
Obdachlosigkeit statt Sicherheit
Viele der interviewten Frauen waren nach ihrer Ankunft in Griechenland zunächst obdachlos:
»Als ich mit meinen Kindern und unserer kleinen Tasche in den Straßen von Athen lebte, fühlte ich mich verloren und hilflos in diesem fremden Land.«
»Als ich mit meinen Kindern und unserer kleinen Tasche in den Straßen von Athen lebte, fühlte ich mich verloren und hilflos in diesem fremden Land. Alles, was ich wollte, war eine sichere Unterkunft zu finden, in der wir uns ausruhen konnten. Ich brauchte einen Moment, um mich beruhigen zu können. Aber wir teilten uns dann einen Monat lang ein Haus mit vielen anderen und hatten nicht einmal einen richtigen Platz zum Schlafen oder Duschen. Ich habe gebetet: ‚Möge Gott uns vor den Fremden schützen, die neben uns schlafen‘, und ich blieb jede Nacht wach und schlief nur ein oder zwei Stunden, um über meine Kinder zu wachen.«
Parvin* (29), Asylsuchende, zwei Kinder im Alter von 9 und 6 Jahren
Die drängendsten Anliegen der Frauen: Ein sicherer Ort, geschützt vor jeglicher Form der erzwungenen Rückführung, rascher Zugang zu einem fairen Asylverfahren und menschenwürdige Lebensbedingungen
»Es ist nicht leicht, gleichzeitig alleinerziehend, eine Frau und ein Flüchtling zu sein. Es gibt viele Dinge, um die man sich sorgen muss. Das Asylverfahren ist für mich sehr anstrengend, vor allem, wenn ich mich gleichzeitig ständig um die Deckung unserer Grundbedürfnisse kümmern muss. Ich habe versucht, zwei Tage pro Woche in einer Fabrik zu arbeiten, aber ich konnte keinen sicheren Ort finden, an dem ich meine Kinder während der Arbeit lassen konnte, also musste ich aufgeben.«
Arezu* (33), Asylsuchende, drei Kinder im Alter von 13, 9 und 3 Jahren
Die Frauen berichten, dass der Mangel an ausreichenden Anlaufstellen für Asylantragsteller*innen in den griechischen Lagern ein großes Hindernis bei der Wahrnehmung von Rechten und der Deckung der Grundbedürfnisse ihrer Familien darstellt. Eine spezialisierte Unterstützungsstruktur, die auf ihre besonderen Bedürfnisse, oder die speziellen Bedürfnisse anderer vulnerabler Gruppen ausgelegt ist, gibt es trotz des dringenden Bedarfs nicht.
Flucht nach Europa: Noch mehr Traumata
Alle Frauen, mit denen die griechische Partnerorganisation von PRO ASYL gesprochen hat, haben Griechenland auf »irregulärem« Weg erreicht. Dies ist eine Folge der nahezu vollständigen Abwesenheit von legalen Fluchtwegen nach Europa. Auf der gefährlichen Flucht haben die meisten illegale Push-Backs erlebt, die oftmals zur Trennung ihrer Familien und sogar zum Verschwinden von Angehörigen führten. Die traumatisierenden Erlebnisse wirken bis heute nach:
»Meine Tochter hat Angst vor der Polizei und zittert schon bei dem Wort ‚Polizei‘, denn wir wurden in Griechenland mehrmals aufgegriffen und zurückgeschickt.«
Palvasha* (34), Asylantragstellende, mit einer 7‑jährigen Tochter in Griechenland, die Familie wurde illegal aus Griechenland in die Türkei zurückgeführt.
»Meine größte Sorge gilt jetzt meinem Sohn, der unter psychischen Problemen leidet und allein in der Türkei ist. Als wir versuchten, Griechenland zu erreichen, wurde er von unserer Gruppe getrennt, die griechische Polizei fand ihn und schickte ihn zurück in die Türkei. Tagelang wusste ich nicht, ob er lebt oder tot ist. Ich weinte den ganzen Tag. Schließlich fand ich heraus, dass er in der Türkei geschlagen und inhaftiert worden war. Ich möchte nur, dass wir alle zusammen und in Sicherheit sind, und ich möchte, dass meine Jungs zur Schule gehen und lernen können.«
Fatima* (46), anerkannter Flüchtling, wurde an der griechisch-türkischen Landgrenze von ihrem jüngeren Sohn getrennt. Ihr Sohn ist allein in der Türkei.
Aufgrund psychischer Belastungen versuchen alle Frauen, mit denen RSA gesprochen hat, Psycholog*innen aufzusuchen. Viele Mütter leiden zudem an körperlichen Beschwerden und Erkrankungen, die ihre Gesundheit und damit auch ihre Kapazitäten, sich für die Belange ihrer Familie einzusetzen, beeinträchtigen.
»Meine Tochter hat Angst vor der Polizei und zittert schon bei dem Wort ‚Polizei‘, denn wir wurden in Griechenland mehrmals aufgegriffen und zurückgeschickt.«
Abgelegene Lager: Kaum Zugang zu Gesundheitsversorgung, Transport und Übersetzungsdienste
Die Angebote in den griechischen Lagern wurden seit Beginn des Jahres stark eingeschränkt. Diese Situation hat sich laut RSA insbesondere seit dem überwiegenden Rückzug der Internationalen Organisation für Migration (IOM) seit dem 20. März 2023 verschärft. Rechtsberatung, psychosoziale Unterstützung und Sprachkurse sowie Transportmöglichkeiten wurden radikal reduziert, wenn nicht ganz eingestellt.
Seit Anfang Februar 2023 gibt es zudem gravierende Lücken bei den Dolmetscher*innendiensten in den Lagern. Darüber hinaus gibt es in den Lagern weder fachmedizinische Dienste (z. B. Psychiater*innen, Kinderärzt*innen oder Gynäkolog*innen) noch die Möglichkeit, Medikamente verschrieben zu bekommen. Probleme beim Zugang zu öffentlicher Gesundheitsversorgung, Transport und Übersetzungsdiensten sind Alltag für die alleinerziehenden Mütter in den Lagern.
Verzögerungen bei der Registrierung der Asylanträge
Die Frauen berichten, dass sie in den griechischen Lagern einige Wochen oder sogar Monate warten mussten, bis sie ihre Asylanträge registrieren lassen konnten. Erst damit erhielten sie ordnungsgemäße Papiere und damit Schutz vor Aufgriffen und Inhaftierung.
Eine Mutter berichtet von ihrem Kampf für die inhaltliche Prüfung ihres Asylantrags und gegen die Anwendung des Konzepts des »sicheren Drittstaats«. Da sie über die Türkei geflohen war, die für manche Gruppen in Griechenland als »sicher« gilt, wurde ihr Asylantrag zunächst als »unzulässig« abgelehnt. Es dauerte weitere fünf Monate in Unsicherheit, bis sie einen Folgeantrag stellen konnte.
Verzögerungen bei der Registrierung der Asylanträge wirken sich direkt auf den Zugang zu monatlichen Zuwendungen aus, die Personen während des Asylverfahrens zustehen. Viele Frauen berichten von Wartezeiten von mehreren Wochen bis Monaten. Eine Frau erzählt im Gespräch mit RSA, dass sie seit ihrer Ankunft in Griechenland vor mehr als sechs Monaten keine finanzielle Unterstützung erhalten habe.
Ohne das Geld sind die Mütter nicht in der Lage, die Grundbedürfnisse für sich und ihre Kinder zu decken. Auch Unterstützungsangebote in den umliegenden Städten können so nicht wahrgenommen werden.
Hürden bei der Wahrnehmung von Unterstützungsangeboten
Fahrtkosten aus abgelegenen Lagern in die Stadt werden vom griechischen Staat nicht übernommen. Doch Fahrten nach Athen sind wichtig, da Asylsuchende dort Unterstützungsangebote im rechtlichen, sozialen und gesundheitlichen Bereich aufsuchen können. Die Mütter, die, mit denen RSA sprach, können zudem nur zu den Zeiten nach Athen fahren, in denen ihre Kinder in der Schule sind. Säuglinge oder Kleinkinder müssen sie mitnehmen.
Diese mehrfachen Einschränkungen hindern die Frauen oft daran, Termine bei Psycholog*innen, in Krankenhäusern oder bei ihren Anwält*innen wahrnehmen zu können. Dies gilt sogar für die vorgeschriebenen Asylanhörungen.
»Kürzlich ging ich mit all meinen Kindern zur Beantragung meines Asylfolgeantrags. Während des Gesprächs hielt ich meinen Kleinen auf dem Arm, mein Großer saß neben mir und mein anderer Junge saß vor dem Büro. Es gab keinen anderen Ort, an dem ich meine Kinder hätte lassen können. Wenn man sich in einer solchen Situation befindet, ist es nicht leicht, sich daran zu erinnern, alles, was für den Antrag wichtig ist, auf die beste Art und Weise zu sagen.«
Arezu* (33), Asylsuchende, Mutter von drei Kindern im Alter von 13, 9 und 3 Jahren
Asylbehörden, wie z. B. die für afghanische Geflüchtete zuständige Stelle in Piräus, bieten keinen kinderfreundlichen Aufenthaltsort an, in dem sich Kinder bis zum Ende des Termins aufhalten können.
Probleme bei der Sicherung des Sorgerechts
Ein weiteres großes Problem für alleinerziehende Mütter ist die Sicherung des Sorgerechts für ihre Kinder. Denn wesentliche Personenstandsverfahren wurden in den Herkunftsländern oftmals nicht durchgeführt und Dokumente wie Familienbücher, Scheidungsurkunden, Sterbeurkunden oder Sorgerechtsentscheidungen haben sie entweder gar nicht erst erhalten, oder diese wurden auf der Flucht beschlagnahmt, gestohlen oder gingen verloren.
Keine der Frauen, mit denen RSA sprachen, war über die Sorgerechtsverfahren oder ihr Recht, beim griechischen Staat eine kostenlose Rechtsvertretung zu beantragen, informiert. Der Abzug der IOM aus den Lagern hat schwerwiegende Informationslücken im Bereich Familienrecht hinterlassen.
»Ich weiß, dass ich stark bin, weil ich bisher alles geschafft habe, aber ich hatte kein eigenes Leben und keine Kindheit.«
Kämpferinnen für ein »normales« Leben
Alle Mütter berichten, dass es ihr größter Wunsch ist, ihre Kinder glücklich und sicher zu sehen. Sie wünschen ihnen das »normale Leben«, dass sie selbst nie hatten:
»Ich weiß, dass ich stark bin, weil ich bisher alles geschafft habe, aber ich hatte kein eigenes Leben und keine Kindheit. Ich wünsche mir für meine Tochter, dass sie alles hat, was ich nicht haben konnte, und dass sie ein glückliches und aktives Mitglied der Gesellschaft wird. Sie ist mein Ein und Alles. Ich wünsche mir, dass wir eines Tages Asyl erhalten und unsere Papiere bekommen, ein sicheres Zuhause außerhalb des Lagers, ein normales Leben. Ich möchte die griechische Sprache lernen und arbeiten können. Ich möchte, dass meine Tochter glücklich in der Schule ist. Ich möchte, dass die griechische Gesellschaft uns als Menschen sieht, und ich wünsche mir, dass die Griechen meine Tochter so sehen, wie sie ihre Kinder sehen.«
Palvasha* (34), Asylsuchende, Mutter einer siebenjährigen Tochter in Griechenland und zwei weitere Kindern, die während ihrer Reise nach Europa von ihr getrennt wurden
»Alles, wofür eine Frau beten würde, um es zu vermeiden, ist mir widerfahren. Aber ich bin stolz darauf, dass ich nicht vor dem Taliban-Regime kapituliert und meine beiden Jungen in Sicherheit gebracht habe. Jedes Mal, wenn ich gefallen bin, bin ich wieder aufgestanden. Aber was mir widerfahren ist, hat seine Spuren hinterlassen. Ich fühle mich nicht gut, ich vergesse viel, bin oft deprimiert und leide unter Kopfschmerzen.«
Marzia* (38), Asylsuchende, Mutter von zwei Söhnen im Alter von 16 und 6 Jahren und eine Tochter, die vermisst wird
Der Bericht unserer Partnerorganisation Refugee Support Aegean ist hier abrufbar (Englisch).
(RSA/hk)
*2021 wurde das Land Türkei in Griechenland pauschal für alle schutzsuchenden Menschen aus Afghanistan, Syrien, Somalia, Pakistan und Bangladesch für »sicher« erklärt. Seither werden Asylanträge von Menschen aus diesen Ländern systematisch als unzulässig abgelehnt. Sie erhalten nicht den Schutz, der ihnen zusteht, sondern bleiben in einer ewigen Limbo-Situation. Denn die angedrohte Abschiebung in die Türkei kann seit 2020 nicht mehr durchgesetzt werden, da die Türkei die Rückübernahme verweigert. Durch Widerspruch und Folgeantragstellung ist es zum Teil dennoch möglich, sich mit einem langwierigen Verfahren die inhaltliche Prüfung des Asylantrags zu erkämpfen.