News
Fehlerhafte BAMF-Entscheidungspraxis geht auf Kosten der Flüchtlinge und überlastet Justiz
Afghanistan-Abschiebungen und die geplante Dublin-IV-Reform sind ab kommendem Montag Thema bei der Konferenz der Innenminister und -senatoren von Bund und Ländern (IMK) in Dresden.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) steht unter politischem Druck, bis zum Sommer vor der Bundestagswahl den Berg unerledigter Verfahren abzubauen. Mangelhaft durchgeführte Asylverfahren ohne faire Prüfung der Fluchtgründe sind die Folge. Es ist davon auszugehen, dass durch die Entscheidungshektik beim BAMF diese Qualitätsmängel in tausenden von Fällen zur Ablehnung geführt haben. Im Jahr 2017 wurden bis Mai rund 146.000 Asylanträge abgelehnt, im gesamten Jahr 2016 waren es rund 174.000.
Zehntausende mit mängelbehafteten Bescheiden abgelehnt
Afghan*innen sind von der Ablehnungswelle besonders betroffen: Allein 2017 wurden bis Mai mehr als 42.000 Asylgesuche abgelehnt. 2016 gab es rund 25.000 negative Bescheide. Die Krux: Sämtliche Afghanistan-Ablehnungen basieren auf veralteten Informationen zur Lage. Zudem wird Schutzsuchenden vorgehalten, es gebe sichere Gebiete, in die sie gehen könnten – seitens des BAMF eine spekulative Vermutung.
Die Länder müssen bei der bevorstehenden IMK gegen die fehlerträchtige Entscheidungshektik des BAMF Position beziehen. Alle abgelehnten Afghanistan-Fälle müssen durch das BAMF revidiert und neu bearbeitet werden.
Sehenden Auges wird hingenommen, dass Gerichte die Arbeit des BAMF korrigieren müssen.
BAMF-Praxis verlagert Arbeit auf Gerichte
Tausende fehlerbehaftete Bescheide und die rigorose Ablehnungspraxis beim BAMF haben zur Folge, dass Gerichte die Entscheidungen des Bundesamtes neu prüfen müssen. Allein im ersten Quartal 2017 gingen bundesweit rund 97.000 Klagen gegen Asylbescheide ein. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2016 waren es 181.600 Klagen.
Justiz überlastet
Sehenden Auges wird hingenommen, dass Gerichte die Arbeit des BAMF korrigieren müssen – eine Aufgabe, für die eigentlich das BAMF zuständig ist und die die Justiz lahmzulegen droht. Die Kosten für teure Richterstellen tragen die Länder. Dazu kommt, dass im Asylrecht qualifizierte Richter*innen Mangelware sind. Mit der Verlagerung der Probleme auf die Justiz und einer Aufstockung der Richterstellen wird das Problem ohnehin nicht zu lösen sein. Es ist Aufgabe des Bundesamtes, sich selbst so zu organisieren, dass Verfolgungsgründe dort festgestellt werden.
Bleiberechtsregelungen sinnvoll
Wer außerdem glaubt, diese Massenablehnungen würden in absehbarer Zeit in Massenabschiebungen gleicher Größenordnung münden, der täuscht sich und verhindert in großem Maße die Integration vieler, die noch über eine längere Zeit in Deutschland leben werden. Nicht ohne Grund gab es in den letzten Jahren in Deutschland immer wieder Bleiberechtsregelungen.
Keine Abschiebungen nach Afghanistan
In Deutschland werden bislang die internationalen Berichte über die Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan nicht zur Kenntnis genommen. UNHCR hat im Dezember 2016 festgestellt, dass sich die Gesamtsicherheitslage seit April 2016 rapide verschlechtert hat.
Zwischen sicheren und unsicheren Regionen könne man »aufgrund der sich ständig ändernden Sicherheitslage« in dem Bürgerkriegsland gar nicht unterscheiden. Gerade die Ausführungen des UNHCR sind nach einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes (vgl. Beschluss vom 12.03.2008 – 2 BvR 378/05) zwingend zu beachten – aber auch weitere aktuelle Erkenntnisquellen.
Drohender Kontrollverlust im Land
Der Afghanistan-Bericht des Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) für den US-Kongress vom 30. April 2017 legt den immer größer werdenden Kontrollverlust der afghanischen Streitkräfte und den wachsenden Einfluss der Taliban offen. Im Vergleich zu Januar 2016 zum Stand vor der Frühjahrsoffensive der Taliban gilt: Aktuell sind 11 Prozent weniger Distrikte unter Regierungskontrolle oder ‑einfluss, 6 Prozent mehr Distrikte umkämpft, und 5 Prozent mehr Distrikte unter Kontrolle oder Einfluss der Aufständischen (gerundete Angaben).
Gewalt steigt an
Der aktuelle Folter-Bericht des afghanischen UNO-Programms UNAMA aus April 2017 belegt, dass exzessive Gewalt auch in den von der Regierung kontrollierten Gebieten herrscht und auch diese Regionen regelmäßig nicht als sicher klassifiziert werden dürfen. Schließlich hat UNAMA Opferzahlen für das erste Quartal 2017 vorgelegt. Demnach gibt es mehr Opfer unter Frauen, Kindern und in Kabul.
Beschluss der Regierung reicht nicht aus
Die vorübergehende Aussetzung von Abschiebungen nach Afghanistan ist angesichts der katastrophalen Lage nicht ausreichend. Der Beschluss der Bundesregierung lässt weiterhin viele Interpretationsspielräume für weitere Abschiebungen. Dehnbar ist zum Beispiel der Begriff der »Ausreisepflichtigen, die hartnäckig ihre Mitwirkung an der Identitätsfeststellung verweigern«. Schutzsuchenden ohne Pass kann das pauschal unterstellt werden.
Der Fall des afghanischen Schülers aus Nürnberg zeigt, wie umstritten die Frage oft ist, ob jemand sich tatsächlich einer Mitwirkungspflicht entzogen hat. Trotz mehrfacher Vorsprache zur Passbeschaffung bei der afghanischen Botschaft wurde dem Betroffenen mangelnde Mitwirkung vorgeworfen. Auch die Begriffe »Straftäter« und »Gefährder« sind in höchstem Maße problematisch und werden zudem höchst unterschiedlich interpretiert. Auch für sie gelten die Menschenrechte.
IMK will Dublin-Überstellungsfristen streichen
Nach einem Bericht des RedaktionsNetzwerks Deutschland wollen die Innenminister ohne jegliche zeitliche Befristung Schutzsuchende in andere EU-Staaten abschieben können. Der den Medien vorliegende Beschlussvorschlag zur Innenministerkonferenz soll dies unterstützen. Der ersatzlose Wegfall der Fristen wird dazu führen, dass Rechtlosigkeit entsteht. Angesichts der eklatanten Menschenrechtsverletzungen in Staaten wie Ungarn und Bulgarien dürfen Überstellungen nicht vollzogen werden.
Wenn die 6‑Monats-Frist für Überstellungen wegfällt und eine Abschiebung in Staaten wie Ungarn, Bulgarien oder Griechenland dennoch scheitert, werden Asylanträge über Monate oder Jahre hinweg in keinem EU-Staat inhaltlich geprüft werden. Die Dublin-Verordnung wird zu einer kompletten Unzuständigkeits-Regelung, die die Integrationsperspektiven von Flüchtlingen zerstört.