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Es gibt nur eine Menschenwürde! 200 Verbände für sozialrechtliche Gleichbehandlung Geflüchteter
Vor 30 Jahren beschloss der Bundestag das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) als Instrument der Abschreckung. Auch heute sprechen Bund und Länder wieder über Verschärfungen in der Flüchtlingspolitik. Dagegen fordern 200 Organisationen die Abschaffung des AsylbLG und die Gleichbehandlung aller armen Menschen nach den Regeln des Sozialgesetzbuchs.
Vor 30 Jahren – am 26. Mai 1993 – hat der damalige Bundestag im sogenannten »Asylkompromiss« beschlossen, das in der Verfassung garantierte Grundrecht auf Asyl stark zu beschneiden, um Flüchtlinge möglichst fernzuhalten. Gleichzeitig wurde mit dem »Asylbewerberleistungsgesetz« (AsylbLG) ein neues Gesetz geschaffen, das die Lebensverhältnisse von Asylsuchenden in Deutschland gezielt verschlechtern und die soziale Versorgung auf ein Niveau deutlich unterhalb der normalen Sozialleistungen absenken sollte. Das AsylbLG trat am 1. November 1993 in Kraft. Im 30. Jahr seines Bestehens fordert nun ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes.
Motiviert war das AsylbLG durch einen zentralen Gedanken: den der Abschreckung. Ziel war es, geflüchtete Menschen durch eine möglichst schäbige Behandlung und verordnete Geldnot, verbunden mit dem verpflichtenden Wohnen in Sammelunterkünften und einem Arbeitsverbot, von der Flucht nach Deutschland abzuhalten oder zur Ausreise zu bewegen.
Damit kam man den aggressiven und menschenfeindlichen Stimmen in Politik und Gesellschaft Anfang der 1990er Jahre weit entgegen. Im gerade erst »wiedervereinigten« Deutschland dienten deutlich gestiegene Asylantragszahlen als Anlass für eine explosive flüchtlingsfeindliche Stimmungsmache von Politik und Medien. Der Mob der Straße gab seinerseits das Echo mit rassistischen Attacken auf Unterkünfte und Mordanschlägen auf Migrant*innen, von denen die brutalen Exzesse von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda oder die Morde von Mölln oder Solingen nur einige der bekanntesten sind.
Und heute? Bund und Länder verabreden Erosion rechtsstaatlicher Grundsätze
Die Flüchtlingsaufnahme 2015 /16 und die Aufnahme der ukrainischen Geflüchteten seit dem vergangenen Jahr haben eine offene, starke und hilfsbereite Gesellschaft sichtbar gemacht. Dennoch veranlassen derzeit steigende Asylantragszahlen und die Wohnungsnot (die sich unabhängig von allen Zuzugszahlen schon vor vielen Jahren angekündigt hatte) Politiker*innen aus Kommunen, Bund und Ländern erneut zu einem menschenfeindlichen Diskurs und rabiaten Handlungsvorschlägen.
Die Beschlüsse, die die Ministerpräsident*innen und der Bund beim Flüchtlingsgipfel am 10. Mai 2023 gefasst haben, brechen mit dem menschlichen Anstand wie auch mit dem Völkerrecht: An den (EU‑) Grenzen sollen Asylsuchende künftig inhaftiert und in Drittstaaten zurückgewiesen werden, und auch im Innern sollen staatliche Gewaltmaßnahmen den Ausreisedruck erhöhen. Bestärkt durch den politischen Alarmismus auch aus den Reihen der roten, grünen oder gelben Koalitionsparteien droht 30 Jahre nach dem Asylkompromiss die Solidarität in der breiten Gesellschaft bedrohlich zu wackeln. Erneut werden Sammellager für Geflüchtete niedergebrannt, erneut fürchten Menschen in rassistischen Angriffen um ihr Leben. Die Bundesregierung muss in dieser Situation eine klare Haltung zu Diskriminierung und Rassismus entwickeln, alte Fehler korrigieren und nicht – auch nicht symbolisch – dem Mob hinterherlaufen. Am 17. Mai 2023 hat ein Bündnis von über 50 Organisationen einen Appell an die Bundesregierung veröffentlicht, das die Gefahr einer weitgehenden Abschaffung des Flüchtlingsschutzes in Europa sieht und vor Kompromissen auf Kosten des Flüchtlingsschutzes warnt.
Weitere Leistungskürzungen geplant
Eine weitere Entgleisung droht auch sozialpolitisch. Klar ist: Die Leistungen des AsylbLG unterschreiten bereits das gesetzlich festgelegte Existenzminimum für ein menschenwürdiges Leben. Eine zweite, abgesenkte Menschenwürde kann es nicht geben. Statt dies endlich zu korrigieren, lassen die aktuellen Vorstellungen der Ministerpräsident*innen befürchten, dass künftig sogar erneut ein größerer Teil der Geflüchteten – vielleicht gar bereits anerkannte Geflüchtete – gekürzte Leistungen erhalten soll:
»Der Mangel an Wohnraum hat zur Folge, dass es Ländern und Kommunen immer weniger möglich ist, bei der Unterbringung der Menschen nach ihren gesetzlichen Leistungsansprüchen zu differenzieren. Nicht selten ist es notwendig, auch solche Menschen in Gemeinschaftsunterkünften mit Vollverpflegung unterzubringen, die Anspruch auf den vollen Regelsatz in Geldleistung haben. Um die dadurch entstehende Ungleichbehandlung gegenüber anderen Leistungsbeziehern, zu beenden, streben der Bundeskanzler und die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder eine zügige gesetzliche Regelung im SGB II und ggf. auch für das SGB XII an.« (S.11)
Wenn es den Ländern und Kommunen heute tatsächlich »immer weniger möglich ist … nach Leistungsansprüchen zu differenzieren« – warum erwägen diese Repräsentanten unseres Sozialstaats dann nicht für alle die gleichen, menschenwürdigen und verfassungskonformen Standards?
Eine Änderung im Sozialgesetzbuch (SGB) statt im AsylbLG würde eine Angleichung nach unten für diejenigen bedeuten, die gerade nicht mehr die gekürzten Leistungen nach AsylbLG erhalten. Mit einer Herabsetzung der menschenrechtlich gebotenen Leistungen etwa für anerkannte Geflüchtete würde der heute schon verfassungswidrigen Praxis die Krone aufgesetzt. Es verstieße auch gegen Artikel 23 der Genfer Flüchtlingskonvention: Danach gewähren die Staaten den Flüchtlingen, die sich rechtmäßig in ihrem Staatsgebiet aufhalten, auf dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge und sonstigen Hilfeleistungen die gleiche Behandlung wie ihren eigenen Staatsangehörigen. Kaum zu glauben, dass eine solche Regelung in Deutschland verfassungsrechtlich Bestand hätte, aber der Weg zu einer Korrektur dauert Jahre – ein Schelm, wer Kalkül unterstellt.
Wenn es den Ländern und Kommunen heute tatsächlich »immer weniger möglich ist … nach Leistungsansprüchen zu differenzieren« – warum erwägen diese Repräsentanten unseres Sozialstaats dann nicht für alle die gleichen, menschenwürdigen und verfassungskonformen Standards?
Integrationsminister*innen: Geflüchtete mit Ukrainer*innen gleichstellen!
Tatsächlich steht diese Verschärfungsidee der Ministerpräsident*innen nicht nur offenkundig im Widerspruch zum Grundgesetz, sondern auch im Gegensatz zu den Forderungen der für Integration zuständigen Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren der Bundesländer. Nur wenige Tage vor dem Flüchtlingsgipfel, am 27. April 2023, haben diese auf ihrer Konferenz (IntMK) den Bund gebeten, zu prüfen, »wie für alle vor Krieg, Gewalt und Verfolgung geflüchteten Menschen in gleichem Maße ein schneller und unbürokratischer Zugang zu Integrationsleistungen sicherzustellen« sei. Ihre Kritik bezieht sich darauf, dass die aus der Ukraine Geflüchteten gegenüber anderen Kriegsflüchtlingen deutlich besser gestellt sind.
Es geht den Integrationsminister*innen darum, wie »z.B. Leistungen zur Lebensunterhaltssicherung, Leistungen zur Gesundheitsversorgung und Zugang zur Bildung und Arbeit möglichst diskriminierungsfrei, gleichberechtigt und nach den jeweiligen Bedürfnissen für alle geflüchteten Menschen gestaltet werden kann.« Die Landesminister*innen schreiben in der Begründung: »Aus der Perspektive der Geflüchteten führt eine ungleiche Behandlung zur Verstärkung der oft traumatischen Erfahrungen und Erlebnisse aus den Heimatländern oder/und auf der Flucht. Diese Ungleichheit bei den betroffenen Zielgruppen zementiert das Empfinden, dass nicht alle Menschen weltweit rassismusfrei und gleichberechtigt Zugang zu den wirtschaftlichen und sozialen Ressourcen und das Recht auf sicheres, gesundes und selbstbestimmtes Leben haben.«
In der Konsequenz fordern die Integrationsminister*innen Verbesserung zugunsten der Betroffenen im Asylbewerberleistungsgesetz. Dabei zeigt ein Blick auf die vergangenen Jahre, dass es unrealistisch ist zu erwarten, dass in einem von vornherein auf Diskriminierung angelegten Sondergesetz Ungleichheiten wirklich und dauerhaft beseitigt werden. Zu befürchten ist, dass es stattdessen mit immer wieder neuen Zumutungen und Schikanen gefüllt wird.
Der weitaus einfachste Weg zur Gleichbehandlung wäre eben die Abschaffung des AsylbLG und die Aufnahme Geflüchteter in die regulären sozialrechtlichen Regelungen nach dem SGB. Nebenbei hätte dies für Kommunen und Länder auch den Vorteil, dass eine laufende finanzielle Unterstützung, die sie vor dem Flüchtlingsgipfel so lautstark vom Bund eingefordert hatten, in diesem Fall kontinuierlich gewährleistet wäre. Außerdem würde in den kommunalen Sozialämtern eine Menge Bürokratie-Kosten entfallen. Denn für SGB-II-Leistungen sind die Jobcenter zuständig und die Kosten übernimmt weit überwiegend der Bund.
»Es gibt nur eine Menschenwürde«: Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen
Bereits nach der Einführung des AsylbLG 1993 forderten Kirchen, Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen einhellig seine Abschaffung und forderten sozialrechtliche Gleichbehandlung.
Zum unrühmlichen 30-jährigen Bestehen des AsylbLG hat sich 2023 ein breites Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen unter dem Motto »Es gibt nur eine Menschenwürde – Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen« zusammengefunden: Menschenrechtsorganisationen, Wohlfahrtsverbände, Organisationen von Migrant*innen, Vereinigungen von Anwält*innen, Jurist*innen, Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen, Frauenverbände und Kinderrechtsorganisationen und andere fordern gleiche menschenrechtliche Standards: Geflüchtete müssen in das reguläre Sozialleistungssystem eingegliedert werden. Inzwischen haben 200 Organisationen die Forderung unterzeichnet: 45 bundesweite, 46 landesweite und 110 regionale und lokale Initiativen.
Der vollständige Text des Appells und die aktuelle Unterzeichnerliste sind hier zu finden: www.proasyl.de/asylbewerberleistungsgesetz. Unterzeichnungen sind weiterhin möglich.
Für schutzsuchende Menschen darf es keinen niedrigeren Standard geben. Es ist Zeit, dieses beschämende Kapitel deutscher Abschreckungspolitik der 1990er Jahre endlich zu beenden!
Unabhängige aktivistische Gruppen haben für die Zeit vom 20.–26. Mai bundesweite Aktionstage ausgerufen. Informationen dazu gibt es unter https://asylbewerberleistungsgesetz-abschaffen.de/. Dort kann man auch als Einzelperson einen offenen Brief unterzeichnen.
Betroffene von AsylbLG-Leistungen sollten sich weiterhin an eine*n Sozialrechtsanwält*in wenden (eine Liste findet sich z.B. hier und bei vielen Organisationen), um die Bescheide überprüfen und notfalls gerichtlich korrigieren zu lassen.
Sozialleistungen sollen laut Gesetz den Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, »das der Würde des Menschen entspricht« – so steht es unter anderem in § 1 Abs.1 SGB II für das Bürgergeld, ähnlich gilt es für die Sozialhilfe. Für schutzsuchende Menschen darf es keinen niedrigeren Standard geben. Es ist Zeit, dieses beschämende Kapitel deutscher Abschreckungspolitik der 1990er Jahre endlich zu beenden.
(ak)