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Griechische Verhältnisse – bald überall in Europa?
Auf den Ägäis-Inseln ist seit Jahren real, was mit der EU-Asylrechtsverschärfung flächendeckend droht: Haftlager, Schnellverfahren ohne Prüfung der Fluchtgründe und gewaltvolle Zurückweisungen. Ein Bericht unserer Partnerorganisation Refugee Support Aegean (RSA) zur Situation auf den Ägäis-Inseln verrät, auf was wir uns gefasst machen müssen.
Die Bundesregierung plant, in Brüssel einer Asylrechtsverschärfung zuzustimmen, durch die das Asylrecht auf europäischer Ebene faktisch ausgehebelt würde. PRO ASYL hat ausführlich dargestellt, was die Vorhaben im Kern bedeuten werden: In Lagern an den EU-Grenzen sollen Schutzsuchende unter Haftbedingungen massenhaft abgefertigt werden. Dabei geht es nicht um die inhaltliche Prüfung der Fluchtgründe. In erster Linie beschränkt sich das Verfahren auf die Frage, ob ein Asylantrag als unzulässig abgewiesen werden kann oder nicht. Das ist immer dann der Fall, wenn die schutzsuchende Person über einen angeblich »sicheren« Drittstaat in die EU geflohen ist. Parallel sollen die Kriterien, wann ein Staat als sicher gilt, dafür weiter heruntergeschraubt werden.
RSA-Bericht: Was passiert heute in den Strukturen für Geflüchtete auf den Ägäis-Inseln
Wieder ist Griechenland die Blaupause. Seit Jahren wird hier erprobt, was nun zum europäischen Standard werden soll. Ein Grund mehr, einen Blick nach Griechenland zu werfen. Wie sieht es heute in den Flüchtlingslagern auf den Ägäis Inseln aus? Dieser Frage geht Refugee Support Aegean (RSA), die griechische Partnerorganisation von PRO ASYL, in der multimedialen Veröffentlichung »What is happening today in the refugee structures on the Aegean island« nach und liefert einen Überblick über die anhaltenden Probleme in den EU finanzierten Haftlagern auf den Ägäis-Inseln. Das Fazit: Auch über sieben Jahr nach dem Bau des ersten Lagers, nach dem Versprechen »No More Morias«, bleiben es schwarze Löcher für die Menschenrechte.
Der Bericht basiert auf Recherchen von RSA und Erkenntnissen aus der Einzelfallarbeit. Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über die neuen Unterbringungsstrukturen und der Verfahren dort geliefert. Eine detaillierte Darstellung der Situation in Samos, Kos, Leros, Lesbos und Chios findet sich bei RSA.
Aus alt mach neu: Closed Controlled Access Centres (CCAC)
Seit 2015 finden sich auf den Ägäis-Inseln EU finanzierte Unterbringungslager. In diesen »Hotspots« sollten Schutzsuchende festgesetzt, registriert und einem Screening unterzogen werden. Die in Griechenland unter dem Namen »Reception and Identification Centres« (RIC) errichteten Strukturen entfalteten mit dem EU Türkei Deal ab März 2016 ihre volle Wirkung: Zehntausende Schutzsuchende wurden auf den Inseln festgesetzt, die Lager waren maßlos überbelegt, die Infrastruktur brach faktisch zusammen. Das Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos wurde zum Fanal einer gescheiterten EU-Asylpolitik. Immer wieder dokumentierten PRO ASYL und RSA die unhaltbaren Zustände, unter denen Schutzsuchende hier ihrem Verfahren unterzogen wurden.
Nach dem Brand von Moria im September 2020 sollte sich das ändern. Die EU Kommission gab das Versprechen »No More Morias« ab. Damit gemeint waren bessere Unterbringungsbedingungen und eine wirkliche Berücksichtigung der Bedürfnisse der Schutzsuchenden. In enger Kooperation zwischen EU und Griechenland wurden die Lager schrittweise umstrukturiert bzw. neu gebaut. Insgesamt sicherte die EU Kommission dafür 276 Millionen Euro zu, um sogenannte »Multi-Purpose Reception and Identification Centres (MPRIC)« zu errichten. In Griechenland entstanden daraus Closed Controlled Access Centres (CCAC) – »Geschlossene Zentren mit kontrolliertem Zugang«. Diese beinhalten unterschiedliche Bereiche, etwa zur Identifikation und Registrierung, zur Unterbringung, aber auch integrierte Abschiebungshaftbereiche. Während rechtliche Hindernisse und der Protest der Bevölkerung auf Lesbos und Chios die Neubaumaßnahmen verzögern, sind die neugebauten Haftlager auf Samos, Leros und Kos bereits Realität – zu 100% finanziert durch die EU. Die Zustände sind von Standort zu Standort unterschiedlich, dennoch lassen sich einige Punkte zusammenfassend feststellen.
Wer das Lager verlässt, muss sich bei jeder Rückkehr strengen Sicherheitskontrollen unterziehen – auch Schulkinder. Dabei werden Fingerabdrücke genommen, das Gepäck durchsucht und der Körper abgetastet.
Samos, Leros, Kos – Haftlager finanziert durch die EU
Die bis zu 15 km von den urbanen Zentren der Inseln entfernten CCACs muten an wie Hochsicherheitsgefängnisse: Sie sind umgeben von gleich zwei mit Stacheldraht gesäumten Sicherheitszäunen und werden rund um die Uhr überwacht. Erst nach Ausstellung eines Registrierungsdokuments für Asylsuchende ist es theoretisch möglich, das Lager zu verlassen. Bis dahin vergehen oftmals mehrere Wochen, in denen die Asylsuchenden faktisch inhaftiert sind. Wer danach das Lager verlässt, muss sich bei jeder Rückkehr strengen Sicherheitskontrollen unterziehen. Dabei werden u.a. Fingerabdrücke genommen, Ausweise kontrolliert, der Körper abgetastet und das Gepäck durchsucht. Besonders für die schulpflichtigen Kinder in den CCACs auf Samos und Leros ist es eine Schikane in ihrem Schulalltag. Das Gefühl der ständigen Überwachung und Kontrolle gehört zum Leben der Schutzsuchenden dazu.
Die Versorgung der Schutzsuchenden in den Lagern ist katastrophal. Viele NGOs, die in der Vergangenheit staatliche Versorgungsaufgaben übernommen hatten, haben die Inseln mittlerweile verlassen, u.a. weil die griechische Regierung ihre Arbeit massiv behindert und durch strenge Auflagen faktisch unmöglich macht. Gleichzeitig hat der griechische Staat eigenes Personal abgebaut. Die Folgen sind verheerend: Grundlegende ärztliche Versorgung ist nur in den Lagern auf Lesbos und Leros gewährleistet. Es mangelt an Übersetzer*innen und Psycholog*innen. Bewohner*innen berichten, dass das ausgegebene Essen ungenießbar und nicht ausreichend ist. Auch auf kranke Menschen und Kleinkinder wird bei der Essensversorgung keine Rücksicht genommen. Selbst an heißem Wasser, Babymilch und Windeln mangelt es vereinzelt. Ein großes Problem ist zudem, dass es nicht ausreichend Schattenplätze gibt, was die Temperaturen im Sommer unerträglich werden lässt. Kurzum: Es mangelt an (fast) allem.
Um in die Stadt zu fahren, Dinge des alltäglichen Bedarfs zu kaufen oder die schlechte Versorgung mit Lebensmitteln auszugleichen, sind die in den Lagern untergebrachten Schutzsuchenden auf finanzielle Unterstützung angewiesen, die ihnen während des Asylverfahrens zusteht. Bei der Auszahlung der Leistungen kommt es jedoch zu teils wochenlangen Verzögerungen, wie Mandant*innen von RSA berichten. In der Zwischenzeit erhalten die Betroffenen keinen Cent. In Fällen, in denen vor der ersten Auszahlung eine Entscheidung über den Asylantrag ergeht, erhalten die Schutzsuchenden die ihnen zustehenden Leistungen nie.
Weiterhin sind anerkannte Flüchtlinge sowie Personen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, von sämtlichen Leistungen ausgeschlossen. Da sie jedoch auf den Inseln festsitzen, wurden sie in den Lagern bisher zumindest mit Essen versorgt. Selbst damit ist auf Lesbos jetzt Schluss, wie RSA jüngst offenlegte: Von einem Tag auf den anderen Tag wurde hier die Lebensmittelversorgung von anerkannten Flüchtlingen und abgelehnten Asylsuchenden eingestellt. Knapp 600 Menschen sind betroffen.
Neues Lager auf Lesbos weiterhin nicht fertig
Trotz der enormen Geschwindigkeit und der 100% Finanzierung durch die EU, ist das Datum für die Eröffnung des neuen CCACs auf Lesbos an Ostern 2023 erneut verstrichen. In der entlegenen Region Vastria soll es sich auf 240 Hektar erstrecken. Unter Hochdruck ging die Planung unmittelbar nach dem Brand im Elendslager Moria los. Das neue Lager, »Moria 3«, sollte bereits im September 2021 stehen.
Bis zur Fertigstellung wurde das Lager Kara Tepes in Mavrovouni, etwa 5km vom Zentrum von Mytilini auf Lesbos, zum CCAC umfunktioniert. Es befindet sich auf einem früheren Truppenübungsplatz nahe am Meer und ist damit den Witterungsbedingungen besonders ausgesetzt. Weiterhin lässt die Infrastruktur des Lagers mit einer Kapazität von 8000 Menschen zu wünschen übrig. Regelmäßige Ausfälle des warmen Wassers und der Elektrizität, sowie fehlende Produkte wie Babymilch und Bettzeug sowie die schlechte Qualität des Essens bestimmen den Alltag.
Faire Asylverfahren? Fehlanzeige!
Von fairen Asylverfahren unter rechtsstaatlichen Bedingungen kann auf den Inseln keine Rede sein. Eine rechtliche Beratung der ankommenden Schutzsuchenden findet in aller Regel nicht statt. Beratungsangebote von NGOs wurden eingestampft, ihr Rückzug macht sich dramatisch bemerkbar. Um weitere Hilfsangebote außerhalb der Lager zu erreichen, ist die eingeschränkte Mobilität ein großes Hindernis. Das alles führt dazu, dass ein Großteil der Schutzsuchenden ohne Unterstützung ihr Verfahren durchlaufen.
Dabei sind die Probleme in den Verfahren auch so schon gravierend. Beispiel Vulnerabilitäts-Screening: Dabei geht es darum, vor Beginn des Asylverfahrens Schutzsuchende zu identifizieren, die besondere Bedürfnisse haben und während des Asylverfahrens auf Unterstützung angewiesen sind. Dazu gehören bspw. Folteropfer, Menschen mit schweren (psychischen) Erkrankungen, aber auch Alleinerziehende mit ihren Kindern. Auf den Inseln kommt es bei diesem Screening systematisch zu weitreichenden Verzögerungen – zusätzlich verstärkt durch den Mangel an medizinischem und psychologischem Personal. In der Folge wird auch bei besonders schutzbedürftigen Menschen das Asylverfahren ohne Berücksichtigung der besonderen Vulnerabilität und sich daraus ergebender Verfahrens- und Unterbringungsansprüche durchgeführt. Ein weiterer Bruch der Qualitätsstandards europäischer Asylverfahren.
Viele Schutzsuchende sind zudem von einer inhaltlichen Prüfung ihrer Asylgründe ausgeschlossen. Durch eine Ministerialentscheidung von 2021 wurde die Türkei pauschal für alle schutzsuchenden Menschen aus Afghanistan, Syrien, Somalia, Pakistan und Bangladesch für »sicher« erklärt. Ihre Asylanträge werden systematisch als unzulässig abgelehnt. Das hat gravierende Folgen: Sie erhalten nicht den Schutz, der ihnen zusteht, sondern bleiben in einer ewigen Limbo-Situation. Denn, die angedrohte Abschiebung in die Türkei kann seit 2020 nicht mehr durchgesetzt werden, da die Türkei die Rückübernahme verweigert. Dennoch geht die Praxis weiter, die griechischen Behörden lehnen die Asylanträge von Personen aus den fünf Nationen als unzulässig ab. Und mehr noch: Regelmäßig werden sie in Abschiebehaft genommen, ohne dass eine Abschiebung in die Türkei möglich wäre. Mit EU-Verfahrensrecht haben die Zulässigkeitsverfahren seit langem nicht mehr viel gemein.
Schließlich erhalten selbst Schutzsuchende, die einen Anspruch auf eine inhaltliche Prüfung ihrer Asylgründe haben, oftmals keinen Zugang zum regulären Asylverfahren. Stattdessen werden sie durch ein beschleunigtes Grenzverfahren gepeitscht, was ähnlich wie das deutsche Flughafenverfahren sehr schnell durchgeführt wird und in dem verkürzte Fristen gelten, um gegen die Ablehnung eines Asylantrags vorzugehen. Die Folge: Unfaire und mangelhafte Asylprüfungen.
Systematische Pushbacks bleiben an der Tagesordnung
Zwar steigen seit 2022 die Zahlen der Ankünfte auf den griechischen Ägäis-Inseln wieder. 2022 wurden knapp 13.000 Ankünfte auf den Ägäis-Inseln registriert, während es 2021 lediglich über 4.000 waren. Noch 2019 kamen allerdings knapp 60.000 Schutzsuchende auf den Ägäis-Inseln an. Im Vergleich zu den Ankunftszahlen vor der Pandemie und in Relation zu der allgemeinen Fluchtbewegung bleiben die Ankunftszahlen damit gering, ein Erfolg für die rechts-konservative Nea Dimokratia und Regierungschef Mitsotakis, der in den Parlamentswahlen die meisten Stimmen auf sich vereinen konnte und nach der gescheiterten Regierungsbildung nun als Favorit in die Neuwahlen am 25.06 geht.
Das ist in erster Linie auf unrechtmäßige Zurückweisungen, häufig unter Anwendung unmittelbarer Gewalt, zurückzuführen. Sie haben sich als zentralerer Bestandteil der Abwehrstrategie an der griechischen EU Außengrenze etabliert. Zahlreiche Berichte von NGOs, Journalist*innen und Gerichtsverfahren belegen die rechtswidrige Praxis der griechischen Küstenwache, zu der die griechische Regierung weiterhin schweigt und aus denen auch die EU keine Konsequenzen zieht.
Das Beispiel Griechenland zeigt den Riss, der bereits in der Wahrung der Grund- und Menschenreche von Geflüchteten in der EU klafft. Dieser Riss wird mit den neuen Plänen der EU nicht zugeschüttet, sondern vertieft.
Nun erhöht neues Videomaterial, dass im Mai 2023 von der New York Times veröffentlicht wurde und die griechische Küstenwache während eines Pushbacks von 12 Schutzsuchenden im April 2023 zeigt, den Druck. Griechenland hält weiterhin an der Strategie fest, sich nicht zu den Anschuldigungen zu äußern. EU Innenkommissarin Johansson gab bekannt, die griechische Regierung aufgefordert zu haben, den Vorfall komplett und unabhängig aufzuklären.
Die EU braucht eine Kehrtwende in der Asylpolitik!
Der »Hotspot-Ansatz« und die Missachtung der Grundrechte von Schutzsuchenden können nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Die Herabstufung von Schutzsuchenden, die hier passiert, bildet den Nährboden für unmittelbare Gewalt und Pushbacks an den Außengrenzen. Das hat auch Konsequenzen für das soziale Gefüge in den Aufnahmegesellschaften. Die Missachtung der Rechtsstaatlichkeit sowie Stacheldraht und Mauern entfalten auch hier ihre Sprengkraft. Das griechische Beispiel zeigt seit Jahren deutlich, dass es eine Stärkung dezentraler Formen der Aufnahme in kleinen, offenen Strukturen braucht.
Der »New Pact«, der wenige Tage nach dem Brand in Moria auf Lesbos vorgestellt wurde, bringt nicht die versprochene Wende der europäischen Asylpolitik. Das Beispiel Griechenland zeigt den Riss, der bereits in der Wahrung der Grund- und Menschenreche von Geflüchteten in der EU klafft. Dieser Riss wird mit den neuen Plänen der EU nicht zugeschüttet, sondern vertieft.
(mz / ame / rsa)