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Im Wettlauf gegen die Zeit – und die Taliban
Nach zwanzig Jahren verlassen die NATO-Truppen Afghanistan. Am 1. Mai hat der Abzug begonnen. Die USA wollen ihre Truppen bereits bis zum 4. Juli 2021 abziehen; die Bundeswehr hat sich dem ehrgeizigen Zeitplan angeschlossen. Für die afghanischen Ortskräfte hat dieser hastige Truppenabzug gravierende Folgen
Sie werden verfolgt, mit dem Tode bedroht, gefoltert – afghanische Ortskräfte, die für deutsche Behörden und Organisationen tätig waren, schweben in Lebensgefahr. Auch ihre Familien werden von den Taliban angegriffen und misshandelt, um Eltern, Brüder oder Onkel für deren Kooperation mit dem Westen zu bestrafen. Bei Ortskräften handelt es sich um Personen, die der Bundeswehr, der Bundespolizei, dem Bundesnachrichtendienst, aber auch der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) oder der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) in unterschiedlicher Weise Hilfe leisten – sei es durch Dolmetschen, Fahrertätigkeit, als Reinigungskraft oder durch handwerkliche Dienste. Sie stehen nun mehr denn je im Visier der Taliban, da sie den ausländischen Truppen und Entwicklungshilfeorganisationen zur Seite stehen.
Das Programm zur Aufnahme von Ortskräften in Deutschland
Bereits im Jahr 2013, als sich ein Ende der NATO-Vorgängermission ISAF und damit die Reduzierung auch der deutschen Truppen in Afghanistan abzeichnete, startete in Deutschland ein Programm zur Aufnahme afghanischer Ortskräfte. Über dieses wurden laut Bundeswehr bis dato 781 Ortskräfte aufgenommen. Hierzu zählen auch afghanische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Auswärtigen Amts, des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, seiner Unterorganisationen GIZ und KfW sowie des Bundesinnenministeriums. Insgesamt wurden – inklusive der sogenannten Kernfamilien, bestehend aus Ehepartnern und minderjährigen leiblichen Kindern – in den vergangenen Jahren rund 3.300 Einreisevisa erteilt.
Die rechtliche Grundlage dafür ist § 22 des Aufenthaltsgesetzes, der aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen für die Aufnahme aus dem Ausland die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ermöglicht. Nach Satz 2 der Norm ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn das Bundesministerium des Innern zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland die Aufnahme erklärt hat.
In der Praxis spricht beispielsweise die Bundeswehr für betroffene Personen bei Vorliegen einer »individuellen Gefährdungssituation« jeweils eine Gefährdungsanzeige gegenüber dem Bundesinnenministerium und dem Auswärtigen Amt aus. Danach kann das Bundesministerium des Innern eine Aufnahmeerklärung nach § 22 S. 2 AufenthG abgeben und von der deutschen Auslandsvertretung in Kabul wird ein Visum erteilt. Auch ehemalige Ortskräfte haben zwei Jahre nach Beendigung ihrer Tätigkeit die Möglichkeit, sich mit einem Aufnahmeersuchen an ihren ehemaligen Arbeitgeber zu wenden.
Für manche Afghanen endet die Tätigkeit für die Deutschen tödlich. 2013 wurde ein Dolmetscher der Bundeswehr, der zuvor bereits zahlreiche Drohanrufe erhalten hatte, in Kundus erwürgt in seinem Auto gefunden. Er hatte bereits auf der Liste der afghanischen Ortskräfte gestanden, die die Bundesregierung aufnehmen wollte.
Zahlreiche Ablehnungen – mit verheerender Bilanz
Viele Aufnahmeanträge wurden indessen in der Vergangenheit abgelehnt. Bis zum 9. November 2020 hatten seit Beginn des Ortskräfteverfahrens 2013 insgesamt 2040 Menschen Gefährdungsanzeigen gestellt. Bei 1169 Ortskräften wurde jedoch keine Gefährdung festgestellt. Rund 57 Prozent der Ortskräfte, die sich selbst bedroht sahen, erhielten also keine Aufnahmezusage. Das ist eine verheerende Bilanz. Die Taliban selbst machen immer wieder deutlich, dass in ihren Augen alle ehemaligen Ortskräfte mit dem Feind kooperieren und somit potentielle Anschlagsopfer sind. Die deutsche Einteilung nach Gefahrengraden (latent; konkret) entspricht also nicht der Realität.
Für manche Afghanen endete die Tätigkeit für die Deutschen – und damit aus Sicht der Taliban für »die Ungläubigen« – tödlich. Ende November 2013 wurde ein Dolmetscher der Bundeswehr, der zuvor bereits zahlreiche Drohanrufe erhalten hatte, in welchen er als Spion bezeichnet worden war, in der nordafghanischen Provinzhauptstadt Kundus erwürgt in seinem Auto gefunden. Die Zeit berichtete, dass der Dolmetscher bereits auf der Liste der afghanischen Ortskräfte stand, denen die Bundesregierung wegen drohender Racheakte der Taliban die Einreise nach Deutschland erlaubt hatte. Ein Sprecher der Taliban, der die Tötung durch die Aufständischen nicht bestätigen wollte, erklärte seinerzeit: »Wir denken, dass all diejenigen, die den Invasionstruppen in irgendeiner Weise geholfen haben, getötet werden sollten.« Das Bundewehrjournal berichtete, dass kurze Zeit nach der Tat zwei Verdächtige festgenommen wurden, einer von ihnen der Sohn eines regionalen Talibanführers. Trotz fortbestehendem Tatverdacht wurden sie jedoch auf Kaution wieder freigelassen.
Wie viele Ortskräfte gibt es aktuell und wie ist es um deren Aufnahme bestellt?
Stand November 2020 waren knapp 540 afghanische Ortskräfte für Ressorts der Bundesregierung tätig. 489 von ihnen arbeiteten für das Verteidigungsministerium, andere für das Auswärtige Amt und das BMI. Hinzu kommen rund 1300 lokale Helfer der GIZ, der KfW und politischer Stiftungen.
Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat sich kürzlich für die Reaktivierung des Aufnahmeprogramms für afghanische Ortskräfte ausgesprochen. Sie erklärte: »Wir reden hier von Menschen, die zum Teil über Jahre hinweg auch unter Gefährdung ihrer eigenen Sicherheit an unserer Seite gearbeitet, mitgekämpft und ihren persönlichen Beitrag geleistet haben«. Sie empfinde es daher »als eine tiefe Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, diese Menschen jetzt, wo wir das Land endgültig verlassen, nicht schutzlos zurückzulassen«.
»Diese Menschen haben sich für uns entschieden und viele Jahre ihr Leben riskiert, sie werden von den Taliban als Verräter gesehen. Wir haben eine Verantwortung für die Ortskräfte.«
Auch Marcus Grotian, Hauptmann der Bundeswehr und Vorsitzender des »Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte« mahnt: »Diese Menschen haben sich für uns entschieden und viele Jahre ihr Leben riskiert, sie werden von den Taliban als Verräter gesehen. Wir haben eine Verantwortung für die Ortskräfte.«
Wird den Betroffenen tatsächlich effektiv geholfen?
Bereits jetzt sollen mehr als 450 jener Ortskräfte, die aktuell oder in den vergangenen beiden Jahren in Afghanistan bei der Bundeswehr beschäftigt waren, einen Aufnahmeantrag gestellt haben. Das sind mehr als achtzig Prozent der Menschen in dieser Gruppe. Dazu kommen meist noch Familienangehörige, nach früheren Erfahrungen insgesamt etwa 2000 Menschen.
Die Bundesregierung plant laut dem Bundesinnenministerium je ein Kontaktbüro in Kabul und voraussichtlich auch in Masar‑e Sharif einzurichten, »um die Verfahren im Interesse der Betroffenen einfacher zu organisieren und abwickeln zu können«. Betroffene sollen dort – auch nach dem Ende der Präsenz der Bundeswehr – Anträge zur Aufnahme in Deutschland stellen können. Am 1. Juni sollen die Ortskräftebüros laut Bundesverteidigungsministerium ihre Arbeit beginnen.
Schon jetzt ist die Einrichtung der Kontaktbüros problematisch. Hans-Peter Bartels, ehemaliger Wehrbeauftragter der Bundesregierung, befürchtet, dass Mitglieder der Taliban vor den Büros sitzen und schauen könnten, wer hineingeht – also mit den Deutschen eng zusammengearbeitet hat. Bartels ist der Meinung: »Jeder, der für die Bundeswehr als afghanische Ortskraft tätig war, über den gibt es Unterlagen, dem ist auch Geld gezahlt worden, der ist überprüft worden. Man kann proaktiv auf die zugehen. Die müssen nicht erst in das Büro kommen«.
Erst recht nach dem Abzug der NATO-Truppen ist fraglich, ob Ortskräfte noch in der Lage sein werden, in einem Kontaktbüro vorzusprechen. Mit dem Abzug der NATO-Truppen ist ein massives Erstarken der Taliban zu erwarten. Die beiden Büros in Kabul und Masar‑e Sharif drohen zu Anschlagszielen zu werden. Selbst wenn den Betroffenen gelingen sollte, dort noch einen Antrag auf Aufnahme nach Deutschland zu stellen, wird niemand mehr vor Ort sein, der sie bis zum Verlassen Afghanistans zu schützen vermag.
Die Taliban machen immer wieder deutlich, dass in ihren Augen alle ehemaligen Ortskräfte mit dem Feind kooperieren – und somit potentielle Anschlagsopfer sind. Die deutsche Einteilung nach Gefahrengraden entspricht daher nicht der Realität.
Forderungen von PRO ASYL bei der Aufnahme von Ortskräften
PRO ASYL fordert vor diesem Hintergrund eine rasche Durchführung des Aufnahmeprogramms – vor dem Fortgang der NATO-Truppen. Das Aufnahmeverfahren muss schnell, unbürokratisch und ohne eine zu sehr ins Detail gehende Einzelfallprüfung gestaltet werden. Auf die Ortskräfte muss proaktiv zugegangen werden, anstatt sie unter den geschilderten Gefahren ein Kontaktbüro aufsuchen zu lassen. Auch die Bundesverteidigungsministerin erkennt an, dass es einen hohen Zeitdruck bei der Aufnahme der Ortskräfte gibt und stellt die Frage: »Kann man mit den eingeübten Verfahren, die es ja gibt, die sich aber in der Vergangenheit eben auch als relativ langwierig erwiesen haben, diesem berechtigten Anliegen und diesen berechtigten Schutzinteressen dieser Menschen jetzt gerecht werden? Und, wenn das nicht der Fall ist, dann müssen wir auch in der Lage sein, andere Verfahren zu wählen«. Diesen Worten muss Kramp-Karrenbauer nun rasch konkrete Taten folgen lassen.
Die Kategorisierung und Prüfung verschiedener Gefahrengrade (latent, konkret), wie sie in der Vergangenheit stattgefunden hat, ist weder zielführend noch realistisch. Der Nachweis, dass eine Beschäftigung als Ortskraft stattgefunden hat, sowie eine plausibel dargelegte Gefährdungslage müssen ausreichen.
Gefährdet sind alle Ortskräfte, die für deutsche Ministerien tätig waren (Bundesinnenministerium, Auswärtiges Amt und Bundesverteidigungsministerium). Gleiches gilt für Mitarbeiter*innen des Bundesnachrichtendienstes und jene von Vertragsfirmen, die nicht unmittelbar beispielsweise bei der Bundeswehr angestellt sind oder waren. Auch Mitarbeiter*innen von politischen Stiftungen wie der Konrad-Adenauer- oder der Friedrich-Ebert-Stiftung, von Entwicklungshilfeorganisationen wie der GIZ oder der KfW sowie von NGOs sind durch aufständische Gruppen gefährdet und sollten ein Angebot zur Aufnahme in Deutschland erhalten.
Im März 2020 wurde der Sohn eines Afghanen, der für die Deutschen gearbeitet hat, in Geiselhaft genommen. Er befindet sich bis heute in der Gewalt der Entführer und wird von diesen schwer misshandelt. Aufnahmen davon schickt man dem Vater per Whatsapp. Es geht nicht um Lösegeld, es geht ausdrücklich um Rache am Vater.
Ein Aufnahmeprogramm muss sämtlichen verwandten Personen, die mit den betroffenen Ortskräften zusammenleben und ebenfalls gefährdet sind, die Möglichkeit eröffnen, mit auszureisen. Über eine Härtefallklausel sollen auch weitere Familienangehörige erfasst werden können. Denn häufig verfolgen und bedrohen die Taliban auch Verwandte über die sogenannte Kernfamilie hinaus.
Bislang haben Ortskräfte nur noch innerhalb von zwei Jahren nach Beendigung ihres Dienstes die Möglichkeit, ihre Gefährdung anzuzeigen. PRO ASYL fordert: Künftig sollte es keine zeitliche Begrenzung der zurückliegenden Beschäftigung geben. Die Erfahrung zeigt, dass die Taliban auch noch Jahre nach Beendigung einer Tätigkeit als Ortskraft Rache an den Betroffenen oder ihren Familien üben. PRO ASYL ist der Fall einer Ortskraft bekannt, die bereits im Jahre 2013 mit der Kernfamilie und den volljährigen Kindern, nicht aber den bereits verheirateten, in Deutschland aufgenommen wurde. Im März 2020 wurde der (verheiratete) Sohn in Geiselhaft genommen. Er befindet sich bis heute in der Gewalt der Entführer und wird von diesen schwer misshandelt. Aufnahmen davon schickt man dem Vater per Whatsapp. Es geht nicht um Lösegeld, es geht ausdrücklich um Rache am Vater.
Andere hatten in der Vergangenheit die Hoffnung, dass sich die Sicherheitslage verbessern würde und haben deshalb zunächst keinen Antrag auf Aufnahme in Deutschland gestellt. Sie sehen sich heute angesichts des Abzugs der NATO-Truppen aber in einer Situation, in der ihre Bedrohung akut wird. Der ehemalige Wehrbeauftragte Bartels vertritt zu Recht die Auffassung, dass auch diese Menschen die Chance erhalten müssten, in Deutschland Aufnahme zu finden. »Jetzt mit dem Abzug der internationalen Truppen ist die Sicherheitslage unkontrollierbar.« Insofern gebe es »gute Gründe, auch die nach Deutschland zu holen oder ihnen das Angebot zu machen, nach Deutschland zu kommen.«
»Jetzt mit dem Abzug der internationalen Truppen ist die Sicherheitslage unkontrollierbar.«
Aktuell sollen etwa 300 Anträge von Afghanen, die in früherer Zeit als Helfer eingestellt waren, aber innerhalb der geltenden Zweijahresfrist keine Gefährdung angezeigt hatten, gestellt worden sein.
Die Visaabteilung der deutschen Botschaft in Kabul hat schon seit Jahren geschlossen. Visumverfahren afghanischer Antragsteller*innen müssen bei den Botschaften in Neu-Delhi (Indien) und Islamabad (Pakistan) bearbeitet werden. Dieser Weg ist für das Aufnahmeverfahren für Ortskräfte viel zu umständlich – und in Zeiten der Pandemie unzumutbar. PRO ASYL fordert, dass den Betroffenen die Ausreise ohne Visum ermöglicht werden muss, ihnen sind Ausnahmevisa nach § 6 Abs. 4 i.V.m. § 14 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes von der Bundespolizei am Flughafen zu erteilen.
80 Offiziere, Wissenschaftlerinnen und Diplomaten fordern unbürokratische Aufnahme der Ortskräfte
Etwa achtzig Expert*innen – darunter Wissenschaftler, frühere Diplomaten und Offiziere – forderten in einem am vergangenen Freitag verbreiteten offenen Brief an das Bundesverteidigungsministerium, das Bundesinnenministerium und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung eine unbürokratische und schnelle Aufnahme Betroffener in Deutschland parallel zum Abzug. In dem Schreiben heißt es zutreffend: »Wer die effektive Aufnahme wirklich will, der kann in den verbleibenden Wochen nur eine unbürokratische Prozedur für all die Ortskräfte und ihre Angehörigen umsetzen, die für deutsche Stellen gearbeitet haben: öffentliche Bekanntgabe des Aufnahmeprogramms, Registrierung, Vorbereitung der Ausreise, die möglichst geschehen muss, solange die Bundeswehr noch im Lande ist, gegebenenfalls Durchführung von Charterflügen«.
Es bleibt zu wünschen, dass dieser Aufruf Gehör findet – bevor es für viele Betroffene zu spät ist.
(pva)