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Grenzen schließen und abschieben? Die Vorschläge von Friedrich Merz im PRO ASYL Faktencheck
Die Zahl der nach Deutschland Geflüchteten ist vergleichsweise hoch und schon wird eine Asyldebatte losgetreten, die den Geflüchteten das Recht auf Schutz abspricht. CDU / CSU rufen nach Grenzschließungen, Stopp von Aufnahmen, nach mehr Abschiebungen. Der Faktencheck zeigt: Die Schutzquote ist hoch und das vermeintliche Abschiebungsdefizit komplex.
Ja, es kommen aktuell viele schutzsuchende Menschen nach Deutschland. Nein, das ist kein Grund zur Panik. Es ist insbesondere kein Grund, um Grenzschließungen, Abschottung und »konsequente Rückführungen« zu fordern, wie die Union um Friedrich Merz es aktuell tut – denn so wird Menschen auf der Flucht der Weg in die Sicherheit versperrt. Im letzten Jahr hat Deutschland 1,2 Millionen geflüchtete Menschen aufgenommen. Rund eine Million flohen vor den russischen Bomben aus der Ukraine. 200.000 Menschen stellten einen Asylantrag – die Hälfte von ihnen kam aus Syrien und Afghanistan, wo die Regime bekanntermaßen schwere Menschenrechtsverletzungen verüben. In den ersten drei Monaten 2023 haben rund 81.000 Menschen erstmalig Asyl in Deutschland beantragt.
Das sei schon mal vorangestellt: Die meisten aktuell nach Deutschland fliehenden Menschen haben ein Recht auf Schutz, die Schutzquote liegt auf dem Rekordhoch von 70 %. Trotzdem ist unter dem Deckmantel angeblich »illegaler Einreisen« eine Debatte entbrannt, wie ihre Flucht verhindert werden kann. Auch das angebliche Vollzugsdefizit bei Abschiebungen hat politisch einmal mehr Hochkonjunktur. Anlass genug, um einen genauen Blick auf die Zahlen und die Begriffe der aktuellen Debatte zu werfen.
Hoher Schutzbedarf zeigt sich in den Schutzquoten
Die Hälfte der Asylsuchenden in Deutschland kommt allein aus den beiden Staaten Syrien und Afghanistan. In den Top 10 der Asyl-Herkunftsländer sind mit der Türkei, dem Irak, dem Iran, oder Somalia und Eritrea weitere Länder mit autoritären Regimen zu finden bzw. in denen bewaffnete Auseinandersetzungen herrschen. Demzufolge lag die Schutzquote trotz weiterhin restriktiver Entscheidungspraxis beim BAMF im vergangenen Jahr bei 72 %, im laufenden Jahr ist sie mit 71 %nahezu unverändert. Fast drei von vier Asylsuchenden erhält also Schutz vom BAMF. Darin nicht eingerechnet sind die vielen Tausend Menschen, die vom BAMF abgelehnt und erst später von den Gerichten als schutzberechtigt anerkannt werden. Mehr als ein Drittel der von Gerichten inhaltlich überprüften BAMF-Bescheide erwies sich 2022 als falsch und wurde aufgehoben.
»Eindämmung illegaler Migration« heißt, Schutzbedürftigen den Schutz zu verweigern
Die in den Debatten um die steigenden Flüchtlingszahlen immer wieder geforderte Begrenzung der »illegalen Migration« würde also bedeuten, Menschen, die vor Verfolgung, gravierenden Menschenrechtsverletzungen oder Kriegen fliehen, den Zugang zum Asylverfahren und in den allermeisten Fällen zum benötigten Schutz zu verweigern. Statt über die Schutzbedürftigkeit der Menschen zu sprechen, wird über den Schutz der Grenzen diskutiert. Die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine haben das »Glück«, kein Visum für die Einreise zu benötigen, sonst wären auch sie Teil der Debatte um die Eindämmung der »illegalen Migration«. Eine Forderung, auf die glücklicherweise aktuell niemand käme.
Mit den viel zitieren »illegalen Einreisen« verhält es sich auch nicht so einfach, wie häufig suggeriert. Zwar ist die Einreise von Menschen aus Syrien oder Afghanistan nicht legal, wenn sie kein Visum haben. Allerdings gibt es kein Visum für Schutzsuchende. Die Menschen haben also gar keine andere Wahl, als in der Regel nicht-legal einzureisen, wenn sie in Deutschland Schutz suchen möchten. Aus diesem Grund stellt die Genfer Flüchtlingskonvention die »illegale Einreise« unter Straffreiheit, da ansonsten die allermeisten Menschen ihr völkerrechtlich verbrieftes Recht auf Asyl gar nicht wahrnehmen könnten.
Unter dem Deckmantel der Forderung »illegale Migration« zu verhindern, steckt also vielfach der Ruf, Menschen auf der Flucht zu stoppen. In der Praxis bedeutet dies an vielen Außengrenzen der EU brutale und illegale Pushbacks, die das Leben der Menschen gefährden. Es ist absurd: Wenn sie hier sind, bekommen sie Schutz. Aber der Weg zum Schutz wird ihnen möglichst schwer gemacht.
Mit den viel zitieren »illegalen Einreisen« verhält es sich auch nicht so einfach, wie häufig suggeriert.
Betrachtet man die Zurückweisungszahlen des letzten Jahres und die Herkunftsländer der Betroffenen, muss man jedoch befürchten, dass es nicht nur an den EU-Außengrenzen zu illegalen Zurückweisungen kommt, sondern dass diese auch an den deutschen Grenzen längst an der Tagesordnung sind. Mit über 25.000 Zurückweisungen hat sich die Zahl der Zurückweisungen im Vergleich zum Vorjahr nahezu verdoppelt – unter ihnen über 5.000 afghanische, 3.500 syrische und über 2.000 türkische Staatsangehörige, also die Hauptherkunftsländer der Asylsuchenden.
Abschiebungsdebatte wird bewusst hochgekocht
Eine weitere reflexhafte Forderung, wenn die Asylantragszahlen steigen, ist die Forderung nach mehr Abschiebungen. Die Zahlen, die dabei in der Debatte angeführt werden, sind aber deutlich komplexer als es viele Politiker*innen gerne hätten. So redet auch CDU-Chef Friedrich Merz aktuell gerne von 300.000 ausreisepflichtigen Menschen, die seiner Ansicht nach wohl alle direkt abgeschoben werden sollen. Dabei ignoriert Merz geflissentlich, dass es bei vielen dieser Menschen gute Gründe gibt, warum sie weiterhin in Deutschland sind und dass viele von ihnen gar nicht abgeschoben werden können. Die Stimmung wird mit den Zahlen trotzdem hochgekocht.
Richtiger wäre es über 248.000 Menschen mit Duldung zu sprechen, weil man bei diesen davon ausgehen kann, dass sie tatsächlich noch in Deutschland leben. Wer die übrigen 56.000 Menschen ohne Duldung sein sollen, bleibt eines der Mysterien des Ausländerzentralregisters (AZR). Beim allergrößten Teil von ihnen ist schlicht davon auszugehen, dass sie sich gar nicht mehr in Deutschland aufhalten, Stichwort: nicht erfasste Ausreisen. Selbst nach Angaben der Bundesregierung ist die Zahl der Ausreisepflichtigen höchst ungenau und die Daten des AZR teilweise fehlerhaft.
Unter den Geduldeten finden sich 32.000 Menschen aus dem Irak, 21.000 aus Afghanistan, 16.000 aus Nigeria, 14.000 aus der Russischen Föderation und 11.000 aus dem Iran. Nach Afghanistan, Russland und in den Iran finden aktuell aus guten Gründen gar keine Abschiebungen statt! Allein der Blick auf die Top 5 der Herkunftsländer der Geduldeten und auf die Größenordnung der Zahlen belegt also die Unredlichkeit der Debatten um Ausreisepflichtige und zu wenige Abschiebungen. Ebenso die Tatsache, dass 136.000 Geduldete – also mehr als die Hälfte – bereits länger als 5 Jahre in Deutschland leben. Absehbar werden viele von ihnen, über das Chancen-Aufenthaltsrecht ihren Aufenthalt verfestigen können.
Laut Ausländerzentralregister (AZR) werden zudem beispielsweise 25.000 Duldungen wegen »familiärer Bindungen«, 6.000 wegen einer »beruflichen Ausbildung« oder 3.000 wegen schwerwiegender »medizinischer Gründe« ausgewiesen. Die meisten Duldungen werden laut AZR wegen »fehlender Reisedokumente« erteilt, obwohl die fehlenden Papiere häufig gar nicht ursächlich für die Nicht-Abschiebung sind: So sind bspw. Tausende Menschen aus Afghanistan »offiziell« wegen Passlosigkeit geduldet; abgeschoben werden dürfen sie aber wegen des Abschiebungsstopps nicht.
Übrigens: Mit 168.000 stellen Menschen mit abgelehntem Asylantrag nur etwas mehr als die Hälfte aller Ausreisepflichtigen. Auch hier ist die Debatte in der Öffentlichkeit also deutlich verkürzt.
Zahlenfixierte Abschiebungsdebatte ist irreführend
13.000 Menschen wurden letztes Jahr aus Deutschland abgeschoben, weniger als in den Vor-Corona-Jahren. Immer wieder wird diese Zahl in Zusammenhang mit über 300.000 Ausreisepflichtigen oder der Zahl der abgelehnten Asylbewerber gebracht und viel zu wenige Abschiebungen beklagt. Zwischen diesen 13.000 Abschiebungen und rund 100.000 negativen Asyl-Entscheidungen 2022 besteht jedoch überhaupt kein Widerspruch, da der Großteil der abgelehnten Asylsuchenden ins Klageverfahren geht und gar nicht ausreisepflichtig wird. Nicht wenige von ihnen klagen zu Recht und mit Erfolg. Die meisten abgelehnten Asylbewerber*innen werden – falls die Klage erfolglos bleibt – also erst Jahre später ausreisepflichtig.
Vor allem aber sind im vergangenen Jahr mindestens 27.000 Menschen »freiwillig« ausgereist, also mehr als doppelt so viele, wie abgeschoben wurden. Mutmaßlich ist diese Zahl sogar noch wesentlich höher, da »freiwillige Ausreisen« im Ausländerzentralregister (AZR) nur mangelhaft erfasst werden und viele Menschen ausreisen, ohne sich bei der Ausländerbehörde abzumelden.
Dass sich der öffentliche Diskurs trotzdem fast ausschließlich um vermeintlich zu wenige Abschiebungen dreht, trägt also nicht zu einer Versachlichung bei, weil eine vermeintlich niedrige Abschiebungszahl keinerlei Beleg für (zu) wenige Ausreisen ist. Solche Debatten sind im besten Fall irreführend.
Arbeitsverbote und Restriktionen helfen weder den Menschen, den Behörden, noch der Wirtschaft
In der überwiegenden Behördenpraxis steht bei Geduldeten jedoch vor allem deren Ausreisepflicht im Vordergrund. Anstatt die vorhandenen humanitären Aufenthaltsrechte großzügig auszulegen und zu gewähren, werden die Menschen viel zu häufig in Arbeitsverbote gedrängt und zum langjährigen Leben in Sammelunterkünften verpflichtet. Solche oftmals über Jahre dauernden Zustände sind nicht nur für die Betroffenen unhaltbar, sondern mitursächlich für Unterbringungsprobleme in manchen Kommunen und für die Überlastung in den Ausländerbehörden.
Wenn es aber unzählige Menschen mit sehr guten Duldungsgründen gibt, wenn Herkunftsländer bei der Wiederaufnahme ihrer Staatsangehörigen nicht oder wenig »kooperieren«, wenn Abschiebungen in den Irak oder nach Afghanistan aus guten Gründen nicht oder nur in geringem Umfang möglich sind, helfen weitere Debatten über »Migrationsabkommen« und »mehr Abschiebungen« kurzfristig niemandem weiter. Nicht den Menschen, nicht den Kommunen und auch nicht der Wirtschaft, die Arbeitskräfte dringend benötigt. Unabhängig davon wäre es völlig utopisch, fast 250.000 Ausreisepflichtige abzuschieben. Solche Debatten sollen vermeintlich einfache Lösungen präsentieren, die es in dieser Form aber gar nicht gibt.
Kurzfristig bleibt also zu hoffen, dass das Chancen-Aufenthaltsrecht großzügig umgesetzt wird und viele der langjährig Geduldeten davon profitieren können. Erste Erfahrungen mit dem neuen Recht lassen aber Befürchtungen wahr werden, dass viele Ausländerbehörden sehr kreativ darin sind, in der Auslegung des Chancen-Aufenthalts für die Menschen neue Ausschlussgründe zu kreieren. Diese restriktive Praxis der vergangenen Jahre fortzuführen und das nicht eingelöste »Versprechen von Abschiebung« mit unbedingtem Willen aufrechterhalten zu wollen, hilft den Menschen aber nicht, sondern zementiert nur deren entrechtete Situation sowie die teils hausgemachten Probleme in den Kommunen und Ausländerbehörden.
(dmo)