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»Die Taliban vergessen nichts – sie werden sich rächen«
Mohamed Karimi hat als Dolmetscher für die Bundeswehr gearbeitet. Weil die Taliban ihn verfolgten, kam er im Rahmen des Ortskräfteprogramms 2014 nach Deutschland. Doch die Extremisten machen auch vor seiner Familie nicht Halt: Sie bedrohten seine Eltern und entführten seine Brüder
Herr Karimi*, Sie haben fünf Jahre lang als Dolmetscher und Kulturmittler in Kabul und im Norden Afghanistans für die Bundeswehr gearbeitet. Wie kam es dazu?
Karimi: Es begann im Sommer 2008 mit einer Nacht, die ich nie vergessen werde. Es war ein Donnerstagabend und ich war mit meiner Mutter draußen im Hof. Gegen neun oder zehn Uhr haben wir Schüsse gehört. Ich war neugierig und wollte sehen, was da los ist. Aber meine Mutter hat mich daran gehindert. Am nächsten Tag waren dann viele Leute draußen, auch deutsche Soldaten, und ich habe erfahren, was in der Nacht zuvor passiert war: Zivilisten, darunter auch Frauen, die mit dem Auto unterwegs gewesen waren zu einer Hochzeit, waren von Soldaten erschossen worden. Der Grund dafür war wohl, dass die Soldaten ihnen befohlen hatten, anzuhalten, aber das haben sie nicht gemacht – warum, weiß ich nicht. Da haben die Soldaten geschossen.
Das klingt nicht gerade nach einem Arbeitgeber, für den man auf der Stelle tätig werden will…
Karimi: Am nächsten Tag bin ich zu den Dorfbewohnern und zu den Soldaten gegangen, weil ich neugierig war. Ich war der Einzige im Dorf, der englisch sprach. Deshalb konnte ich zwischen den beiden Gruppen vermitteln. Es hat sich dann ergeben, dass ich gedolmetscht habe. Am Ende hat mir ein Offizier eine Visitenkarte in die Hand gedrückt und gesagt, wenn ich als Dolmetscher für die Bundeswehr arbeiten wolle, solle ich mich melden. Das habe ich ein paar Monate später tatsächlich gemacht. Aber die Leute, die damals ihre Verwandten verloren haben, vor denen habe ich immer Angst gehabt. Sie haben uns, meine Familie und mich, beschuldigt: »Ihr arbeitet für die Mörder unserer Familien!« Das Thema Rache spielt eine große Rolle in Afghanistan. Viele Menschen in Afghanistan halten die ausländischen Soldaten für Besatzer. Nach dem Verständnis der Dorfbewohner und der Taliban hatten die »Besatzer« gemordet. Diese Morde wollten sie auch an mir und meiner Familie rächen.
»Einen Dolmetscher zu töten ist für die Taliban noch wertvoller als einen Soldaten umzubringen. Aus ihrer Sicht sind wir Dolmetscher die Augen und Ohren der Ungläubigen.«
Was genau haben Sie während Ihrer Tätigkeit für die Bundeswehr gemacht?
Karimi: Ich war eine Art Bindeglied zwischen der Bundeswehr und der afghanischen Nationalarmee. Meistens war ich unterwegs – ich war bei Patrouillen dabei, aber auch gemeinsam mit den Streitkräften im Einsatz. Auch bei der Versorgung der Bevölkerung, etwa bei Naturkatastrophen, habe ich unterstützt. Die ersten Monate, die ich für die Bundeswehr gearbeitet habe, (Anm. der Redaktion: Anfang 2009) habe ich mich sicher gefühlt. Damals war die Situation ok, wir haben alle gehofft, dass sich die Lage im Land verbessert. Ich habe mich für diese Arbeit entschieden, weil ich meiner Heimat helfen wollte, und natürlich auch, weil es eine Möglichkeit war, Geld zu verdienen. Aber schon kurze Zeit später wurde mir klar, dass ich in Gefahr war. Meine Familie und ich haben unser Bestes getan, um meine Tätigkeit zu verheimlichen.
Warum war das nötig?
Karimi: Einen Dolmetscher zu töten ist für die Taliban noch wertvoller als einen Soldaten umzubringen. Aus ihrer Sicht sind wir Dolmetscher die Augen und Ohren der Ungläubigen. Und müssen dafür bestraft werden.
Wie sah Ihr Versteckspiel aus?
Karimi: Ich habe meine Familie in dieser Zeit nur alle drei bis vier Monate gesehen. Wenn ich dann mal zuhause war, bin ich die meiste Zeit über im Haus geblieben – auch, um neugierige Fragen der Nachbarn und Bekannten zu vermeiden. Ganz umgehen konnte ich die natürlich nicht, also habe ich gelogen und gesagt, dass ich studiere und an einer Privatschule unterrichte. In meiner Arbeitszeit habe ich Jeans und Hemd getragen, wie die Deutschen . Zuhause habe ich mich das nicht getraut, das wäre zu auffällig gewesen. Stattdessen bin ich in der typisch afghanischen Bekleidung rumgelaufen. Trotzdem haben die Taliban es irgendwie herausgefunden.
Was ist dann passiert, warum konnten Sie nicht mehr in Afghanistan bleiben?
Karimi: Als mein Arbeitsvertrag für die Bundeswehr ausgelaufen war, musste ich mich eine Weile im Norden Afghanistans verstecken. Das war eine schlimme Zeit. Ich wurde von den Taliban bedroht – nicht nur ein Mal, nicht nur zwei Mal, immer wieder. Das reichte von Drohbriefen und Drohanrufen bis hin zu persönlichen »Besuchen«. Ich hatte dann ein Gespräch mit Bundeswehr-Offiziellen und durfte schließlich über das Ortskräfteprogramm nach Deutschland kommen. Im August 2014 bin ich von Afghanistan nach Hamburg geflogen.
»Die Taliban haben meinen Vater aufgefordert, mich an sie auszuliefern, und meiner kleinen Schwester haben sie Säure über den Fuß gekippt – als Strafe für meine Tätigkeit als Dolmetscher«
Wie ging es Ihnen nach Ihrer Ankunft in Deutschland?
Karimi: Einerseits war ich sehr glücklich, denn ich konnte mich endlich frei bewegen und wusste: Hier passiert mir nichts. Andererseits war es sehr schwierig für mich, meine Familie allein zu lassen. Sie ist das Wichtigste für mich – wie wahrscheinlich für alle Menschen auf dieser Welt. Ich bin der älteste Sohn, ich trage Verantwortung für sie. Noch dazu wusste ich, dass auch meine Familie wegen meiner Arbeit bedroht wurde; als ich noch im Land war und auch nachdem ich schon in Deutschland lebte. Mein Vater wurde aufgefordert, mich an die Taliban auszuliefern. Wenn ein Afghane für die Bundeswehr, die NATO oder andere westliche Organisationen gearbeitet hat, sind alle Familienmitglieder in Gefahr. Die Taliban nehmen besonders die Männer der Familie ins Visier. Und die Eltern – denen geben sie die Schuld daran, dass ihre Kinder »verdorben« sind und für die »Ungläubigen« arbeiten. Aber sogar meine kleine Schwester – damals noch ein Kind – war nicht sicher vor ihnen. Sie haben ihr Säure über den Fuß gekippt.
Wie ist Ihre Familie damit umgegangen? Hat sie versucht, in einem anderen Landesteil Afghanistans Schutz zu suchen?
Karimi: Meine Familie musste sich verstecken und immer wieder umziehen. Sie mussten in unmenschlichen Verhältnissen leben und hatten zum Teil nicht mal etwas zu essen und zu trinken. Im Sommer ist es schwieriger als im Winter, in anderen Landesteilen Schutz zu suchen. Denn im Sommer sind die Taliban aktiver. Im Winter sind viele von ihnen in den Nachbarländern in Ausbildungscamps. Mittlerweile ist meine Familie nicht mehr im Land, sondern auf der Flucht.
Währenddessen haben Sie versucht, in Deutschland Fuß zu fassen…
Karimi: Ja, im August 2014 bin ich angekommen und im November hatte ich bereits einen Mini-Job in einem Amt, als Dolmetscher und Asylbetreuer. Vormittags habe ich gearbeitet, nachmittags bin ich in die Schule gegangen, um Deutsch zu lernen. Drei Jahre war ich als Asylbetreuer beschäftigt. Außerdem habe ich ein Jahr lang ein Praktikum in der Verwaltung gemacht. Ich wollte eigentlich eine Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten beginnen. Aber während des Praktikums wurde mir bewusst, dass ich das nicht packen würde. Der Stress und die Sorge um meine Familie waren zu groß. Ich habe im Praktikum mein Bestes gegeben, aber ich war selbst nicht zufrieden mit meiner Leistung, und mein Chef auch nicht. Diese Belastung, all diese Schwierigkeiten – es war einfach zu viel. Jetzt bin ich für ein privates Unternehmen als Sicherheitsmitarbeiter tätig. Damit will ich nicht alt werden, aber für den Moment ist es okay.
Drei Tage lang wurden zwei Brüder unseres Interviewpartners von den Taliban gefangen gehalten. Sie konnten aus ihrem Verlies fliehen und sind schließlich nach Deutschland geflüchtet. Doch hier erkennt das Bundesamt für Migration ihre Gefährdung nicht an, misstraut ihren Schilderungen.
Ihr Bruder Milad* ist ebenfalls nach Deutschland geflohen, 2018 hat er vom BAMF trotz der Gefahren, die ihm in Afghanistan drohten, einen Ablehnungsbescheid erhalten…
Karimi: Wir haben alles daran gesetzt, dass er nicht abgeschoben wird, sondern von Süddeutschland aus zu mir in den Norden kommen durfte. Auch PRO ASYL hat uns dabei unterstützt. Am Ende haben wir es geschafft, aber wir mussten hart darum kämpfen. Dabei war Milad nicht straffällig, er hat nichts getan, gar nichts, trotzdem kam er in Abschiebungshaft! Die wollten ihn eiskalt abschieben. Zum Glück konnten wir das verhindern. Aber ich hatte in dieser Phase keine Zeit und keine Kraft für irgendetwas anderes, auch nicht für die geplante Ausbildung.
Mittlerweile sind auch Ihre beiden jüngeren, damals minderjährigen Brüder nach Deutschland geflüchtet. Wieso war das nötig?
Karimi: Ich war Ortskraft, meine Brüder nicht. Eigentlich wollten die Taliban mich haben – mich haben sie aber nicht gekriegt. Deshalb haben sie sich auf meine Brüder konzentriert und sie jahrelang bedroht. Und nicht nur das. Sie wurden verletzt, gekidnapped und gefoltert. 2019 war es so schlimm, dass sie Afghanistan verlassen mussten.
Was genau war geschehen?
Karimi: Mein Bruder Amir* wurde im Sommer 2018 brutal zusammengeschlagen. Vermutlich waren es die Taliban, aber da er von hinten getroffen wurde, hat er die Angreifer nicht gesehen. Er erlitt schwerste Verletzungen am Hinterkopf sowie am ganzen Körper und blutete stark. Amir hatte Glück, dass Passanten ihn in einem Graben entdeckten und nach Hause gebracht haben. Es dauerte Wochen, bis er wieder fit war. Ein gutes halbes Jahr später dann der nächste Schock: Mein Vater, Amir und unser Bruder Hassan* wurden auf der Straße angehalten – und die zwei Jungs wurden mitgenommen. Drei Tage lang wurden Amir und Hassan gefangen gehalten; die Taliban haben versucht, sie zu rekrutieren. Sie haben ihnen gesagt: »Entweder ihr macht die Sünde eures Bruders wieder gut, indem ihr euch uns anschließt, oder ihr werdet getötet.« Meine Brüder konnten dann aus einem vergitterten Fenster und über eine Leiter auf dem Dach aus ihrem Verlies fliehen.
»Es ist eine Tatsache, dass die Taliban nicht nur die Ortskräfte selbst bedrohen, sondern auch deren Familienmitglieder. Die deutschen Behörden müssen das endlich verstehen!«
Diese Horrorgeschichte ist doch sicher Anlass genug, dass das Bundesamt die Gefährdung Ihrer Brüder anerkennt und ihnen einen Schutzstatus zubilligt?
Karimi: Das habe ich auch gedacht. Aber nein, das Bundesamt hat die Gefährdung nicht anerkannt. Das ist eine nachlässige und beschämende Entscheidung! Dass ich für die Bundeswehr gearbeitet habe, hat überhaupt keine Rolle gespielt. Warum nicht? Das muss doch reichen! Es ist eine Tatsache, dass die Taliban nicht nur die Ortskräfte selbst bedrohen, sondern auch deren Familienmitglieder. Sie machen noch nicht einmal vor entfernten Verwandten wie Onkel oder Neffen Halt, selbst wenn die gar nichts damit zu tun haben. Die deutschen Behörden müssen endlich verstehen, dass die Taliban alle bestrafen wollen!
Nach allem, was Ihnen und Ihrer Familie widerfahren ist: Haben Sie es je bereut, für die Bundeswehr tätig gewesen zu sein?
Karimi: Nein, ich habe es nicht bereut. Mein Leben hat sich zwar von Grund auf geändert und die Probleme, die wir haben, sind nicht gelöst. Aber ich konnte meinem Land helfen und dazu beitragen, dass die afghanischen Soldaten eine ordentliche Ausbildung bekommen haben. Wir Dolmetscher haben eine wichtige Rolle gespielt – ohne uns hätte die NATO es nie geschafft. Denn wir haben ja nicht nur Worte übersetzt, sondern ganz viel kulturell vermittelt, in die eine und in die andere Richtung. Ich bin stolz darauf, dass ich für die Bundeswehr gearbeitet habe.
»Im Medienbereich und in puncto Frauenrechte gab es dank des westlichen Engagements Fortschritte. Aber alles, was erreicht wurde, wird wieder verloren sein, wenn die Taliban endgültig an der Macht sind.«
Die USA und ihre europäischen Verbündeten waren knapp zwanzig Jahre im Einsatz in Afghanistan. Wie bewerten Sie das?
Karimi: Die USA wollten die Taliban abschaffen. Da waren sie insofern »erfolgreich« als die Taliban seit dem 11. September 2001 keinen Anschlag mehr in den USA oder in Europa verübt haben. Aber in Afghanistan gab es unglaublich viele zivile Opfer! Dieser Krieg hätte nicht zwanzig Jahre dauern dürfen. Aber ein paar Fortschritte gab es durchaus.
Welche sind das?
Karimi: Der Aufbau der afghanischen Streitkräfte ist einigermaßen gelungen. Und auch der (Wieder-) Aufbau von Schulen, Krankenhäusern, Brücken und so weiter ist teilweise geglückt. Mit dem vielen Geld, das in all der Zeit nach Afghanistan geflossen ist, hätte man noch sehr viel mehr schaffen können, aber die Korruption hat das verhindert. Im Medienbereich und in puncto Frauenrechte gab es Fortschritte, da war das westliche Engagement nützlich. Aber alles, was erreicht wurde, wird wieder verloren sein, wenn die Taliban endgültig an der Macht sind.
Die Taliban haben nun verlauten lassen, ihren Landsleuten, die für »den Westen« tätig waren, nichts zu tun, wenn sie die »feindlichen Reihen« verließen und im Land blieben. Trauen Sie dem?
Karimi: Die Taliban sind keine homogene Gruppe, es gibt unterschiedliche Strömungen. Darunter sind auch welche, die Talib geworden sind, weil sie ihre ganze Familie bei Angriffen von afghanischen Streitkräften oder bei Angriffen der Amerikaner und Europäer verloren haben. Aber die Führungspersonen der Taliban haben ihre Ideologie sicher nicht geändert in all den Jahren. Das Land könnte in einen heftigen Bürgerkrieg geraten. Es besteht die Gefahr, dass die Taliban Kabul erobern. Und dann: noch mehr Blutvergießen. Noch mehr Flüchtlinge. Eine humanitäre Katastrophe.
Ihrer Erfahrung nach: Wie sollte ein Aufnahmeprogramm für die Ortskräfte gestaltet sein?
Karimi: Die Menschen, die für ausländische Truppen oder Organisationen in Afghanistan gearbeitet haben, sind in großer Gefahr. Ihnen und ihren Familien muss jetzt schnell geholfen werden. Deutschland will nur den Afghanen eine Chance geben, hierher zu kommen, die in den letzten zwei Jahren für deutsche Organisationen tätig waren. Aber das macht gar keinen Sinn! Wann man dort für westliche Einrichtungen gearbeitet hat, spielt in den Augen der Taliban keine Rolle. Die vergessen nichts. Sie wollen sich rächen und sie werden sich rächen.
Das Interview führten Elisa Rheinheimer und Therese Lerchl
*Aus Schutzgründen wurden alle Namen anonymisiert