News
»Wenn die Behörden Rettungsmaßnahmen ergriffen hätten, wären die Menschen noch am Leben«
Seit dem Schiffsunglück von Pylos mit mehr als 600 Toten ist bei unserer griechischen Partnerorganisation »Refugee Support Aegean« (RSA) vieles anders. Natassa Strachini von RSA erklärt, wie die Kolleg*innen vor Ort Überlebende und Hinterbliebene unterstützen und an ihrer Seite für die Aufklärung des Unglücks kämpfen.
Natassa, ihr habt für 20 Überlebende des Schiffsunglücks vor Pylos die rechtliche Vertretung übernommen. Im September habt ihr im Namen von Überlebenden Strafanzeige gegen die Küstenwache eingereicht. Kannst du beschreiben, wie es dazu gekommen ist?
Wir sind wenige Tage nach dem Schiffsunglück mit einem Team an Rechtsanwält*innen in das geschlossene Lager gefahren, in dem die Überlebenden zu diesem Zeitpunkt alle eingesperrt waren. Die Situation dort war dramatisch: Die Menschen, die wir trafen, hatten wenige Tage zuvor nur knapp ein Schiffsunglück überlebt, bei dem mehr als 600 Menschen ertrunken sind. Es ist unbeschreiblich, was sie erlebt haben. Viele haben Angehörige und Freund*innen verloren und konnten sie nicht retten. Sie haben den Todeskampf der Menschen miterlebt, die Schreie aus dem Schiff gehört. Manche sind stundenlang zwischen all den Leichen im Wasser getrieben, bevor sie gerettet wurden. Viele haben sich gewünscht, selbst tot zu sein.
Es wäre das Mindeste, dass die Überlebenden einer solchen Katastrophe psychologisch betreut werden, Kontakt zu Angehörigen aufnehmen können und irgendwo untergebracht werden, wo sie zur Ruhe kommen können. Nichts davon ist geschehen: Sie wurden von Anfang an von der Außenwelt abgeschirmt, nach ein paar Tagen in einer Lagerhalle, wo sie auf dem Fußboden schlafen mussten, wurden sie in das geschlossene Lager gesperrt. Auch Verwandte durften nicht zu ihnen, die Handys wurden ihnen abgenommen. Psychologische Betreuung wurde ihnen von Seiten der griechischen Behörden zu keinem Zeitpunkt angeboten. Es wurde ihnen auch nie erklärt, wie es mit ihnen weitergeht und was für Rechte sie haben. Stattdessen sollten sie schon wenige Tage nach der Katastrophe bei der Asylbehörde zu ihrem Asylverfahren und ihren Fluchtgründen befragt werden. Zu einem Zeitpunkt, als alle noch völlig unter Schock standen.
Wie ging es weiter? Was habt ihr unternommen?
Wir haben zunächst beantragt, dass die Überlebenden menschenwürdig untergebracht werden, medizinische und psychologische Unterstützung erhalten und ihnen die notwendige Zeit gegeben wird, um sich auf das Asylverfahren vorzubereiten. Nach der Registrierung ihrer Asylanträge wurden sie in ein offenes Lager in Malakasa in der Nähe von Athen verlegt. Die Überlebenden, die noch in Griechenland sind, leben bis heute dort. Es ist wirklich kein schöner Ort. Die Leute hausen in Containern und werden mit Essen versorgt, mehr nicht. Aber andere Unterkünfte, in denen Asylsuchende mit besonderen Bedürfnissen untergebracht werden – also zum Beispiel schwangere Frauen, Menschen mit Behinderungen oder schweren Traumatisierungen – gibt es in Griechenland nicht mehr. Die letzten wurden vor fast einem Jahr geschlossen.
»Wir haben zunächst beantragt, dass die Überlebenden menschenwürdig untergebracht werden, medizinische und psychologische Unterstützung erhalten und ihnen die notwendige Zeit gegeben wird, um sich auf das Asylverfahren vorzubereiten.«
Wir leisten deshalb von Anfang an auch ganz viel humanitäre Unterstützung für die Überlebenden, die wir rechtlich vertreten: Wir zahlen zum Beispiel Fahrtkosten, damit sie aus dem Lager raus kommen und nach Athen fahren können. Wir geben ihnen Gutscheine für den Supermarkt und ein monatliches Handgeld. Unsere Sozialarbeiterin unterstützt sie bei der medizinischen und psychologischen Versorgung. Wenn sie einen Termin bei einer Ärztin oder einer Behörde haben, unterstützen unsere Übersetzer*innen für sie, weil sie ansonsten niemanden haben. Letztlich versuchen wir, alle essentiellen Bedürfnisse der Überlebenden abzudecken. Das ist natürlich sehr zeit- und kostenintensiv, aber aus unserer Sicht unbedingt notwendig.
Ihr habt auch die Vertretung im Asylverfahren übernommen. Was heißt das genau? Was macht ihr da konkret für die Überlebenden?
Zunächst haben wir uns darum gekümmert, dass die kurzfristig angesetzten Anhörungen zu ihren Fluchtgründen nach hinten verschoben werden, damit sie mental in der Lage sind, diese Anhörung auch durchzustehen, und wir sie darauf vorbereiten können. Im nächsten Schritt ging es darum, den Überlebenden ganz grundlegende Informationen zum Asylverfahren in Griechenland und zu ihren rechtlichen Möglichkeiten an die Hand zu geben: Wie läuft das Asylverfahren ab? Wie sind ihre Aussichten? Gibt es die Möglichkeit, zu Verwandten in andere europäische Länder zu kommen?
Wie ist denn der aktuelle Stand? Gibt es schon Entscheidungen über Asylanträge? Habt ihr etwas erreichen können?
Ein großer Erfolg war, dass wir es zusammen mit PRO ASYL geschafft haben, dass mehrere Überlebende zu ihren Familienangehörigen nach Deutschland reisen konnten und ihr Asylverfahren nun in Deutschland durchgeführt wird. Für die Überlebenden war das von unschätzbarem Wert. Was das Asylverfahren in Griechenland angeht, kommt es darauf an, aus welchem Herkunftsland die Überlebenden kommen. Die Syrer wurden inzwischen alle als Flüchtlinge anerkannt, da gibt es keine Probleme. Aber wir vertreten auch Überlebende aus Pakistan und Ägypten. Ihre Aussichten im Asylverfahren sind deutlich schlechter, bei ihnen gibt es noch keine Entscheidung der Asylbehörde.
Im September habt ihr euch mit anderen Organisationen zusammengeschlossen und im Namen von insgesamt 40 Überlebenden Strafanzeige gegen die Küstenwache gestellt. Was wollt ihr damit erreichen?
Dass die Umstände dieser Katastrophe lückenlos aufgeklärt werden und all jene, die für den Tod von mehr als 600 Menschen verantwortlich sind, dafür zur Rechenschaft gezogen werden! Wenn die griechischen Behörden rechtzeitig angemessene Rettungsmaßnahmen ergriffen hätten, wären diese Menschen noch am Leben. Wir haben in den letzten Jahren mehrfach Überlebende von Schiffsunglücken vertreten, bei denen die Küstenwache für den Tod von Schutzsuchenden verantwortlich war. Noch nie wurde dafür jemand aus den Reihen der Küstenwache verurteilt. Meist werden solche Fälle geschlossen, noch bevor es zu einer Gerichtsverhandlung kommt. Stattdessen werden in aller Regel einzelne Geflüchtete, die an Bord waren, als angebliche »Schlepper« kriminalisiert und in unfairen Prozessen zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt.
Letztes Jahr haben wir erreicht, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg fast acht Jahre nach einem Schiffsunglück Griechenland verurteilt hat. Bei dem Unglück im Jahr 2014 waren drei Frauen und acht Kinder im Schlepptau der Küstenwache vor der Insel Farmakonisi ertrunken. Das war ein wegweisendes Urteil, bei dem der Gerichtshof nicht nur festgestellt hat, dass die Küstenwache die Menschen nicht gerettet hat. Sondern auch, dass die Aufklärung des Vorfalls durch die griechische Justiz vollkommen mangelhaft war. Es kann deshalb gut sein, dass wir auch im Fall des Schiffsunglücks von Pylos bis vor den EGMR ziehen müssen. In jedem Fall wird es ein langwieriges Verfahren. Wir werden unter anderem Satellitenbilder und Metadaten von Handys auswerten, Zeugenaussagen visualisieren und Gutachten bei mehreren Sachverständigen in Auftrag geben müssen.
Ihr steht auch in Kontakt mit Menschen, die Angehörige auf dem Schiff hatten, die immer noch vermisst werden. Welche Unterstützung könnt ihr ihnen anbieten?
Wir unterstützen Familien dabei, mit Hilfe von DNA-Tests zu klären, ob ihre Angehörigen unter den Toten sind, die geborgen wurden. Von den hunderten Menschen, die ertrunken sind, wurden ja nur 84 Leichen geborgen. Die restlichen Menschen sind mit dem Schiff untergegangen. Für die Familien ist es jedoch enorm wichtig, Gewissheit darüber zu haben, was mit ihren Liebsten geschehen ist. Erst dann können sie trauern. Zum Beispiel konnte einer der Überlebenden, der von uns vertreten wird, seinen Bruder mit unserer Hilfe identifizieren und in Griechenland beerdigen. Das klingt vielleicht zynisch, aber das war ein positives Ergebnis, da die Familie nun Gewissheit hat.
Die Angehörigen von hunderten anderen Familien gelten weiterhin als vermisst. Bei uns haben sich so viele Menschen auf der Suche nach ihren Angehörigen gemeldet, dass wir ein Informationsblatt für sie erstellt haben, in dem wir die wichtigsten Informationen zur Suche nach Vermissten zusammengefasst haben. Und im Juli haben wir im Namen von Angehörigen bei der zuständigen Staatsanwaltschaft beantragt, dass das Schiff und die Leichen vom Meeresgrund geborgen werden. Bis heute hat uns keine Behörde mitgeteilt, dass es zumindest versucht wurde.
Wie ist die Situation der Überlebenden vier Monate nach der Katastrophe? Wie geht es ihnen?
Alle Überlebenden wollen so schnell wie möglich raus aus Griechenland. Sie misstrauen dem griechischen Staat und den Behörden aus nachvollziehbaren Gründen zutiefst. Wer die Möglichkeit hat, reist daher weiter zu Verwandten in andere europäische Länder. Wir halten den Kontakt zu ihnen und haben sie mit Partnerorganisationen in Verbindung gesetzt, die sie vor Ort unterstützen. Vor allem für die Überlebenden aus Pakistan und Ägypten gibt es aktuell keine Möglichkeit der Weiterreise, sie hängen in Griechenland fest. Sie beteiligen sich bisher auch nur vereinzelt an der Strafanzeige gegen die Küstenwache, weil sie sich nicht sicher fühlen und Angst haben, dass die Strafanzeige negative Konsequenzen für sie hat.