News
Es wird noch schlimmer: Jetzt könnte die Instrumentalisierungsverordnung doch kommen
Im Dezember 2022 wurde sie verhindert, doch nun wird sie wieder unter Hochdruck verhandelt: Die Instrumentalisierungsverordnung lebt in der sogenannten Krisen-Verordnung wieder auf. Sie ist ein Blankocheck für Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen. Wenn sie will, könnte die Bundesregierung diesen Gipfel der Entrechtung noch stoppen.
Update vom 28.07.2023: Gute Neuigkeiten, im Juli konnte nicht wie geplant im Rat eine Mehrheit für die Krisenverordnung (inklusive Instrumentalisierung) gefunden werden. Die Bundesregierung enthielt sich aufgrund von Bedenken bezüglich der geplanten abgesenkten Standards für Schutzsuchende. Außerdem enthielten sich auch die Niederlande und die Slowakei. Polen, Ungarn, Tschechien und Österreich stimmten laut Berichten gegen den Vorschlag. Im September wird absehbar über die Verordnung weiter verhandelt werden. PRO ASYL wird die Entwicklungen genau beobachten.
Am 8. Juni 2023 hatten sich die EU-Innenminister*innen auf massive Verschärfungen des europäischen Asylrechts geeinigt: Grenzverfahren unter Haftbedingungen, Aufweichung der Standards für angeblich »sichere Drittstaaten« – und damit letztlich die Aushebelung des Flüchtlingsschutzes – und ein schärferes Dublin-System mit einem schwachen Solidaritätsmechanismus sollen die Zukunft sein.
Doch der Tiefpunkt der Verschärfungen ist noch nicht erreicht: Denn aktuell verhandeln die Mitgliedstaaten im Rat die Verordnung im Fall von Krisen, höherer Gewalt und Instrumentalisierung. Diese soll den Mitgliedstaaten zukünftig erlauben, von den schon abgesenkten Standards zusätzlich abzuweichen. Konkret heißt das: Mehr Menschen können länger an den Außengrenzen inhaftiert werden und die Gefahr von Pushbacks steigt. Deswegen schlagen 55 zivilgesellschaftliche Organisationen Alarm und fordern von der Bundesregierung, dies unbedingt zu verhindern.
Ergänzung vom 14.07.2023: Auch auf europäischer Ebene formiert sich starker Protest, einen Appell des Europäischen Flüchtlingsrates unterzeichneten 78 Organisationen aus verschiedenen Ländern.
Schutzsuchende Menschen werden zur Gefahr stilisiert, um Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen
Während die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS-Reform) schon länger in der Mache ist (die ersten Entwürfe stammen noch von 2016, im September 2020 kam von der Kommission mit dem »New Pact on Migration and Asylum« dann ein Neuaufschlag), ist der Vorlauf der sogenannten Instrumentalisierungsverordnung etwas kürzer.
Ab dem Sommer 2021 flohen immer mehr schutzsuchende Menschen über Belarus nach Polen, Litauen und Lettland. Die Länder reagierten mit brutaler Gewalt und Pushbacks, die Grenzregionen wurden selbst für humanitäre Organisationen zu »No-go-Areas«, mit Gesetzen zu Ausnahmezuständen wurde die völkerrechtswidrige Praxis der Pushbacks (Zurückweisungen ohne individuelle Prüfung eines Asylantrags) scheinlegalisiert. Eine deutliche Kritik und entsprechende Konsequenzen, etwa der generelle Stopp von Dublin-Überstellungen oder die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren, von anderen EU-Ländern oder der Europäischen Kommission bleiben aus. Die fliehenden Menschen wurden zur »hybriden Gefahr« stilisiert, mit der der belarussische Diktator Lukaschenko die EU destabilisieren wolle. Mit diesem Narrativ wird die Gewalt gegen unschuldige Menschen, die einfach einen Weg in die Sicherheit finden wollen, gerechtfertigt (hier stellt PRO ASYL einige betroffene Menschen und ihre Geschichten vor).
Rückenwind für die Pushback-Politik: Vorschläge im Fall von »Instrumentalisierung«
Statt energisch gegen die Rechtsbrüche an den östlichen Außengrenzen der EU vorzugehen, macht die Europäische Kommission im Dezember 2021 zwei Vorschläge. Zum einen will sie per Ratsbeschluss ein vorübergehendes Sonderasylrecht für Polen, Litauen und Lettland schaffen. Doch zur Abstimmung darüber kommt es nicht, unter anderem, weil der polnischen Regierungen die Vorschläge immer noch nicht weit genug gehen. Zum anderen ergänzt die Kommission ihren »New Pact« um den Vorschlag zu einer Instrumentalisierungsverordnung.
Unter der tschechischen Ratspräsidentschaft nimmt in der zweiten Jahreshälfte 2022 die Debatte plötzlich wieder an Fahrt auf, denn die tschechische Regierung setzt sich zum Ziel, zwischen den Mitgliedstaaten die Instrumentalisierungsverordnung im Dezember 2022 abzustimmen. Hiergegen protestieren zivilgesellschaftliche Organisationen in Europa und Deutschland, denn die Verordnung wäre ein schwerer Rückschlag im Kampf gegen die Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen. Und tatsächlich können sich auch dieses Mal die Mitgliedstaaten nicht einigen, es kommt nicht zur Abstimmung. Doch statt den toxischen Vorschlag zu begraben, wird dieser im Juli 2023 in eine andere Verordnung aufgenommen und zwischen den Mitgliedstaaten diskutiert.
Der nächste Versuch: Nun soll es eine Verordnung für Krisen, höhere Gewalt und Instrumentalisierung werden
Die GEAS-Reform umfasst eine Vielzahl von Verordnungen und Richtlinien. Über die meisten haben sowohl Europaparlament als auch die Mitgliedstaaten im Rat mittlerweile ihre Positionen beschlossen. Am 8. Juni haben sich die EU-Innenminister*innen über die größten Zankäpfel, nämlich die Vorschläge für eine Asylverfahrensverordnung und für eine Verordnung zum Asyl- und Migrationsmanagement (die neue Dublin-Verordnung), geeinigt. Über diese Vorschläge wird nun im sogenannten Trilog zwischen Parlament, Rat und Kommission verhandelt.
Doch noch ist nicht alles ausgehandelt. Zum einen hat das Parlament zum Vorschlag der Instrumentalisierungsverordnung bislang keine Position beschlossen, sondern eine Folgenabschätzung in Auftrag gegeben. Zum anderen hat der Rat bislang weder eine Position zur Instrumentalisierungsverordnung noch zur sogenannten Krisen-Verordnung, die Teil des 2020 vorgeschlagenen »New Pact on Migration and Asylum« ist. Die schwedische Ratspräsidentschaft hat in den letzten Wochen ihrer Amtszeit einen Vorschlag präsentiert, der diese beiden Vorschläge fusioniert (Stand der Vorschläge vom 23. Juni 2023). Dieser wird – jetzt unter spanischer Ratspräsidentschaft – unter Hochdruck im Juli verhandelt und soll in den nächsten Wochen geeint werden. Das absurde ist: Damit werden jetzt massive Ausnahmen von den am 8. Juni zum Beispiel in der Asylverfahrensverordnung beschlossenen Regeln diskutiert.
Neuer Tiefpunkt droht: Mehr und längere Haft und erhöhte Gefahr von Pushbacks
Schon jetzt sind die Pläne der Mitgliedstaaten für die Zukunft des Flüchtlingsschutzes in Europa düster: Eine Vielzahl von Menschen soll ihr Asylverfahren abgeschottet von der Außenwelt unter Haftbedingungen an den Außengrenzen durchlaufen (dass dies auch Fliehende aus Ländern wie Syrien und Afghanistan treffen kann, erklärt PRO ASYL hier im Faktencheck). In diesen Verfahren wird es absehbar vor allem darum gehen, die in Europa schutzsuchenden Menschen in Drittstaaten abzuschieben. Im Fall von Krisen, höherer Gewalt und Instrumentalisierung sollen nun aber von diesen Verschärfungen noch Abweichungen möglich sein, die es für Schutzsuchende noch schwerer machen werden, zu ihrem Recht zu kommen.
Laut den Vorschlägen soll eine »Krisensituation« wie folgt definiert werden: »die außergewöhnliche Situation eines Massenzustroms von irregulär in einem Mitgliedstaat eintreffenden oder in seinem Hoheitsgebiet nach Such- und Rettungseinsätzen ausgeschifften Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen, der im Verhältnis zur Bevölkerung und zum BIP des betreffenden Mitgliedstaats ein solches Ausmaß hat und von solcher Art ist, dass das Asyl‑, Aufnahme- oder Rückkehrsystem des Mitgliedstaats nicht mehr funktioniert, und der schwerwiegenden Folgen für das Funktionieren des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems oder des gemeinsamen Rahmens im Sinne der Verordnung zum Asyl- und Migrationsmanagement haben kann, oder die unmittelbare Gefahr des Eintretens einer solchen Situation« (Art. 1 Abs. 2 Verordnungsstand vom 23. Juni). Zur Anwendung der meisten Ausnahmen braucht es nach dem aktuell bekannten Vorschlag einen Ratsbeschluss, dies ist aber unter den Mitgliedstaaten umstritten und könnte noch abgeschwächt werden.
Laut den Vorschlägen soll dies wie folgt definiert werden: »eine Situation, in der Migranten instrumentalisiert werden, ist als eine Situation zu verstehen, in der ein Drittland oder ein nicht staatlicher Akteur die Bewegung von Drittstaatsangehörigen an die Außengrenzen oder in einen Mitgliedstaat mit dem Ziel fördert oder erleichtert, die Union oder einen Mitgliedstaat zu destabilisieren, wenn solche Handlungen wesentliche Funktionen eines Mitgliedstaats, einschließlich der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung oder des Schutzes seiner nationalen Sicherheit, gefährden können« (Art. 1 Abs. 3 Verordnungsstand vom 23. Juni). Zur Anwendung der meisten Ausnahmen braucht es nach dem aktuell bekannten Vorschlag einen Ratsbeschluss, dies ist aber unter den Mitgliedstaaten umstritten und könnte noch abgeschwächt werden.
Laut den Vorschlägen ist keine Definition des Begriffs der »höheren Gewalt« vorgesehen. Als Beispiel wird in den ursprünglichen Vorschlägen der Kommission die Covid-19-Pandemie genannt. Zur Anwendung der meisten Ausnahmen braucht es nach dem aktuell bekannten Vorschlag einen Ratsbeschluss, dies ist aber unter den Mitgliedstaaten umstritten und könnte noch abgeschwächt werden.
Folgende Abweichungen von den üblichen Regeln sind vorgesehen, die ein Rezept für Pushbacks sowie massenhafte Internierung unter katastrophalen Bedingungen an den Grenzen sind:
- Verzögerung der Registrierung/Gefahr von Pushbacks: Im Fall einer Krise oder höherer Gewalt können die Mitgliedstaaten bis zu vier Wochen Zeit für die Registrierung von Asylanträgen haben, im Fall einer Instrumentalisierung drei Wochen. Dies kann die Gefahr von Pushbacks erhöhen, da die Menschen keinen Nachweis darüber bekommen, dass sie einen Asylantrag gestellt haben.
Die Gefahr von einer Zunahme von Pushbacks beziehungsweise der Unmöglichkeit für Schutzsuchende, einen Asylantrag zu stellen, ergibt sich insbesondere auch aus den im Rat beschlossenen Änderungen im Schengener Grenzkodex für den Fall von Instrumentalisierung, die die Schließung von Grenzübergängen vorsehen, und einer Intensivierung der Grenzüberwachung, die »irreguläre Grenzübertritte« (was letztlich die meisten Geflüchteten betrifft) verhindern soll.
- Noch mehr Menschen in den Grenzverfahren: Im Fall einer Krise oder höheren Gewalt wird den Mitgliedstaaten sowohl erlaubt, weniger Grenzverfahren durchzuführen (indem Schutzsuchende aus Herkunftsstaaten mit einer Schutzquote von weniger als 20 Prozent nicht verpflichtend in die Grenzverfahren müssen), als auch, diese massiv auszuweiten, indem sie Menschen aus Herkunftsländern mit Schutzquoten von bis zu 75 Prozent in die Grenzverfahren nehmen können. Im Fall einer Instrumentalisierung können die Mitgliedstaaten alle (!!) Asylsuchenden in die Grenzverfahren nehmen, die in dem Zeitraum registriert werden, für den die Instrumentalisierung angenommen wird.
- Verlängerung der Grenzverfahren (und damit der De-facto-Haft): In allen drei Fällen sollen die Grenzverfahren bis zu 20 Wochen dauern können (anstatt 12 Wochen) – sowohl die Asylgrenzverfahren als auch die anschließenden Abschiebungsgrenzverfahren. Aufgrund der sogenannten Fiktion der Nicht-Einreise ist zu erwarten, dass die Grenzverfahren unter Haftbedingungen durchgeführt werden. Je länger eine Freiheitsbeschränkung andauert, desto krasser werden die Auswirkungen auch auf die mentale Gesundheit der betroffenen Menschen. Eine unabhängige rechtliche Unterstützung wird ebenso kaum möglich sein.
- Absenkung der Unterbringungsstandards: Zudem gelten während dieser Zeit die üblichen Unterbringungsstandards für Asylsuchende nicht, es sollen nur die absolut minimalen Bedürfnisse erfüllt werden müssen. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre an den Außengrenzen muss bezweifelt werden, dass selbst das möglich ist – aber auch so ist es ein Rezept für ein humanitäres Desaster.
Im Fall von Krise und Instrumentalisierung sollen zudem geänderte Fristen für die Zuständigkeitsfragen gelten sowie weitere Solidaritätsbeiträge möglich sein. Eine Verpflichtung für Mitgliedstaaten, anstatt nur Geld zu zahlen, auch selbst Flüchtlinge aufzunehmen, scheint aber auch in diesen Fällen nicht in Sicht zu sein.
Noch kann der erneute Vorstoß gestoppt werden – und auch die Reform generell
Die Bundesregierung hat sich in ihrem Prioritätenpapier zur Reform des europäischen Asylsystems dagegen ausgesprochen, die Vorschläge im Fall von Instrumentalisierung in die Krisen-Verordnung aufzunehmen. Im Beschluss des Grünen Länderrats in Bad Vilbel zur Flüchtlingspolitik steht zudem: »Die Rechte von Menschen zu beschneiden, die durch autoritäre Staaten instrumentalisiert werden, lehnen wir ab.« PRO ASYL appelliert deswegen mit 54 weiteren Organisationen an die Bundesregierung, in diesem Fall eine klare rote Linie zu ziehen und diese zusätzliche Verschärfung schon im Rat zu stoppen.
Wenn die Bundesregierung ihren Koalitionsvertrag und die darin enthaltene Verpflichtung für Menschenrechte und Flüchtlingsschutz in Europa allerdings wirklich ernst nehmen will, dann sollte sie sich grundsätzlich gegen die Reform stellen. Noch gibt es keinen finalen Beschluss von Parlament und Rat über die Reform, der im Anschluss an den Trilog getroffen wird. Wie es auch der Rat für Migration kürzlich formulierte: Besser keine Reform als diese.
(wj)