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FAQ zur geplanten Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS)
Am 8./9. Juni 2023 soll beim EU-Rat für Inneres eine Vorentscheidung über die Zukunft des Flüchtlingsschutzes in Europa fallen. Mit dem Gesetzespaket drohen Schutzsuchenden Grenzverfahren unter Haftbedingungen, eine Verschärfung des Dublin-Systems. Letztlich die Aushebelung des Flüchtlingsschutzes. Wir beantworten dazu die wichtigsten Fragen.
UPDATE: Beim Rat der EU-Innenminister*innen wurde sich am 08. Juni 2023 auf eine Reform des europäischen Asylsystems geeinigt. Mehr dazu hier.
Stand 01.06.2023
Die Reform des Europäischen Asylrechts geht auf eine gefährliche Zielgerade zu. Zwischen den Mitgliedstaaten wird aktuell eine weitgehende Aushebelung des Flüchtlingsschutzes diskutiert. Ein Vorschlag ist schlimmer als der andere und ein faires und solidarisches Aufnahmesystem ist nicht in Sicht. Auch die Bundesregierung scheint fest entschlossen, die Reform zu einem Abschluss zu bringen – koste es, was es wolle.
Über 50 Menschenrechtsorganisationen, Wohlfahrtsverbände, Seenotrettungsorganisationen und Flüchtlingsorganisationen haben die am 26. April beschlossenen Vorhaben der Bundesregierung (Prioritätenpapier genannt), die unter anderem Grenzverfahren vorsehen und das Dublin-System verschärfen wollen, stark kritisiert und gefordert, dass es keine Kompromisse auf Kosten des Flüchtlingsschutzes geben darf. In einem offenen Brief an die Bundesregierung und den Bundestag stellen über 700 Anwält*innen und Jurist*innen fest: »Wir stehen in diesen Tagen vor den massivsten Verschärfungen des Flüchtlingsrechts seit Jahrzehnten«.
Die Verhandlungen in Brüssel sind äußerst intransparent, aber von Statewatch geleakte Textfassungen (Fassungen Asylverfahrensverordnung (AVVO) vom 17.5.2023 und Asyl- und Migrationsmanagementverordnung (RAMM) vom 15.05.2023) zeigen, wie weit die Mitgliedstaaten gehen könnten und dass die Bundesregierung sich mit ihren Vorschlägen – wie zumindest Kinder aus den Grenzverfahren auszunehmen – nicht durchsetzen wird.
Mit der aktuell diskutierten Reform würde das europäische Asylsystem folgendermaßen aussehen:
- In Europa ankommende Schutzsuchende können in Drittstaaten abgeschoben werden, die sie nie zuvor betreten haben – nur minimalste Versorgung muss dort gewährleistet werden. So wird es EU-Staaten ermöglicht, vergleichbare Abkommen wie das zwischen England und Ruanda zu schließen, um sich aus dem Flüchtlingsschutz zu ziehen.
- Kinder können in Grenzverfahren kommen und damit de facto inhaftiert werden. Wenn Schutzsuchende die EU-Grenzen unregistriert überschreiten und zum Beispiel in Deutschland ankommen, wäre auch hier die Anwendung von Grenzverfahren nicht ausgeschlossen. Auch für andere vulnerable Menschen gibt es keine generellen Ausnahmen vom Grenzverfahren.
- Das Dublin-System wird verschärft, indem Überstellungsfristen verlängert und der Rechtsschutz eingeschränkt werden sollen. Wenn die Dublin-Überstellungsfrist dann ein Jahr, anstatt wie bisher sechs Monate, beträgt und bei angeblichem Untertauchen sogar drei Jahre, anstatt wie bisher 18 Monate, werden Kirchenasyle, die Menschen vor rechtswidrigen oder inhumanen Abschiebungen schützen sollen, kaum noch möglich sein.
- »Solidaritätsmechanismus«: Statt Flüchtlingen aufzunehmen, sollen EU-Staaten schlicht Geld an außereuropäische Drittstaaten zur Flüchtlingsabwehr zahlen können. Eine verpflichtende Aufnahme von Schutzsuchenden durch alle EU-Staaten ist nicht vorgesehen.
- Die Praxis der Pushbacks wird eher zunehmen, denn die Verantwortung für die ankommenden Schutzsuchenden bleibt bei den EU-Grenzstaaten. Die letzten Dezember noch unter anderem von Deutschland gestoppten Vorschläge zur Instrumentalisierungsverordnung werden in der Krisen-Verordnung versteckt. Das bedeutet, dass der Zugang zu einem Asylverfahren ausgehebelt werden kann und Pushbacks als präventiver Grenzschutz legitimiert werden.
Eine stimmige »Gesamtbalance«, wie von der Bundesregierung gewünscht, ist in den Verhandlungen überhaupt nicht in Sicht, da viele Mitgliedstaaten nur für ihre eigenen Interessen kämpfen, die primär heißen: weniger Flüchtlinge. Die Bundesregierung darf den massiven Gesetzesverschlechterungen nicht in der vagen Hoffnung zustimmen, dass nach einer Reform EU-Staaten endlich Recht einhalten werden. Die Regeln, die jetzt gemacht werden, bleiben für Jahre gültig und können von noch rechteren Regierungen als bisher genutzt werden, um den Flüchtlingsschutz in Europa de facto abzuschaffen.
Im Folgenden werden die wichtigsten Fragen rund um die Reform des Europäischen beantwortet:
In jedem Asylverfahren – auch in den diskutierten Grenzverfahren – kann zuallererst entschieden werden, ob ein Asylantrag überhaupt zulässig ist. Wer über einen angeblich sicheren Drittstaat kommt, wird unabhängig von den eigentlichen Fluchtgründen abgelehnt. Mit der Reform soll diese »Vorprüfung« stark ausgebaut werden. Denn weil die EU aktuell nicht von funktionierenden Demokratien mit guten Schutzsystemen umgeben ist, werden die Kriterien gesenkt, damit unsichere Staaten für sicher erklärt werden können. Besonders dramatisch ist eine solche Zulässigkeitsprüfung in den Grenzverfahren, da in diesen Klagemöglichkeiten eingeschränkt sind und rechtliche Unterstützung nicht ausreichend vorhanden sein wird. So werden Abschiebungen in unsichere Drittstaaten und (Ketten-)Abschiebungen in die Verfolgung ins Herkunftsland möglich. Ein solcher Zurückzug der EU aus dem internationalen Flüchtlingsschutzsystem würde global schwerwiegende Folgen haben. Schon jetzt werden 80 % der weltweiten Flüchtlinge aus den Ländern des globalen Südens aufgenommen – aber warum sollten die noch Bedrohte schützen, wenn es selbst die EU nicht tut?
Großbritanniens Ruanda-Modell wird für einzelne EU-Staaten ermöglicht
Anders als bisher ist nun vorgesehen, dass noch nicht einmal eine Verbindung der Schutzsuchenden zu diesem Staat, in den sie abgeschoben werden sollen, bestehen muss – Mitgliedstaaten sollen selbst darüber entscheiden.
»Member States may under national law provide for rules requiring a connection between the applicant and the third country concerned on the basis of which it would be reasonable for that person to go to that country.« (Artikel 45 Absatz 2 AVVO)
Es ist also anders als bisher kein Gebietskontakt mehr nötig – der Rat will Nationalstaaten so ermöglichen, sogenannte nationale Auslagerungsstrategien zu verfolgen. Die Gefahr droht zum Beispiel von den Regierungen in Dänemark, Österreich, Schweden und anderen Staaten. Schon 2021 hat Dänemark ein entsprechendes Gesetz verabschiedet. Der UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi kommentierte wie folgt: »UNHCR wendet sich entschieden gegen Bestrebungen, die darauf abzielen, Asyl- und internationale Schutzpflichten an andere Länder zu externalisieren oder auszulagern. Solche Bemühungen, sich der Verantwortung zu entziehen, widersprechen dem Text und dem Geist der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 sowie dem Globalen Pakt für Flüchtlinge, in dem sich die Länder darauf geeinigt haben, die Verantwortung für den Flüchtlingsschutz gerechter zu teilen.«
Eine Woche vor der Ratssitzung der EU-Innenminister*innen hat auch der österreichische Innenminister Karner eine solche Auslagerung von Asylverfahren nach dem UK-Ruanda-Modell offensiv in die Debatte eingebracht.
Teilgebiete reichen aus – was bedeutet das in der Praxis?
Nun sollen generell Standards, wann ein dritter Staat als sicher gilt, so aufgeweicht werden, dass angeblich sichere Teilgebiete ausreichen, um Menschen in das Land abzuschieben
»The designation of a third country as a safe third country both at Union and both at Union and at national level may be made with exceptions for specific parts of its territory or clearly identifiable categories of persons.« (Artikel 45 Absatz 1a AVVO)
Für Schutzsuchende ist die Gefahr groß, dass Staaten wie Griechenland oder Kroatien solche Optionen gnadenlos ausweiten und nutzen werden, um möglichst viele Menschen abzuschieben. Dann definiert zum Beispiel Griechenland, dass die kurdischen Gebiete im Irak sicher sind und kann dorthin abschieben. Selbst die Genfer Flüchtlingskonvention muss nicht mehr gelten. Die künftig verlangten minimalen Standards sind auch weit davon entfernt, einen mit der GFK vergleichbaren Schutz zu gewährleisten.
Die Ausnahme von Teilgebieten und Personengruppen soll auch für angeblich »sichere Herkunftsstaaten« gelten (Artikel 47 Absatz 1a AVVO).
Vor 30 Jahren wurde mit dem Asylkompromiss das deutsche Grundrecht auf Asyl weitgehend abgeschafft. In der Praxis können sich kaum noch Schutzsuchende auf das Grundrecht berufen, da sie in der Regel über einen anderen EU-Mitgliedstaat als »sicheren Drittstaat« nach Deutschland fliehen.
Artikel 16a Grundgesetz
(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
(2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt. In den Fällen des Satzes 1 können aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden.
Eine noch weiter gehende Aushebelung des Flüchtlingsschutzes wird nun auf europäischer Ebene geplant. Da um die EU herum keine für Flüchtlinge tatsächlich sicheren Staaten liegen, sollen die hierfür angewendeten Kriterien massiv abgesenkt werden. Weder müsste die Person – wie im deutschen Grundgesetz als Kriterien vorgesehen – über den Drittstaat eingereist sein, noch müssen die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention noch die Standards des Menschenrechtsschutzes der Europäischen Menschenrechtskonvention sichergestellt werden.
Von CDU-Chef Friedrich Merz bis SPD-Innenministerin Nancy Faeser, viele Politiker*innen sprechen aktuell davon, dass »irreguläre Migration« gesteuert bzw. bekämpft werden soll. Was sie damit eigentlich meinen: Fluchtwege sollen versperrt werden. Denn die meisten Menschen, die von Krieg oder Verfolgung bedroht sind, bekommen keine Visa, um legal einzureisen. Ihre Visaanträge werden oft sogar mit der Begründung abgelehnt, sie würden ja länger bleiben und einen Asylantrag stellen wollen. Deswegen bleibt ihnen nur der Weg, sich selbstständig auf den Weg zu machen und sie müssen oft Schleuser bezahlen, um in Länder zu kommen, die ihnen dann nach der Ankunft Schutz gewähren. Genau auf diese Flucht zielen Politiker*innen ab, wenn sie »irreguläre Migration« stoppen wollen. Manche sprechen sogar von »illegaler Migration« und verkennen damit, dass Menschen, die einen Asylantrag stellen, nicht wegen illegaler Einreise bestraft werden dürfen. Denn in der Genfer Flüchtlingskonvention wurde genau dieses Szenario der Kriminalisierung von Flucht vorhergesehen und entsprechend im Artikel 31 verboten.
Was häufig in der Debatte auch unterschlagen wird: Die meisten der Menschen, die es schaffen selbstständig nach Deutschland zu fliehen, haben ein Recht auf Schutz. Das zeigt die Rekordschutzquote von 72 % im letzten Jahr und in diesem Jahr (bereinigte Schutzquote, also unter Abzug formeller Entscheidungen zum Beispiel zur Zuständigkeit für das Asylverfahren). Denn mit den Hauptherkunftsländern Syrien, Afghanistan, Türkei, Iran und Irak kommen die Menschen aus Ländern, wo schwere Menschenrechtsverletzungen, bewaffnete Konflikte und politische Verfolgung drohen. Es ist also essenziell, dass ihnen die Flucht nicht weiter versperrt wird. Das würde die Flucht eh nicht stoppen, sondern nur noch gefährlicher und lebensbedrohlicher machen.
Laut den aktuellen Vorschlägen im Rat sollen nur unbegleitete Kinder von Grenzverfahren ausgenommen werden, andere Minderjährige mit ihren Familien aber nicht (Artikel 41e AVVO). Das ist eine Verschärfung zu den ursprünglichen Vorschlägen der Kommission. Die Grenzverfahren werden wegen der Fiktion der Nicht-Einreise absehbar nur mit Haftbedingungen durchsetzbar sein. Dies wird absehbar, aber häufig nicht mit individuellen Haftentscheidungen geschehen, sondern wird in der Umsetzung einfach so gehandhabt – Geflüchtete dürfen dann ein von Stacheldraht umzäuntes Lager gar nicht oder nur extrem eingeschränkt verlassen. So werden aktuell auf der griechischen Insel Kos Minderjährige – angeblich zu ihrem eigenen Schutz – rechtswidrig inhaftiert.
Es reicht deswegen auch nicht, einen Zusatz in Artikel 41e Absatz 2 lit. e AVVO einzufügen, dass Minderjährige nicht inhaftiert werden dürfen. Ein Festsetzen von Minderjährigen in Haftzentren an den Außengrenzen verhindert man nur, wenn sie von den Grenzverfahren ausgenommen sind.
In jedem Fall gelten die verschärften Regeln für Grenzverfahren an den deutschen Außengrenzen, den Flughäfen. Darüber hinaus besteht aber auch die Gefahr, dass die Regeln zum Grenzverfahren so interpretiert werden können, dass auch Schutzsuchende Menschen, die z.B. an deutschen Binnengrenzen aufgegriffen werden, in ein Grenzverfahren müssen. Das hängt an der Auslegung folgender Formulierung, die laut unseren Informationen aus Brüssel im Rat noch nicht eindeutig ist:
»following apprehension in connection with an unauthorised crossing of the external border;« (Artikel 41 Absatz 1 lit. b AVVO)
Wenn ein Aufgriff an einer Binnengrenze als »in Verbindung mit« einer nicht-erlaubten Einreise über eine Außengrenze gesehen wird, dann drohen massenhafte Grenzverfahren unter Haftbedingen auch in Bayern oder Brandenburg.
Das deutsche Flughafenverfahren wird ersetzt durch die neuen EU-Grenzverfahren. Während bislang eine verhältnismäßig kleine Zahl von Menschen für maximal 19 Tage im Flughafenverfahren bleiben darf, müssen wir durch die Reform mit deutlich mehr an deutschen Flughäfen festgehaltenen Menschen rechnen – und mit drei Monaten auch über einen deutlich längeren Zeitraum. Auch aus anderen Mitgliedstaaten umverteile Asylsuchenden könnten hier ins Grenzverfahren kommen. Wochenlange Haft von Asylsuchenden auf deutschem Boden wäre die Konsequenz. Es ist mehr als fraglich, ob dies dann den eng gesetzten Standards des Bundesverfassungsgerichts entspricht, das 1996 über das Flughafenverfahren entschied (siehe hierzu eine ausführliche Studie).
Bereits jetzt werden Pushbacks zu Tausenden durchgeführt. Das ist illegal, wird trotzdem straffrei staatlicherseits organisiert. Für die Täter-Regierungen wie Griechenland, Kroatien wird dies auch in Zukunft schneller und billiger sein, um sich Schutzsuchende zu entledigen, als sie einem wie auch immer gearteten Grenzverfahren zuzuführen. Denn in Grenzverfahren müssen minimale Rechtsstandards gewährleistet sein, die mit einem erheblichen logistischen und finanziellen Aufwand einhergehen. Insbesondere ist nicht in Aussicht, dass es einen verlässlichen Solidaritätsmechanismus geben wird, der die Außengrenzstaaten wirksam entlasten wird – entsprechend werden sie sich über Pushbacks selbst »entlasten«.
In der Reform sind zudem keine wirksamen Maßnahmen gegen Pushbacks vorgesehen. Insbesondere mit der sogenannten Instrumentalisierungsverordnung und den geplanten Änderungen im Schengener Grenzkodex würden Pushbacks als Teil eines »präventiven Grenzschutzes« legitimiert werden und der Zugang zu Asylverfahren in der Praxis komplett versperrt werden. Die Vorschläge zur Instrumentalisierungsverordnung, deren Abstimmung im Dezember 2022 scheiterte, werden absehbar in die sogenannte Krisen-Verordnung aufgenommen werden.
Obwohl das Dublin-System nach einhelliger Meinung gescheitert ist, wird weiterhin an dessen Grundprinzip der Verantwortung des Ersteinreisestaats festgehalten. Durch die neuen verpflichtenden Grenzverfahren werden Aufwand und Verantwortung für die Außengrenzstaaten sogar absehbar höher als bisher. Eine vergleichbare Entlastung von ihnen durch die Umverteilung von Geflüchteten ist nicht ernsthaft in der Diskussion.
Nach jetzigem Stand ist nicht geplant, dass andere EU-Staaten von den EU-Grenzstaaten Schutzsuchende übernehmen müssen. Es gibt keinen festen Verteilungsschlüssel, stattdessen die Möglichkeit, »Solidarität« durch Geldzahlungen – auch an Drittstaaten – zu leisten (Artikel 44a RAMM). Dies bedeutet, dass unwillige Staaten sich weiterhin weigern werden, Schutzsuchende aufzunehmen und die Außengrenzstaaten auf Grund des Fortbestehens des Dublin-Systems weiter für die Einreisenden zuständig bleiben. Ungarn kann so die libysche Küstenwache bezahlen, anstatt sich an einer Flüchtlingsaufnahme zu beteiligen.
Die neue Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung sieht letztlich ein sogar verschärftes Dublin-System vor. Insbesondere Deutschland setzt sich dafür ein, dass die Dublin-Überstellungsfristen – während derer z.B. Deutschland Zeit hat, eine asylsuchende Person nach Italien zu bringen und nicht das Asylverfahren inhaltlich prüft – von sechs Monaten auf zwölf Monate verdoppelt werden sollen. Das Dublin-System wird zusätzlich verschärft, indem auch unbegleitete Kinder rücküberstellt werden sollen und der Rechtsschutz eingeschränkt wird (vgl. Artikel 15 Absatz 5, Artikel 33 RAMM).
Das Kirchenasyl ist in der Praxis oft notwendig, um zum Beispiel stark traumatisierte Menschen vor einer Dublin-Rückführung zu schützen oder eine Überstellung zu verhindern, nach der die geflüchtete Person vor dem Nichts stehen würde. Während der aktuell noch sechsmonatigen Überstellungsfrist lebt die schutzsuchende Person dann z.B. in den Gemeinderäumen. Den Behörden ist dies bekannt, weshalb sie auch laut der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht als »flüchtig« gilt. Nach Ablauf der sechs Monate bekommt sie dann ein richtiges Asylverfahren in Deutschland. Schon jetzt sind sechs Monate eine enorme Belastung für die Betroffenen sowie für die Gemeinden. Eine entsprechende Unterstützung für zwölf Monate durchzuhalten, wird in den wenigsten Fällen möglich sein.
Wenn eine Person als »flüchtig« gilt, wenn sie angeblich dafür sorgt, dass sie nicht transportfähig ist oder medizinische Vorgaben für die Rückführung nicht einhält, dann soll die Überstellungsfrist sogar auf drei Jahre verlängert werden – es wurden sogar fünf Jahre diskutiert (vgl. Artikel 35 Absatz 2 RAMM).
Die beiden EU-Co-Gesetzgeber, der Rat der EU und das Europaparlament, haben es sich gemeinsam zum Ziel gesetzt, die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vor der nächsten Europawahl abzuschließen. Diese wird im Juni 2024 stattfinden. Die Verhandlungen sollen deswegen bis Februar 2024 abgeschlossen werden. Während das Europaparlament bereits im April 2023 seine Positionen zu den Vorschlägen beschlossen hat, sind die Innenminister*innen der EU-Länder bislang noch nicht so weit. Sie wollen sich bei ihrer nächsten Ratssitzung am 8./9. Juni 2023 einigen. Doch wie Innenministerin Faeser schon andeutet: Es kann auch sein, dass die Verhandlungen sich doch noch länger in den Sommer hinein ziehen. Dann wird es allerdings immer knapper mit dem letzten Schritt: Denn erst, wenn der Rat seine Position gefunden hat, können die sogenannten Trilog-Verhandlungen mit dem Europaparlament und der Europäischen Kommission beginnen. Da die Positionen durchaus auseinandergehen, könnte auch hier die Reform noch scheitern.
(wj)