10.11.2023
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In der Nacht auf den 14. Juni sinkt das Flüchtlingsboot Adriana mit über 750 Menschen an Bord, rund 50km vom griechischen Küstenort Pylos entfernt. Foto: pixabay

Seit dem Schiffsunglück von Pylos mit mehr als 600 Toten ist bei unserer griechischen Partnerorganisation »Refugee Support Aegean« (RSA) vieles anders. Natassa Strachini von RSA erklärt, wie die Kolleg*innen vor Ort Überlebende und Hinterbliebene unterstützen und an ihrer Seite für die Aufklärung des Unglücks kämpfen.

Natas­sa, ihr habt für 20 Über­le­ben­de des Schiffs­un­glücks vor Pylos die recht­li­che Ver­tre­tung über­nom­men. Im Sep­tem­ber habt ihr im Namen von Über­le­ben­den Straf­an­zei­ge gegen die Küs­ten­wa­che ein­ge­reicht. Kannst du beschrei­ben, wie es dazu gekom­men ist?

Wir sind weni­ge Tage nach dem Schiffs­un­glück mit einem Team an Rechtsanwält*innen in das geschlos­se­ne Lager gefah­ren, in dem die Über­le­ben­den zu die­sem Zeit­punkt alle ein­ge­sperrt waren. Die Situa­ti­on dort war dra­ma­tisch: Die Men­schen, die wir tra­fen, hat­ten weni­ge Tage zuvor nur knapp ein Schiffs­un­glück über­lebt, bei dem mehr als 600 Men­schen ertrun­ken sind. Es ist unbe­schreib­lich, was sie erlebt haben. Vie­le haben Ange­hö­ri­ge und Freund*innen ver­lo­ren und konn­ten sie nicht ret­ten. Sie haben den Todes­kampf der Men­schen mit­er­lebt, die Schreie aus dem Schiff gehört. Man­che sind stun­den­lang zwi­schen all den Lei­chen im Was­ser getrie­ben, bevor sie geret­tet wur­den. Vie­le haben sich gewünscht, selbst tot zu sein.

Es wäre das Min­des­te, dass die Über­le­ben­den einer sol­chen Kata­stro­phe psy­cho­lo­gisch betreut wer­den, Kon­takt zu Ange­hö­ri­gen auf­neh­men kön­nen und irgend­wo unter­ge­bracht wer­den, wo sie zur Ruhe kom­men kön­nen. Nichts davon ist gesche­hen: Sie wur­den von Anfang an von der Außen­welt abge­schirmt, nach ein paar Tagen in einer Lager­hal­le, wo sie auf dem Fuß­bo­den schla­fen muss­ten, wur­den sie in das geschlos­se­ne Lager gesperrt. Auch Ver­wand­te durf­ten nicht zu ihnen, die Han­dys wur­den ihnen abge­nom­men. Psy­cho­lo­gi­sche Betreu­ung wur­de ihnen von Sei­ten der grie­chi­schen Behör­den zu kei­nem Zeit­punkt ange­bo­ten. Es wur­de ihnen auch nie erklärt, wie es mit ihnen wei­ter­geht und was für Rech­te sie haben. Statt­des­sen soll­ten sie schon weni­ge Tage nach der Kata­stro­phe bei der Asyl­be­hör­de zu ihrem Asyl­ver­fah­ren und ihren Flucht­grün­den befragt wer­den. Zu einem Zeit­punkt, als alle noch völ­lig unter Schock standen.

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Wie ging es wei­ter? Was habt ihr unternommen?

Wir haben zunächst bean­tragt, dass die Über­le­ben­den men­schen­wür­dig unter­ge­bracht wer­den, medi­zi­ni­sche und psy­cho­lo­gi­sche Unter­stüt­zung erhal­ten und ihnen die not­wen­di­ge Zeit gege­ben wird, um sich auf das Asyl­ver­fah­ren vor­zu­be­rei­ten. Nach der Regis­trie­rung ihrer Asyl­an­trä­ge wur­den sie in ein offe­nes Lager in Mala­ka­sa in der Nähe von Athen ver­legt. Die Über­le­ben­den, die noch in Grie­chen­land sind, leben bis heu­te dort. Es ist wirk­lich kein schö­ner Ort. Die Leu­te hau­sen in Con­tai­nern und wer­den mit Essen ver­sorgt, mehr nicht. Aber ande­re Unter­künf­te, in denen Asyl­su­chen­de mit beson­de­ren Bedürf­nis­sen unter­ge­bracht wer­den – also zum Bei­spiel schwan­ge­re Frau­en, Men­schen mit Behin­de­run­gen oder schwe­ren Trau­ma­ti­sie­run­gen – gibt es in Grie­chen­land nicht mehr. Die letz­ten wur­den vor fast einem Jahr geschlos­sen.

»Wir haben zunächst bean­tragt, dass die Über­le­ben­den men­schen­wür­dig unter­ge­bracht wer­den, medi­zi­ni­sche und psy­cho­lo­gi­sche Unter­stüt­zung erhal­ten und ihnen die not­wen­di­ge Zeit gege­ben wird, um sich auf das Asyl­ver­fah­ren vorzubereiten.«

Natas­sa Strach­i­ni, RSA

Wir leis­ten des­halb von Anfang an auch ganz viel huma­ni­tä­re Unter­stüt­zung für die Über­le­ben­den, die wir recht­lich ver­tre­ten: Wir zah­len zum Bei­spiel Fahrt­kos­ten, damit sie aus dem Lager raus kom­men und nach Athen fah­ren kön­nen. Wir geben ihnen Gut­schei­ne für den Super­markt und ein monat­li­ches Hand­geld. Unse­re Sozi­al­ar­bei­te­rin unter­stützt sie bei der medi­zi­ni­schen und psy­cho­lo­gi­schen Ver­sor­gung. Wenn sie einen Ter­min bei einer Ärz­tin oder einer Behör­de haben, unter­stüt­zen unse­re Übersetzer*innen für sie, weil sie ansons­ten nie­man­den haben. Letzt­lich ver­su­chen wir, alle essen­ti­el­len Bedürf­nis­se der Über­le­ben­den abzu­de­cken. Das ist natür­lich sehr zeit- und kos­ten­in­ten­siv, aber aus unse­rer Sicht unbe­dingt notwendig.

Ihr habt auch die Ver­tre­tung im Asyl­ver­fah­ren über­nom­men. Was heißt das genau? Was macht ihr da kon­kret für die Überlebenden?

Zunächst haben wir uns dar­um geküm­mert, dass die kurz­fris­tig ange­setz­ten Anhö­run­gen zu ihren Flucht­grün­den nach hin­ten ver­scho­ben wer­den, damit sie men­tal in der Lage sind, die­se Anhö­rung auch durch­zu­ste­hen, und wir sie dar­auf vor­be­rei­ten kön­nen. Im nächs­ten Schritt ging es dar­um, den Über­le­ben­den ganz grund­le­gen­de Infor­ma­tio­nen zum Asyl­ver­fah­ren in Grie­chen­land und zu ihren recht­li­chen Mög­lich­kei­ten an die Hand zu geben: Wie läuft das Asyl­ver­fah­ren ab? Wie sind ihre Aus­sich­ten? Gibt es die Mög­lich­keit, zu Ver­wand­ten in ande­re euro­päi­sche Län­der zu kommen?

Wie ist denn der aktu­el­le Stand? Gibt es schon Ent­schei­dun­gen über Asyl­an­trä­ge? Habt ihr etwas errei­chen können?

Ein gro­ßer Erfolg war, dass wir es zusam­men mit PRO ASYL geschafft haben, dass meh­re­re Über­le­ben­de zu ihren Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen nach Deutsch­land rei­sen konn­ten und ihr Asyl­ver­fah­ren nun in Deutsch­land durch­ge­führt wird. Für die Über­le­ben­den war das von unschätz­ba­rem Wert. Was das Asyl­ver­fah­ren in Grie­chen­land angeht, kommt es dar­auf an, aus wel­chem Her­kunfts­land die Über­le­ben­den kom­men. Die Syrer wur­den inzwi­schen alle als Flücht­lin­ge aner­kannt, da gibt es kei­ne Pro­ble­me. Aber wir ver­tre­ten auch Über­le­ben­de aus Paki­stan und Ägyp­ten. Ihre Aus­sich­ten im Asyl­ver­fah­ren sind deut­lich schlech­ter, bei ihnen gibt es noch kei­ne Ent­schei­dung der Asylbehörde.

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Im Sep­tem­ber habt ihr euch mit ande­ren Orga­ni­sa­tio­nen zusam­men­ge­schlos­sen und im Namen von ins­ge­samt 40 Über­le­ben­den Straf­an­zei­ge gegen die Küs­ten­wa­che gestellt. Was wollt ihr damit erreichen?

Dass die Umstän­de die­ser Kata­stro­phe lücken­los auf­ge­klärt wer­den und all jene, die für den Tod von mehr als 600 Men­schen ver­ant­wort­lich sind, dafür zur Rechen­schaft gezo­gen wer­den! Wenn die grie­chi­schen Behör­den recht­zei­tig ange­mes­se­ne Ret­tungs­maß­nah­men ergrif­fen hät­ten, wären die­se Men­schen noch am Leben. Wir haben in den letz­ten Jah­ren mehr­fach Über­le­ben­de von Schiffs­un­glü­cken ver­tre­ten, bei denen die Küs­ten­wa­che für den Tod von Schutz­su­chen­den ver­ant­wort­lich war. Noch nie wur­de dafür jemand aus den Rei­hen der Küs­ten­wa­che ver­ur­teilt. Meist wer­den sol­che Fäl­le geschlos­sen, noch bevor es zu einer Gerichts­ver­hand­lung kommt. Statt­des­sen wer­den in aller Regel ein­zel­ne Geflüch­te­te, die an Bord waren, als angeb­li­che »Schlep­per« kri­mi­na­li­siert und in unfai­ren Pro­zes­sen zu jah­re­lan­gen Haft­stra­fen ver­ur­teilt.

Letz­tes Jahr haben wir erreicht, dass der Euro­päi­sche Gerichts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR) in Straß­burg fast acht Jah­re nach einem Schiffs­un­glück Grie­chen­land ver­ur­teilt hat. Bei dem Unglück im Jahr 2014 waren drei Frau­en und acht Kin­der im Schlepp­tau der Küs­ten­wa­che vor der Insel Farm­a­ko­ni­si ertrun­ken. Das war ein weg­wei­sen­des Urteil, bei dem der Gerichts­hof nicht nur fest­ge­stellt hat, dass die Küs­ten­wa­che die Men­schen nicht geret­tet hat. Son­dern auch, dass die Auf­klä­rung des Vor­falls durch die grie­chi­sche Jus­tiz voll­kom­men man­gel­haft war. Es kann des­halb gut sein, dass wir auch im Fall des Schiffs­un­glücks von Pylos bis vor den EGMR zie­hen müs­sen. In jedem Fall wird es ein lang­wie­ri­ges Ver­fah­ren. Wir wer­den unter ande­rem Satel­li­ten­bil­der und Meta­da­ten von Han­dys aus­wer­ten, Zeu­gen­aus­sa­gen visua­li­sie­ren und Gut­ach­ten bei meh­re­ren Sach­ver­stän­di­gen in Auf­trag geben müssen.

Ihr steht auch in Kon­takt mit Men­schen, die Ange­hö­ri­ge auf dem Schiff hat­ten, die immer noch ver­misst wer­den. Wel­che Unter­stüt­zung könnt ihr ihnen anbieten?

Wir unter­stüt­zen Fami­li­en dabei, mit Hil­fe von DNA-Tests zu klä­ren, ob ihre Ange­hö­ri­gen unter den Toten sind, die gebor­gen wur­den. Von den hun­der­ten Men­schen, die ertrun­ken sind, wur­den ja nur 84 Lei­chen gebor­gen. Die rest­li­chen Men­schen sind mit dem Schiff unter­ge­gan­gen. Für die Fami­li­en ist es jedoch enorm wich­tig, Gewiss­heit dar­über zu haben, was mit ihren Liebs­ten gesche­hen ist. Erst dann kön­nen sie trau­ern. Zum Bei­spiel konn­te einer der Über­le­ben­den, der von uns ver­tre­ten wird, sei­nen Bru­der mit unse­rer Hil­fe iden­ti­fi­zie­ren und in Grie­chen­land beer­di­gen. Das klingt viel­leicht zynisch, aber das war ein posi­ti­ves Ergeb­nis, da die Fami­lie nun Gewiss­heit hat.

Die Ange­hö­ri­gen von hun­der­ten ande­ren Fami­li­en gel­ten wei­ter­hin als ver­misst. Bei uns haben sich so vie­le Men­schen auf der Suche nach ihren Ange­hö­ri­gen gemel­det, dass wir ein Infor­ma­ti­ons­blatt für sie erstellt haben, in dem wir die wich­tigs­ten Infor­ma­tio­nen zur Suche nach Ver­miss­ten zusam­men­ge­fasst haben. Und im Juli haben wir im Namen von Ange­hö­ri­gen bei der zustän­di­gen Staats­an­walt­schaft bean­tragt, dass das Schiff und die Lei­chen vom Mee­res­grund gebor­gen wer­den. Bis heu­te hat uns kei­ne Behör­de mit­ge­teilt, dass es zumin­dest ver­sucht wurde.

Wie ist die Situa­ti­on der Über­le­ben­den vier Mona­te nach der Kata­stro­phe? Wie geht es ihnen?

Alle Über­le­ben­den wol­len so schnell wie mög­lich raus aus Grie­chen­land. Sie miss­trau­en dem grie­chi­schen Staat und den Behör­den aus nach­voll­zieh­ba­ren Grün­den zutiefst. Wer die Mög­lich­keit hat, reist daher wei­ter zu Ver­wand­ten in ande­re euro­päi­sche Län­der. Wir hal­ten den Kon­takt zu ihnen und haben sie mit Part­ner­or­ga­ni­sa­tio­nen in Ver­bin­dung gesetzt, die sie vor Ort unter­stüt­zen. Vor allem für die Über­le­ben­den aus Paki­stan und Ägyp­ten gibt es aktu­ell kei­ne Mög­lich­keit der Wei­ter­rei­se, sie hän­gen in Grie­chen­land fest. Sie betei­li­gen sich bis­her auch nur ver­ein­zelt an der Straf­an­zei­ge gegen die Küs­ten­wa­che, weil sie sich nicht sicher füh­len und Angst haben, dass die Straf­an­zei­ge nega­ti­ve Kon­se­quen­zen für sie hat.

Natas­sa Strach­i­ni ist Rechts­an­wäl­tin und Koor­di­na­to­rin bei Refu­gee Sup­port Aege­an (RSA). Die Orga­ni­sa­ti­on wur­de 2017 von PRO ASYL und sei­nen lang­jäh­ri­gen grie­chi­schen Kooperationspartner*innen gegrün­det und wird von PRO ASYL finan­ziert. Schwer­punkt der Arbeit von RSA ist die recht­li­che Ver­tre­tung von Schutz­su­chen­den in Grie­chen­land und die stra­te­gi­sche Pro­zess­füh­rung vor natio­na­len und inter­na­tio­na­len Gerich­ten. Außer­dem doku­men­tie­ren die Kolleg*innen Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen in Grie­chen­land und berich­ten dar­über. Zum Team gehö­ren neben meh­re­ren Rechtsanwält*innen unter ande­rem auch Sozialarbeiter*innen und Übersetzer*innen. Sie alle arbei­ten von Athen, Les­vos und Chi­os aus, sind jedoch in ganz Grie­chen­land aktiv.

Das Inter­view führ­te Andre­as Mey­er­hö­fer von PRO ASYL.