05.04.2017
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Kontrollverlust: Die afghanischen Regierungstruppen haben immer weniger Landesteile im Griff. Foto: Erik Marquardt

Die Situation am Hindukusch verbessert sich keineswegs, wie neue Berichte zeigen. Die afghanische Regierung hat nur noch in etwas mehr als der Hälfte des Landes überhaupt die Kontrolle oder maßgeblichen Einfluss. Deutschland rückt trotzdem nicht von Abschiebungen nach Afghanistan ab.

Neue Berich­te oder Zah­len aus Afgha­ni­stan haben in letz­ter Zeit immer eines gemein­sam: Sie zei­gen, dass die Lage im Land immer schlech­ter wird. Nun wur­de der Vier­tel­jah­res­re­port des Spe­cial Inspec­tor Gene­ral for Afgha­ni­stan Recon­s­truc­tion (SIGAR) – einer US-Behör­de, die dem Kon­gress Bericht über den Stand des »Wie­der­auf­baus« erstat­tet – veröffentlicht.

»Die Ana­ly­se von SIGAR […] legt nahe, dass die Sicher­heits­si­tua­ti­on in Afgha­ni­stan sich in die­sem Vier­tel­jahr nicht ver­bes­sert hat. Die Zahl der afgha­ni­schen Sicher­heits­kräf­te wird gerin­ger, wäh­rend […] die Zahl der Distrik­te unter Kon­trol­le oder Ein­fluss der Auf­stän­di­schen zunimmt.«

SIGAR Quar­ter­ly Report (S.65), eige­ne Übersetzung

15 Prozent weniger unter Regierungskontrolle

Im Detail heißt es dar­in, dass von den 407 Distrik­ten Afgha­ni­stans nur noch 20 Pro­zent von der Regie­rung kon­trol­liert und wei­te­re 37 Pro­zent maß­geb­lich von ihr beein­flusst sei­en. Das sind sat­te 15 Pro­zent weni­ger als im Novem­ber 2015! Ein Drit­tel der Distrik­te wird im Bericht als »umkämpft« beschrie­ben, zehn Pro­zent sind gar bereits unter vol­ler Kon­trol­le oder über­wie­gen­dem Ein­fluss von Auf­stän­di­schen. (S.89/90 des Reports).

Mit den »Auf­stän­di­schen« dürf­ten im Wesent­li­chen die Tali­ban gemeint sein, aller­dings ist auch der selbst­er­nann­te »Isla­mi­sche Staat« mit einem Able­ger ver­mehrt in Afgha­ni­stan aktiv, vor allem im Osten des Lan­des. Ins­ge­samt berich­tet SIGAR von 20 ver­schie­de­nen akti­ven »ter­ro­ris­ti­schen Grup­pen« in der Regi­on Afgha­ni­stan-Paki­stan. (S.88 des Reports)

Inter­es­sant dabei: Selbst die­se alar­mie­ren­den Zah­len dürf­ten bereits ver­al­tet sein. Der Bericht stammt ursprüng­lich bereits aus dem Janu­ar und umfasst teil­wei­se noch älte­re Zah­len. In den ver­gan­ge­nen sechs Mona­ten dürf­te die Lage sich wei­ter ver­schlech­tert haben – dafür spricht auch ein von den Tali­ban selbst ver­öf­fent­lich­ter Report, in dem sie zusam­men­fas­sen, in wel­chen Gebie­ten sie nach eige­ner Aus­sa­ge wie­viel Kon­trol­le ausüben.

Die Anga­ben sind selbst­ver­ständ­lich mit viel Vor­sicht zu genie­ßen, den­noch ist die Kar­te, die das »Long War Jour­nal« dar­aus erstellt hat, erschre­ckend – sie zeigt, dass es nur weni­ge Lan­des­tei­le gibt, in denen die Tali­ban kei­ne Prä­senz zeigen.

Nirgends gibt es langfristige Sicherheit

Wäh­rend die Men­schen in den von Tali­ban kon­trol­lier­ten Gebie­ten vor der Wahl ste­hen, ent­we­der zu flie­hen oder sich anzu­pas­sen und unter der Unter­drü­ckung zu leben, lei­den sie in dem Drit­tel des Lan­des, das auch nach offi­zi­el­len Anga­ben als »umkämpft« gilt vor allem unter den stän­di­gen wech­sel­sei­ti­gen Attacken.

Die UN berich­te­te im Jahr 2016 über durch­schnitt­lich 60 »Sicher­heits­vor­fäl­le« jeden ein­zel­nen Tag (S.86 des Reports, inklu­si­ve Erklä­rung, was als secu­ri­ty inci­dent zählt). Und: Es steht zu ver­mu­ten, dass dabei aus den Tali­ban-Gebie­ten kaum Infor­ma­tio­nen über sol­che Vor­fäl­le nach außen dringen.

Die Ver­ant­wort­li­chen flüch­ten sich wei­ter in die Mär der angeb­lich »siche­ren Regio­nen« und schei­nen dabei bewusst aus­zu­blen­den, in wel­che Situa­ti­on sie die Men­schen eigent­lich tat­säch­lich abschieben.

Aber auch in den nicht als umkämpft gel­ten­den Gebie­ten ist die Lage weder lang­fris­tig – wie die zuneh­men­de Aus­brei­tung der Tali­ban zeigt – noch aktu­ell zwangs­läu­fig sicher. Allein in der Haupt­stadt Kabul kam es in den ers­ten drei Mona­ten des Jah­res zu »fünf gro­ßen Anschlä­gen mit min­des­tens 132 Toten und min­des­tens 347 Ver­letz­ten«, berich­tet die taz.

Weiterhin fliehen Zehntausende Afghan*innen

Waren Ende 2015 gemäß der United Nati­ons Assis­tance Mis­si­on in Afgha­ni­stan (UNAMA) bereits 1,17 Mil­lio­nen Afghan*innen als Bin­nen­ver­trie­be­ne auf der Flucht im eige­nen Land, kamen im ver­gan­ge­nen Jahr mut­maß­lich über 600.000 wei­te­re hin­zu, wäh­rend nur rund 100.000 der Ver­trie­be­nen zurück­keh­ren oder umge­sie­delt wer­den konn­ten (Tabel­le des United Nati­ons Office for Huma­ni­ta­ri­an Affairs UNOCHA).

UNHCR spricht im neu­es­ten Midyear-Bericht von 1,8 Mil­lio­nen Bin­nen­ver­trie­be­nen in Afgha­ni­stan Ende 2016.

Und der Trend hält an: Auch 2017 gibt es bereits weit über 100.000 neue Bin­nen­ver­trie­be­ne. Betrof­fen sind dabei 23 der 34 Pro­vin­zen Afgha­ni­stans. Eine immer aktu­el­le Über­sicht über die Zah­len lie­fert UNOCHA.

Bundesregierung muss Lage zur Kenntnis nehmen!

Die Umset­zung des EU-Plans zur mas­si­ven Abschie­bung afgha­ni­scher Flücht­lin­ge soll schein­bar nicht von der dra­ma­ti­schen Situa­ti­on in der Rea­li­tät ver­ei­telt wer­den: Völ­lig unbe­irrt fährt Deutsch­land damit fort, nach Afgha­ni­stan abzu­schie­ben. Ende März ging bereits der vier­te Flie­ger nach Kabul, ähn­lich ver­fah­ren auch ande­re euro­päi­sche Län­der, wie Schwe­den, Öster­reich oder die Niederlande.

Die dafür Ver­ant­wort­li­chen flüch­ten sich wei­ter in die Mär der angeb­lich »siche­ren Regio­nen« und schei­nen dabei bewusst aus­zu­blen­den, in wel­che Situa­ti­on sie die Men­schen eigent­lich tat­säch­lich abschieben.