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30 Jahre nach dem Rostocker Brandanschlag: Struktureller Rassismus wirkt bis heute
Vor 30 Jahren brannte in Rostock-Lichtenhagen ein Hochhaus. Im Wohnheim durchlitten mehr als 100 Männer, Frauen und Kinder Todesangst, draußen randalierten Hunderte, warfen Brandsätze, skandierten rassistische Parolen, johlten und behinderten die Feuerwehr. Die Erinnerung an den rassistischen Angriff bringt Forderungen für die Gegenwart mit sich.
Schon Tage vor dem 24. August 1992 hatte sich der rassistische Mob vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAst) und dem danebenstehenden Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter*innen zusammengerottet; die Lokalzeitung berichtete von einem anonymen Anrufer, der eine »heiße Nacht« ankündigte.
Bilder vom brennenden Haus bis heute im Kopf
»Auch, wenn es 30 Jahre her ist, bei mir sind die Bilder im Kopf. Das waren die zwei Stunden in meinem Leben, die die schwierigsten für mich gewesen sind«, sagte der damalige Rostocker Ausländerbeauftrage Wolfgang Richter, der selbst in dem brennenden Haus war, kürzlich dem Deutschlandfunk.
Ein paar Tage nach dem Brandanschlag kam Heiko Kauffmann, damals Inlandsreferent von terre des hommes und Vorstandsmitglied von PRO ASYL, in das verwüstete Wohnheim: »Ich war erschüttert über das Ausmaß der Zerstörung – es war, als ob Bomben in das Wohnheim gefallen wären. Die Flure waren beschädigt, alles war schwarz«, sagte er jetzt im Interview mit PRO ASYL.
Vietnames*innen organisieren sich
Und die Erinnerungen der Menschen, die damals in der ZAst und in dem brennenden Haus waren? Die vorwiegend rumänischen Roma wurden bald abgeschoben, da Deutschland schon einen Monat später, im September 1992, ein Rücknahmeabkommen mit Rumänien schloss. Die vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen gründeten unmittelbar nach den Ausschreitungen gegen sie eine Selbstorganisation, den Verein Diên Hông – Gemeinsam unter einem Dach, der sich laut Selbstbeschreibung engagiert »für ein besseres Zusammenleben und für Chancengleichheit zwischen Deutschen und Zugewanderten in und um Rostock« mit dem Schwerpunkt der sprachlichen Qualifizierung.
»Sie sind nicht laut zu sagen: Ich bin ein Opfer, mir muss jemand helfen. Sie machen es umgekehrt: Sie helfen sich selbst.«
Über ihre Erinnerungen an die Angriffe wollen die meisten Vietnames*innen aber nicht sprechen. »Es gibt viele Sachen, die haben sie niemanden erzählt und selbst, wenn man nur diese Fragen stellt, dann kocht alles hoch und dann wollen sie nicht«, sagte Vorstandsmitglied Tanh Van Vut kürzlich dem Deutschlandfunk und ergänzte: »Sie machen es nach ihrer Art. Sie sind nicht laut zu sagen: Ich bin ein Opfer, mir muss jemand helfen. Sie machen es umgekehrt: Sie helfen sich selbst.«
Nicht in der Vergangenheit bleiben
Auch für Kauffmann darf das Gedenken an die rassistischen Anschläge aus den 90er Jahren, in deren Reihe Rostock-Lichtenhagen steht, nicht in der Vergangenheit stecken bleiben. Denn der dahinter stehende Rassismus besteht noch immer, sagt er: »Es ist dringend notwendig, dass sich die Gesellschaft ihres eigenen Rassismus und der Gründe dafür bewusst wird. Das ist leider bis heute nicht in der notwendigen Weise geschehen. Wir haben mit Solingen, NSU, Halle, Hanau und vielen anderen schrecklichen Begebenheiten eine Kontinuität rechter und rassistischer Gewalt – ganz zu schweigen von den täglichen Angriffen und Herabsetzungen von Flüchtlingen. Aus Rostock-Lichtenhagen können wir lernen: Strukturelle und institutionelle Ungleichheiten verletzen nicht nur die Menschenwürde und die Menschenrechte der betroffenen Flüchtlinge, sondern sie sind auch Nährboden für Fremdenfeindlichkeit und rechtsextreme Gewalt. Denn staatlicher und alltäglicher Rassismus bedingen einander.«
Diskriminierung und Rassismus bis heute
Vor 30 Jahren nahmen Politiker*innen Rostock-Lichtenhagen zum Anlass, das Asylrecht zu demontieren, der sogenannte Asylkompromiss höhlte das Grundrecht auf Asyl immer weiter aus – mit fatalen Auswirkungen. Bis heute werden Schutzsuchende in Sammelunterkünften isoliert und zermürbt und mit dem Asylbewerberleistungsgesetz diskriminiert. Bis heute werden Geflüchtete mit Baseballschlägern verprügelt, Kinder auf dem Weg in die Schule bespuckt und geschlagen. Täglich werden in Deutschland im Schnitt zwei Asylbewerber*innen angegriffen. Noch immer sind Geflüchtetenunterkünfte Zielscheibe für rassistische Gewalt, noch immer gibt es keine Bleiberecht für die Opfer rassistischer Attacken.
Massenunterkünfte abschaffen
Deshalb müssen Geflüchtete zügig in die Kommunen verteilt werden. Bund und Länder müssen die strukturelle Ausgrenzung bei der Erstaufnahme beenden. Zudem fordern PRO ASYL und die Amadeu Antonio Stiftung gemeinsam:
• Um Rassismus und rechtem Terror präventiv zu begegnen, müssen isolierende Massenunterkünfte für Schutzsuchende, die als Zielscheibe für rechten Terror und Verfestigung von Vorurteilen dienen, aufgelöst werden. Es braucht eine schnelle Verteilung in die Kommunen und Integration von Anfang an.
- Das Beispiel Ukraine zeigt, was in der Asylpolitik möglich ist, wenn der politische Wille zum Handeln da ist. Es zeigt aber auch die massive Ungleichbehandlung von ukrainischen Geflüchteten und Geflüchteten aus Drittstaaten. Wir fordern die Gleichstellung aller Geflüchteten.
- Gewalt gegen Geflüchtete wird in der offiziellen Statistik immer noch nicht angemessen abgebildet. Es fehlt bei der Polizei an Sensibilität, Aufmerksamkeit und Ressourcen, diese Straftaten zu verfolgen. Hier braucht es eine vollständige und transparente Zählung durch die Innenministerien der Länder sowie eine zeitnahe Veröffentlichung der Fälle.
- Die Forderung, dass Menschen, die Opfer von rassistischer Gewalt wurden, ein Bleiberecht erhalten müssen, besteht seit Jahren. Nur so kann sichergestellt werden, dass sie vor Gericht aussagen und die Täter*innen verfolgt werden können.
(wr)